Flächenbrand

Es gibt bisweilen Texte, die explodieren förmlich im Internet. “COVID-19 und die möglichen Folgen für die soziale Stabilität” von Morelli und Censolo ist so ein Fall. Keine Stunde vergeht und ein Flächenbrand rast los, entzündet alle Foren.

Oft sind diese brandbeschleunigenden Texte gar nicht mal aktuell, so wie derjenige der beiden italienischen Ökonomieprofessoren, der bereits am 28. Juli 2020 zum Peer-Review vorgelegt und schon zwei Tage später als veröffentlichungsreif akzeptiert wurde.

Doch plötzlich, zwei Monate später, erscheinen er auf allen Kanälen, rechts, links, quer, auf pro-Putin- und auf anti-Trump-blogs, in den bürgerlichen “Qualitätsmedien” und auf Nachrichtenseiten aller Couleur.

Die Kultur des öffentlichen Nachdenkens hat nicht erst seit COVID eine fast durchweg nervöse Form angenommen. Es drängt sich der Eindruck auf, es ginge weniger um eine kritische Besprechung von Inhalten. Vielmehr dominieren egomane Prinzipien: Die Schlacht um Aufmerksamkeit muss jeder mit allen Mitteln für sich entscheiden.

Joseph Vogl hat darauf schon im April 2020 aufmerksam gemacht:

“Jede so genannte Krise erzeugt Deutungsnötigung und Deutungsnot. So gibt es jetzt eine hektische diskursive Produktivität quer über die intellektuellen und publizistischen Branchen hinweg. Man kämpft um hermeneutische Vorsprünge, sieht seine lange Zeit ausgefeilten Positionen und Wahrheiten in der Katastrophe bestätigt. Alles wird von allen gesagt und dann noch einmal wiederholt, überboten und variiert.”

Debattenkrieg

Außerhalb der Fachkreise kannte gestern kein Mensch Morelli und Censolo. Heute gibt man die Namen ins Netz ein und bekommt “hits”, die ausgedruckt Bibelstärke erreichen würden. Oft verdankt sich dieser Effekt nur ein oder zwei Schlagworten oder deren zeitgerechter Kombination.

Es liegt etwas in der Luft. Etwas, das ohnehin alle denken. Und dann kommt ein Text, der genau das bedient.

Es dauerte keine drei Tage in diesem Debattenkrieg, und die kurze Ausarbeitung über mögliche Gefahren für unsere ” soziale Stabilität” ist gewissermaßen verschwunden, überdeckt von ihrer auschnitthaften Rezeption.

Niemand, der bloß in die Suchmaschineneinträge schaut, könnte noch mit Gewissheit sagen, um was es in dem Papier geht.

So wird gemutmaßt, dass “Herr Rötzer von einen Aufstand träumt”, nur weil er das fragliche research-paper bespricht. Oder es finden sich Spekulationen, welchen Einfluß Mario Monti auf das Denken von Morelli und Censolo nimmt.

Zugegeben, Monti hat eine glänzende, in demokratischer Hinsicht jedoch wenig rühmliche Karriere hinter sich. Außer dass er Goldman Sachs und Coca-Cola berät, ist er seit 1994 der Präsident der Università Commerciale Luigi Bocconi in Mailand und damit “Hausherr” in der Via Roentgen, der Wirkungstätte von Massimo Morelli.

Auch zugegeben: Monti hat am 26. August 2020 die Führung der europäischen WHO-Kommission übernommen. Als Präsident Italiens war er nicht vom Volk legitimiert. Dass ein rechtschaffener Systemkritiker einer Wirtschaftsuniversität vorsteht, darf man nicht erwarten. So frei ist die Wissenschaft nicht.

Morellis wissenschaftliche Tätigkeit wurde vom Lions Club gefördert, mit einem Fellowship der Deutschen Bank unterstützt und dem Elinor Ostrom Prize ausgezeichnet.

Das mag manchen befremden.

Doch dem stehen auch Morelli-Texte gegenüber wie “Strategic Mass Killings” im “Journal of Political Economy”, der 2015 den “International Geneva Award” gewann; sowie die Untersuchung “Global Crisis and Populism: the Role of Euro Zone Institutions” (Economic Policy 2019) und – neben anderen Texten zur Friedensforschung – ein Beitrag zum Oxford University Press Handbook “Economic Aspects of Genocide, Mass Atrocities, and Their Prevention” (2016), der den vielversprechenden Titel trägt: “Incentives and Constraints for Government Mass Killings: a Game-Theoretic Approach”.

Pro Globalisierung?

Ob sich aber aus all dem ableiten lässt, dass Morelli und Roberto Censolo, der seinerseits an der Universität Ferrara forscht, Globalisierungsbefürworter sind und das ganze bereits voll entwickelter “Kapitalfaschismus” sei, aktiv befördert von eben jener Privat-Uni in Mailand, das ist doch derzeit zumindest noch offen, dem Text nicht direkt zu entnehmen und am Ende grundsätzlich recht fraglich.

Es gibt allerdings eine irritierende Passage am Ende der Untersuchung, mehr im wissenschaftlichen Feststellungs-Modus formuliert, als dass man es für Wunschdenken oder gar Handlungsempfehlung für die heute Regierenden halten mag. Dort heisst es: “Ein Blick auf das 19. Jahrhundert zeigt, dass der Volkszorn, der 1831 in Paris während der Choleraepidemie ausbrach, nicht entschieden unterdrückt wurde durch den schwachen König Louis Philippe.” (“…was not resolutely suppressed”).

Hätte dort “nicht entschieden genug…” gestanden, hätte ich den Text hier sicher nicht veröffentlicht.

