Wir haben gesehen, wie die elementarste Freiheit der modernen Verfassungen – die Freiheit, zu kommen und zu gehen – mit einem Fingerschnippen abgeschafft wurde.
Wir haben gesehen, wie ein Präsident vorgab, vom Élysée-Palast aus die „Einzelheiten unseres täglichen Lebens“ zu regeln.
Wir haben gesehen, wie eine Regierung über Nacht neue Gewohnheiten verordnet: die richtige Art und Weise, einander zu begrüßen, und sogar eine „neue Normalität“ vorschreibt.
Wir haben gehört, wie Kinder als „Viren-Bomben“ behandelt wurden – und es dann doch wieder nicht sein sollten.
Wir haben gesehen, wie ein Bürgermeister verboten hat, dass wir uns länger als zwei Minuten auf den Bänken „seiner“ Stadt niederlassen und ein anderer hat verboten, nicht weniger als drei Baguette auf einmal zu kaufen.
Wir haben gehört, wie ein deprimierter Medizinprofessor über „eine Form von Massen(selbst)mord an sich und anderen“ sprach, nur weil sich einige junge Menschen in einem Park sonnten.
Wir haben gesehen, wie völlig in Mißkredit geratene Medien versuchten, durch massive Schuldzuweisung an die Bevölkerung wenigstens ein Quentchen moralischen Kredits zurückzugewinnen, als ob die Wiederauferstehung der „gefährlichen Jugend“* ihre eigene Wiederauferstehung herbeiführen könnte
*(Anm. d. Übers.: schwer übersetzbares Wortspiel mit „peril jaune“- die gelbe Gefahr und „péril jeune“ = „gefährliche, resp. uns alle gefährdende Jugend“)
Wir haben gesehen, wie 6.000 Gendarmen der „Berg-Einheiten“, die von Hubschraubern, Drohnen, Schnellbooten und Geländewagen unterstützt wurden, auf Wegen, an Flussufern und Seen – ganz zu schweigen natürlich von der Küste – auf eine landesweite Jagd nach Spaziergängern gingen.
Wir haben gesehen, wie Polen in Quarantäne gezwungen wurden, sich zu Hause selber entweder mit einer App zu fotografieren, die Geolokalisierung mit Gesichtserkennung kombiniert oder sich darauf einzustellen, von der Polizei heimgesucht zu werden.
Wir haben gesehen, worum es in unserem Leben geht und woran wir gebunden sind.
Wir haben gehört, wie die Alten an die Türen ihrer Altenheim-Zimmer trommelten und darum bettelten, rausgelassen zu werden, um vielleicht ein letztes Mal die Sonne zu sehen, und wie sich jene zivilisierte Barbarei hinter sanitären Ausreden versteckte.
Wir haben gesehen, dass der Begriff der „sozialen Distanz“, der im Amerika der 1920er Jahre entwickelt wurde, um die Feindseligkeit von Weißen gegenüber Schwarzen meßbar zu machen, sich als neuer Standard für eine Gesellschaft von Fremden durchsetzte.
Wir haben weiterhin gesehen, wie ein Konzept, das als Antwort auf die Rassenunruhen von 1919 in Chicago entstand, dazu eingesetzt wurde, um die globale Aufstandswelle von 2019 einzufrieren.
Wir haben gesehen – während unser Nächte der staatlichen Einsperrung – wie die Satelliten von Elon Musk die Sterne ersetzten, so wie die Jagd auf Pokemons die Jagd nach den verschwundenen Schmetterlingen ersetzt hat.
Wir haben gesehen, wie von einem Tag auf den anderen unsere Wohnung, die uns als Zufluchtsort verkauft wurde, wie eine Falle um uns herum zuschnappte.
Wir haben gesehen, dass sich die Metropole, nachdem sie einmal verschwunden war, wie ein Theater zu unserer Ablenkung als panoptischer Raum der Polizeikontrolle entpuppt.
Wir haben es gesehen – und zwar in all seiner Nacktheit: das engmaschige Netz von Abhängigkeiten, in denen unser Leben verfangen ist.
Wir haben gesehen, worum es in unserem Leben geht und wodurch wir gebunden sind.
Wir haben gesehen – und zwar durch die Unterbrechung* – dass das soziale Leben eine immense Anhäufung anormaler Zwänge ist.
*(Anm. d. Übers. Wortspiel: franz. „suspension“ kann auch Sisterung heißen = Freiheitsbeschränkung durch die Polizei zur Feststellung der Identität)
Wir haben nichts gesehen von Cannes, noch von Roland-Garros noch von der Tour de France – und das war gut so.
Wir haben gelesen in der Erklärung des Schweizer Arbeitgeberverbandes:
„Wir müssen der Versuchung widerstehen, dass sich manche Menschen an die gegenwärtige Situation gewöhnen oder sich gar von ihren heimtückischen Erscheinungen verführen lassen: viel weniger Verkehr auf den Strassen, ein von Flugverkehr leerer Himmel, weniger Lärm und Unruhe, eine Rückkehr zu einem einfachen Leben und lokalem Handel, das Ende der Konsumgesellschaft. Diese romantische Wahrnehmung ist irreführend, denn die Verlangsamung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens ist eigentlich sehr schmerzhaft für unzählige Menschen, die diese erzwungene Erfahrung des Niedergangs nicht länger ertragen wollen.“
Wir haben gesehen, wie die Vereinigten Staaten, Frankreich oder Italien einen Krieg erklärt haben, der zwangsläufig gnadenlos gegen einen Feind geführt werden muss, der natürlich unsichtbar ist, und dabei die chinesische Macht imitiert.
Wir haben gesehen, dass die am meisten westlichen Staaten die Worte, Methoden und Manieren, die angeblich charakteristisch sind für den „östlichen Despotismus„, selbstverständlich übernehmen – aber ohne die Mittel, dies zu tun.
Wir haben gesehen, dass Chinas rücksichtslose Gouvernementalität umso mehr als Feindbild bezeichnet wird, je mehr sie tatsächlich als Vorbild dient.
Wir haben gesehen, wohin sich die Demokratien entwickeln.
Wir haben gesehen, wie das Sozialleben zunehmend von der Gouvernmentalität aufgesogen wird und dass das, was davon übrig bleibt, sich auf etwas rein Feindseliges reduzierten lässt.
Wir haben gesehen, dass die Absonderung mit dem Plan einer perfekten Gouvernementalität zusammenfällt.
Wir haben gesehen – und zwar durch die Löcher in den Kitteln der Krankenschwestern – welches außerordentliche Gebastel uns als „unsere Institutionen“ gilt.
Wir waren Mitspieler in einem langatmigen Sketch im Fernsehen, der uns Masken, Tests und Orte der Wiederbelebung zeigte.
Wir haben gesehen, wie dieses Maskenspiel zum Spiegelbild unserer eigenen unermesslichen Hilflosigkeit geriet.
Wir haben gesehen, wie sich die traurige Leidenschaft, gut regiert zu werden, als ewige Enttäuschung erwies.
Wir haben gesehen, wie die Näherinnen in den Dörfern die Unzulänglichkeiten des Staates ausglichen, und das Pflegepersonal lauter spricht als der sogenannte Präsident.
Wir haben nichts gesehen als wortlose Wortführer, Generäle ohne Armeen, Strategen ohne Strategie und Minister ohne Macht.
Wir haben gesehen, wie der alte Glaube an den Staat genau in dem Moment zerbröckelt, in dem der Staat eine unerwartete Daseinsberechtigung erhalten hat.
Wir haben gesehen, wie der alte Staatsglauben genau in dem Moment zusamenbrach, als der Staat sich einer unerwarteten Daseinsberechtigung erfreute.
Wir haben gesehen, wie der französische Staat, der üblicherweise mit Grandiosität frappiert wie alles was französisch ist, auf seinen eigentlichen Status als gescheiterter Staat reduziert wurde.
Wir haben gesehen, dass sich unter dem Gold seines Apparates eine Dritte-Welt-Realität verbarg – die darin bestand, ihren eigenen lokalen Behörden und ihren „europäischen Verbündeten“ die Masken herunterzureißen; die darin bestand, die Armee in dem Stil zu mobilisieren wie der mexikanische Präsident, der kam, um Kontrolle über eine Situation zu inszenieren, an die niemand glaubte; die auch darin bestand, mit all ihren Hubschraubern und Hochgeschwindigkeitszügen die Leistungsfähigkeit einer Pappmaché-Konstruktion zu enthüllen; diese Dritte-Welt-Realität eines goldverbrämten Apparates haben wir gesehen, die schließlich darin bestand, die Ausbrüche spontaner Solidarität mit den Pflegern, die er bis dahin vernächlässigt hatte, sich selbst zuzurechnen.