So aber bleibt die Publikation das beständige Wagnis, das seit Ausbruch des Corona-Virus nicht gerade geringer geworden ist: dass man sich verbrennt, während man eigentlich nur das umstrittene “heiße Eisen” im Volltext zugänglich machen will.

Wenn man ihn dann genau liest – dies ist hier in “Die Aktion” erstmals auf Deutsch möglich – bleibt er auf interessante Art zwiespältig, wie fast alles heutzutage: einerseits eine spannende Kurz-Studie, die in dieser Deutlichkeit verblüffende tiefengeschichtliche Verweise in sich trägt (Herkunft der Krankheit – Begründung für rassistische Interpretationen). Auch die quantitative Analyse der Autoren zum Zusammenhang Epidemie-Aufstand ist erhellend.

Andererseits ist “Epidemien: ein Brutkästen für Konflikte” (so mein deutscher Titel) natürlich genau die Art von Gewaltprognose, die autoritäre Politiker benötigen, um die Innere Sicherheit hochzufahren und das Demonstrationsrecht von vornherein einzuschränken, damit sich so etwas gar nicht erst entwickeln kann.

Denn dass, wie Morelli und Censolo sagen, die Regierenden schon immer in Epidemien ihre Macht ausgebaut und den Armen die Schuld an der Plage gegeben haben, diesen aufrüttelnden Gedanken hat man am Ende wahrscheinlich doch wieder vergessen über all das Ringen um die coronale Deutungshoheit.

Aufstände vs. Polizeiwirtschaft

Aufstände bieten ja an sich keine Lösung für soziale Missstände. Das gilt meines Erachtens selbst dann, wenn es ebenso richtig ist, was der deutsche Anarchosyndikalist Rudolf Rocker in seinen Memoiren über die „preußische Polizeiwirtschaft“ sagt: „dass in einem Militärstaate wie Deutschland die Gewalt von oben nur durch die Gewalt von unten beseitigt“ werden könne.

Florian Rötzers Einwand, der Ansatz von Morelli und Censolo sei korrekt, doch

„eigentlich fehlt ein genauerer Blick, finde ich, vor allem auch, inwiefern Epidemien im 19. Jahrhundert oder früher unter doch sehr anderen Umständen mit heute vergleichbar sein können“

(Email an den Autor)

mag auch auf meinen Vergleich zwischen Rockers Preußenkritik und der heutigen Regierung zutreffen.

Sicher haben viele Bedingungen sich geändert, aber die von Morelli und Censolo erkannte Struktur der (nicht nur finanziellen, auch moralischen) Schuldabwälzung auf die schwächsten Glieder der Gesellschaft scheint ein historisch sich durchhaltendes Element zu sein.

Es mag richtig sein und bis heute gelten, dass Drill und geistlose Verwaltung zwar zu einer erfolgreichen teilweisen Selbstversklavung der Bevölkerung führen („die niedrigen Werte haben wir unserer Disziplin und dem Erfolg der Maßnahmen zu verdanken“) – Rocker nennt das „Massendressur und Kadavergehorsam“ – doch auf Dauer kann es nicht gelingen, mit Einschüchterung gegen das Volk zu regieren. Die notwendige Kooperation, aus der allein etwas sinnvolles Neues entsteht, lässt sich nicht erzwingen.

In der Schweigespirale

Insofern können wir den Text von Morelli und Censolo auch so verstehen, dass die unheimliche Ruhe, die wir jetzt während COVID erfahren, nicht unbedingt das widerspiegelt, was uns die Medien täglich eintrichtern: dass 70% der Bevölkerung mit den Maßnahmen der Regierung (somit auch den menschlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen) einverstanden sind.

Vielleicht sitzen wir nur fest in einer temporären „Schweigespirale“ (interessant hierzu dieses) – ein Begriff, erfunden von der Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann, der besagt, dass eine Mehrheit sich nicht traut, ihre Meinung zu sagen, wenn sie meint, sie sei in der Minderheit.

Erst wenn – nach der Pandemie – (Selbst-)Vertrauen oder Kampfgeist wieder erwachen, werden wir wissen, was wir alle bereit sind hinzunehmen.

Nicht viel mehr sagt auch die Stelle über die „sanfte Kontrolle“: der „schwache“ König Louis Philippe hat weder den „starken Mann“ markiert und alle Gegner feudaler Verfügungen mit dem Polizeiknüppel kujoniert, noch hat er versucht, Lösungen für die soziale Misere zu erarbeiten. Das hat sich später gerächt.

In einer medial-autoritären Demokratie wie unserer, die sich mit Beherbergungsverboten schmückt und ohnehin schon gestrafte Leute aus sog. „Risikogebieten“ pauschal als virale Bomber stigmatisiert, die schön zu Hause bleiben sollen, ist der Polizeiknüppel zwar verpönt – doch der elegante TASER könnte schon bald den postepidemialen Zorn beherrschen helfen.

Kaum ein Querdenker, so wohl die Hoffnung der Verfechter der “harten Linie”, der nach der Schockbehandlung mit der Elektrowaffe noch den Mund auftun wird. Aber ob das etwas an den gesellschaftlichen Verhältnissen verbessert?

So gilt wohl bis heute, was der Mainzer Jakobiner und Landsmann von Rocker, Georg Forster, am Neujahrstag 1793 formulierte:

“Keinem anderen Menschen kann man es auftragen, Wahrheit für andere zu suchen und dadurch die Vernunft anderer außer Tätigkeit zu setzen. Wer sich für die ausschließende Wahrheitsquelle ausgibt, ist der Feind des Menschengeschlechts, der Lügner von Anfang, der die Vernunft schon im Keim ersticken und die Menschen um ihr einziges Gut, um ihre Moralität, welche sich auf eigene Beurteilung und freien Willen gründet, betrügen will.”

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