Wir haben gesehen, dass die private Meta-Bürokratie globaler Beratungsfirmen genauso ungeschickt ist wie die staatliche Bürokratie und dennoch überall ihren Einfluss ausweitet.
Wir haben gesehen, dass Frankreich nicht besser ist als die Vereinigten Staaten, ein ebenso gescheiterter Staat.
Wir haben gesehen – und zwar überall um uns herum –, wie der Anspruch, Dinge zu verwalten, Dinge aus der Ferne zu managen, in der Realität abgestürzt ist – und das zunächst einmal im Krankenhaus.
Wir haben gesehen, wie der Reflex, überall zu zentralisieren, zu planen und zu organisieren, die Situation verschlimmert und dennoch das Image der Organisatoren verbessert hat.
Wir haben gesehen, wie sich die lokale Selbstorganisation von einem Ort zum anderen, selbst in völlig zersiedelten Gebieten, als ein lebenswichtiger Reflex entfaltete, der ein wenig Sinn und Halt ins Leben zurückbringt – als eine winzige, aber reale Erfahrung kollektiver Macht.
Auf dem Höhepunkt der Krise haben wir gesehen, wie der Staat sich als etwas zeigte, das wir nicht mehr brauchen und der nichts zu bieten hat, während er mit tauben Ohren Drohungen ausstößt und Tiefschläge austeilt.
Wir haben gesehen, dass für viele das Leben ohne den Staat oder weit weg von seinem Imperium der erste entscheidende Schritt gewesen ist.
Wir haben gesehen, wie die Leidenschaft für den Garten oder sogar den Hühnerstall diejenigen ergriffen hat, die bis dahin nur drei Töpfe mit verblühten Blumen besaßen.
Wir haben gesehen – und zwar während im Galopp ein weltweiter Ritt in den Lockdown stattfand -, dass es praktisch keine Zäsur gab zwischen einer Welt davor und einer Welt danach. Wir haben es gesehen als eine Offenbarung der Welt, die zwar schon da war, deren Kohärenz aber bisher verschwiegen wurde.
Wir haben gesehen, dass mit der Erteilung von Hausarrest für den größten Teil der Weltbevölkerung plötzlich eine neue Architektur der Isolierung auftauchte, in der fehlender persönlicher Kontakt die Voraussetzung dafür bildet, dass alle Beziehungen kybernetisch vermittelt werden können.
Wir haben gesehen – und es abgelesen an den Kurven einiger Statistiken des Innenministeriums über die 20% der Pariser, die weggezogen sind, um sich selbst anderswo wegzusperren –, wie ein bisher geheimes Ökosystem der Massenüberwachung auftaucht.
Wir haben gesehen, dass es in dieser Hinsicht sinnlos war, zwischen staatlicher Organisation und privaten Data Brokern zu unterscheiden, zwischen denen, die die Titel tragen, und denen, die die Hebel in der Hand haben.
Wir haben gehört, wie Eric Schmitt, der ehemalige Chef von Google, der zu einer Stütze des militärisch-industriellen Komplexes der USA geworden ist, formulierte, was wir in Frankreich nicht offiziell sagen wollen: Die Ent-Schulung von vernetzten Kindern ist in der Tat ein „Massenexperiment in Fernunterricht“. Dann präzisierte er den Plan: „Wenn wir die Wirtschaft und das Bildungssystem der Zukunft auf dem „tele-everything“ aufbauen wollen, brauchen wir eine voll vernetzte Bevölkerung und eine ultraschnelle Infrastruktur. Die Regierung muss – vielleicht als Konjunkturpaket – massive Investitionen tätigen, um die digitale Infrastruktur des Landes auf cloud-basierte Plattformen umzustellen und sie über das 5G-Netz zu verbinden.“
Wir haben die triumphierende Stimme der neuen Meister gehört, als Schmidt in einem Aufruf zur Dankbarkeit gegenüber den digitalen Giganten sagte: „Überlegen Sie sich, wie Ihr Leben in Amerika ohne Amazon aussehen würde!“
Wir haben gesehen, daß unter dem unwiderlegbaren Vorwand der Pandemie die Kohärenz jener Teile sichtbar wird, die bis zu diesem Zeitpunkt von den imperialen Plänen abgekoppelt schienen: Geolokalisierung, Gesichtserkennung, digitale Linky-Stromzähler, haufenweise Drohnen, Verbot von Barzahlungen, Internet der Dinge, weit verbreiteter Einsatz von Sensoren und dank ihrer überall rückverfolgbare Spuren, digitaler Hausarrest, bis ins letzte ausgereizte Privatisierung, massive Einsparungen durch Telearbeit, Telekonsumerismus, Telekonferenzen, Teleunterricht, Telekonsultation, Fernüberwachung und schließlich Telelizenzierung.
Wir haben gesehen, wie sich in der enormen technischen Ausstattung von Jedermann die Bedingungen zeigen für ein fortgesetztes Wegsperren, das sich vor zehn Jahren noch als intolerabel erwiesen hätte – ein wenig so, wie die Einführung des Fernsehens im Gefängnis die großen Aufstände dort auslöschte.
Wir waren Mitwirkende bei der rasenden Inflation einer bestimmten Art von Technologie: derjenigen, von der Kafka sagte, wir würden mit ihr untergehen, weil sie „das Gespenstische unter den Menschen vermehrt“.
Wir haben gesehen, wie die Sozialisierung des Virtuellen in Zeiten der globalen Ausgangssperre auf die Virtualisierung des Sozialen antwortete. Das Soziale ist nicht mehr das Reale. Das Reale ist nicht mehr das Soziale.
Wir haben gesehen, wie in den Vereinigten Staaten die polizeiliche Ausgangssperre die sanitäre Gefangenschaft ablöste und wie die „gegen Covid“ gedachten Anwendungen zum Aufspüren von Randalierern eingesetzt wurden.
In Frankreich haben wir gesehen, wie Demonstrationen, die früher aus undurchsichtigen Gründen der öffentlichen Ordnung verboten waren, jetzt aus undurchsichtigen Gründen der Gesundheit verboten sind.
Wir haben gesehen, dass die soziale Hierarchie rein auf dem Grad des Parasitismus basiert.
Wir haben gesehen, wie die Polizei, wenn die Bevölkerung erst einmal weggesperrt ist, bis zum bitteren Ende ihre Souveränität auskostet: in einem öffentlichen Raum, der idealerweise menschenleer ist.
Und wir haben im Gegenzug in den Vereinigten Staaten gesehen, worin eine gelungene Beendingung des Ausnahmezustands besteht: in der Rückkehr auf die Straße, in den Ausschreitungen, Plünderungen, im Niederbrennen von Polizeistationen, Kaufhäusern, Banken und Regierungsgebäuden.
Wir haben gesehen, dass auf einem Balkon in Nantes ein dummes und feiges Transparent hing: „Bleiben Sie zu Hause! Bereiten wir die Kämpfe von morgen vor!“
Überall haben wir gesehen, wie die Bürger das „Geh nach Hause!“ echoten, angebellt von den Bütteln und ihren Drohnen.
Wir haben gesehen, wie die Linke – wie immer – als Vorhut des „staatsbürgerlichen Pflichtgefühls“ die Machthaber zu reproduzieren trachtete – als Avantgarde der Gefolgschaft.
Wir haben gesehen, wie der Ulk der „Lebensgenehmigungen“, den sich die Dadaisten der „Enzyklopädie Da Costa“ 1947 ausgedacht hatten, als staatliche Politik und Richtlinie für die Bürger in Erfüllung ging. Die Tatsache, dass es für jeden möglich war, sie zu erhalten, hätte uns auf den verrückten Charakter der Initiative hinweisen müssen.
Wir haben gesehen, worum es bei den „Haushaltseinsparungen“ geht, um das gleiche nämlich wie beim moralischen Imperativ, früh aufzustehen, um sich auf das Rad zu spannen.
Wir haben gesehen, was es bedeutet für diejenigen, die weiterarbeiteten, dass Zwangsarbeit die Wahrheit der Lohnarbeit ist, dass das Wesen der Ausbeutung darin besteht, grenzenlos zu sein, und dass die Selbstausbeutung ihre stärkste Antriebsfeder ist.
Wir haben gesehen, dass die Gesellschaft des Utilitarismus ihre eigenen Verwalter als „nicht systemrelevant“ nach Hause geschickt hat.
Wir haben angesichts der falschen Alternative zwischen einem öffentlichen Raum, der völlig unter Kontrolle ist, und einem privaten Raum, der demselben Schicksal verfallen ist, das Fehlen von intermediären Räumen hautnah gespürt, aus denen heraus wir lokal unsere Existenzbedingungen, die uns überall entgleiten, wieder in den Griff bekommen können.
Wir haben gesehen, welche Konsequenzen entstehen aus einer Ausbreitung aller möglicher anderer Arten intermediärer Räume – kommerzieller, politischer, intellektueller, als auch der Gesundheit verschriebener Räume.
Wir haben gesehen, wie eine neue Bürgertugend durch etwas entstand, das gestern noch ein Verbrechen war: die Maskierung.
Wir haben gefühlt, wie die Medien und der Regierungsapparat monatelang auf unseren Stimmungen wie auf einer Klaviatur spielten, in Tonfolgen von Gesinnungswandel bis hin zu groben Lügen, von klaffenden Widersprüchen bis zu vorgetäuschten Enthüllungen. Und sie genießen diese Etüden so sehr, dass sie beabsichtigen, sie so lange wie möglich fortzusetzen.
Wir haben hautnah gespürt, wie wir angesichts der unergründlichen Bedrohung durch das Virus an uns selbst gefesselt waren, indem wir uns an andere fesselten, und zwar durch ein Band, das eigentlich eine Ent-Bindung ist: die Angst.
Wir haben gesehen, dass der Schisser seinen Altruismus beteuert und der Normopath, der Gestörte, der sich zwanghaft an vorherrschende Regeln anpasst, zum Vorbild wird.
Wir haben gesehen, wie die völlige Verwirrung über die richtige Lebensweise – die völlige Fremdheit sich selbst gegenüber – uns ihre Lektionen in Benimm erteilt.
Wir haben gesehen, dass aus genau dieser Verunsicherung das Versprechen erwuchs, dass das Verhalten komplett umprogrammierbar ist.
Wir haben gesehen, wie die Regierenden und die multinationalen Unternehmen die Fürsorge feiern, in der einzigen Hoffnung, uns davon abzuhalten, gegen sie in den Krieg zu ziehen.
Wir haben gesehen, wie die „Verfechter der Diskreditierung“* versuchen, die ihnen zugedachten Buhrufe zu übertönen, indem sie die zur Lohnarbeit Verdammten täglich beklatschen.
* (Anm. d. Übers: gemeint ist das Gesundheitsministerium, bzw. die Regierung insgesamt)
Wir haben gesehen, wie die ewigen Faulpelze die Auszeichnung zum heroischen „Frontkämpfer“ erfinden als die ultimative Art, sich zu verstecken.
Wir haben gesehen, wie die Unmöglichkeit, zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden, und die Unmöglichkeit, nicht das Regime ausschließlich der Lüge zu überlassen, uns zu einer verfügbaren Masse macht, und wir haben gesehen, wie jede möglicherweise beweisbare Information im Laufe des Tages mit einer anderen, nicht weniger unwahrscheinlichen Information systematisch widerlegt wird, was zeigt, dass es ausreicht, einen gewissen Nebel um alle Fakten herum zu erzeugen, mit Hilfe dessen die Herrschenden ihr Monopol befestigen, uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Wir haben gesehen, dass die Wissenschaft so von Interessen beherrscht ist, dass sie nicht imstande ist, auch nur den kleinsten Hauch von Wahrheit zu produzieren.
Wir haben gesehen, dass das Wissen so mit Macht gesättigt ist, dass es implodiert.
Wir sind zurückgeworfen auf unsere eigene Intuition und ein paar belastbare Untersuchungsbefunde als letzte praktikable Möglichkeit des Zugangs zur realen Welt, als die Wurzel allen logischen Denkens.
Wir haben gesehen, wie die Frage der „Volksgesundheit“ zur völligen Zwangsenteignung jeder vernünftigen Gewissheit über unsere wirkliche Gesundheit missbraucht wird.
Wir haben keinen Gefallen gefunden an der wohlwollenden Inquisition durch die „Schutzengel-Brigaden“ des [Gesundheitsministers] Dr. Véran.
Wir haben gesehen, wie der republikanische Souverän seinen Traum verwirklicht hat, alle seine Untertanen für seine Messe zu versammeln, ideal getrennt vor ihrem Bildschirm zwischen den vier Wänden ihres Hauses, und schließlich auf seine ausschließliche Betrachtung reduziert. Wir sahen den Leviathan ins Leben gerufen.
Wir haben gesehen, wie Macron sich friedlich den Maifeiertag der Arbeiter aneignete und die glücklichen Tage des CNR [Conseil National de la Résistance], und wie die Linken dieses Vermächtnis für sich reklamieren – doch bloß als als Geste -, anstatt zu beschließen, dass es für immer seine Berechtigung verwirkt hat.
Wir haben gesehen, wie zwei Monate lang die allgegenwärtige Linke im luftleeren Raum immer mehr Forderungen und Programme für niemanden stellte.
Wir haben gesehen, dass die Linke unter diesen „außergewöhnlichen Umständen“ unfähig ist, etwas anderes zu tun, als zu mobilisieren, d.h. die letzten subjektiven Ressourcen bis zur Erschöpfung auszubeuten.
Wir haben gesehen, wie die großen Liberalen den Lockdown lobten und das Tragen von Masken förderten und wie die größten Faschos die Tyrannei anprangerten.
Der Anarchist, der an einen guten Willen, ja sogar an ein gewisses Wohlwollen des Staates glauben will, erinnert uns daran, dass es keine Regierung ohne Selbstverwaltung gibt und umgekehrt. Regierung und Selbstverwaltung sind voneinander abhängig, sind Teil desselben Systems. Die Tatsache, dass der Schäfer sich um seine Herde kümmert, hat ihn nie daran gehindert, die Lämmer zum Schlachthof zu bringen.
Im Gestrüpp der Gefangenschaft stießen wir auf das Lächeln des Mittäters.
Wir haben gesehen, wie die Marxisten, verblüfft darüber, dass die „Diener des Kapitals“ ihre Reproduktion kaum unterbrechen, wie eben diese Marxisten es kaum fassen können, dass die Priester der Wirtschaft tatsächlich beschlossen haben, die Reproduktion doch ein klein wenig zu blockieren, kurz: wir haben gesehen, wie die Marxisten entdeckten, dass die Wirtschaft keineswegs aus harten und unveränderlichen Daten besteht, sondern einen gewissen Stil darstellt zu regieren und dabei eine bestimmte Art von Menschen zu produzieren.
Wir haben gesehen, wie ein burgundischer Bourgeois und Teilzeit-Philosoph, erst etwas über die „Wirtschaft als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen“ deklamierte und dann Microsoft bat, seinen Lehrstuhl an der Universität zu finanzieren, auf dem er den Ausstieg aus der Wirtschaft erforschen wolle.
Wir haben gesehen, wie anlässlich des Lockdown ein reicher Chinese aus Aubervilliers die Lehrerin seines Sohnes dauerhaft als Hauslehrerin abgeworben und dafür ihr Gehalt verdoppelt hat – in dieser Hinsicht weniger geizig als so viele Familien der Pariser Bourgeoisie, aber nicht weniger entschlossen, dem öffentlichen Bildungswesen ein Ende zu setzen.
Wir haben gesehen, wie das Nationale Bildungsministerium seine Mitarbeiter aufgefordert hat, „in den Korridoren und im Innenhof auf Worte zu achten, die den sozialen Zusammenhalt angreifen“.
Wir haben gesehen, wie eine Regierung sich so sehr auf Disziplinierung kapriziert, dass sie am Ende einfache Picknicks in den Wäldern mit dem Ruch der Verschwörung überzieht und wackere Bürger auffordert, ihre Reflexe zu vergessen.
Wir haben gesehen, wie die FNSEA [Nationale Föderation der Bauernverbände, die Mehrheitsgewerkschaft], die immer bereit war, wieder wie 1942 einige neue „Jugendarbeitslager“ zu eröffnen, sich darüber erregte, dass Freiwillige nun behaupten, sie würden bezahlt – nur um dann auf die Ausbeutung von Migranten ohne Papiere zurückzugreifen, dort wo es an Rumänen mangelt.
Wir haben gesehen, dass, wie 1942, die guten Franzosen immer bereit sind, die Lockdown-Verweigerer zu denunzieren, und dass die Tageszeitung Ouest-France sich traute, subtile Unterscheidungen zu treffen zwischen Spitzelei und Denunziation.
Wir haben gesehen, wie die großen Hundsfötter – die industrielle Fischerei, Großförster oder Agrarunternehmen – mit jeder Leine, die losgebunden wurde, die Ozeane, das Land und die Wälder noch stärker ausgelutscht haben, während wir zu Hause eingesperrt waren.
Wir haben gesehen, wie diejenigen ticken, die angesichts des Ereignisses zum Schafott eilen für ein „morgen“ der „Welt danach„, oder sich ihre gemütlichen Illusionen sichern, und haben diejenigen gesehen, die bereit sind, das Geschehene zur Kenntnis zu nehmen, wie frostig es auch sein mag.
Wir sehen die Vernichtung als das offenkundige Schicksal dieser Gesellschaft.
Wir haben also gesehen, wer verrückt wird, wer einen kühlen Kopf bewahrt, wer sich der Panik hingibt und wer würdevoll bleibt, wer Propaganda im Mund führt und wer es noch schafft, selbst zu fühlen und zu denken.
Wir haben vorausgesehen, dass eine andere Zeitlichkeit aufzieht, die der sozialen Zeit fremd ist, dichter, kontinuierlicher, angepasster, sauberer und geteilt. Wir haben uns die physische Annäherung an unsere Liebsten gewünscht und die Distanzierung von den Feindseligsten unter unseren Nachbarn.
Wir haben gesehen, wie um uns herum eine Stärkung all der Verbindungen und Orte, die das Leben lebendig machen, entstand und eine Distanzierung von allem, was eigentlich keine Daseinsberechtigung hatte.
Wir haben all dies gesehen, und das führt zu einer näheren Bestimmung der kommenden Aufteilung
– ein Teilen mit denen, die bereit sind, die Wahrheiten des Geschehenen aufzufangen
und
– ein Trennen von denen, die immerzu nichts sehen wollen.
Wir haben nicht die Absicht, letztere zu unseren Ansichten zu bekehren. Sie haben uns mit ihrer verfluchten Blindheit genug behindert.
Wir sehen nun, wie sich angesichts der wachsenden „Unregierbarkeit der Demokratien“ ein technologisch, finanziell und polizeilich ausgestatteter sozial-regulatorischer Block verhärtet, während sich andererseits tausend einzelne Zufluchten* und kleine diffuse Gestrüppe auftun und Gestalt annehmen, genährt von ein paar Gewissheiten und ein paar Freundschaften.
*(siehe längere Anmerkung im blog)
Wir sehen die generelle Zuflucht außerhalb dieser Gesellschaft, d.h. außerhalb der von ihr beherrschten Beziehungen, als das grundlegende Maß des Überlebens an, ohne das nichts wiedergeboren werden kann.
Wir sehen die Vernichtung als das offenkundige Schicksal dieser Gesellschaft und was es für diejenigen bedeutet, die sich verpflichtet haben, sie schleunigst zu verlassen – wenn wir wenigstens das Leben auf der Erde wieder zum Atmen bringen wollen, wo immer es auch sein mag.
Die Mauer, vor der wir im Moment stehen, ist das Wie der Mittel und Formen dieses Austritts. Wir haben die Erfahrung im Schach zu stehen – mit Figuren wie aus biegsamen Plastik, damit sie nachgeben können. Daraus leitet sich jede weitere Strategie ab.
Wir haben uns bemüht, das zu formulieren, was wir im letzten Frühjahr erlebt haben, bevor die organisierte Amnesie unsere Wahrnehmungen verdeckte.
Wir haben es gesehen und wir werden es nicht vergessen.
Vielmehr werden wir auf diesen Erinnerungen aufbauen.
Wir stellen keinerlei Vermutungen über die Zusammensetzung des „Wir“ an, nicht über das Volk und auch nicht über diejenigen, die immer meinen, alles besser zu wissen.
Wir sehen in dieser Ära kein anderes „Wir“ als die Klarheit der gemeinsamen Wahrnehmungen und die Entschlossenheit, sie zur Kenntnis zu nehmen, auf jeder Ebene unseres bescheidenen und verrückten Lebens.
Unser Ziel ist nicht die Konstituierung einer neuen Gesellschaft, sondern einer neuen Geographie.
Übersetzer: Olaf Arndt, Janneke Schönenbach, Wolfgang Löbert, Peyriac-de-Mer, 6.-10. Oktober 2020