I. Aneignen
Wir sind an einem Punkt, wo es nichts mehr zu verlieren gibt.
NON Kongress 2024/Bulletin
Seit einigen Tagen sammelte ich Material für einen Text über das Aneignen. Das Aneignen sollte dem Abwenden gegenüberstehen. Ich las suchend in den Bulletins des an diesem Wochenende stattfindenden Berliner NON-Kongresses, da – und dieses Glück ereilt mich regelmässig, seit wir die AKTION 4.0 herausgeben – traf ein „Aufruf zur weltweiten Gründung von Gemeinschaften im Kampf für ein freies, authentisches menschliches Leben“ von Raoul Vaneigem ein.
Sein sperrig-schöner Titel „DAS RAUBTIER-VERHALTEN ABSCHAFFEN – SICH ERNEUT MENSCHENWÜRDIG ENTWICKELN.“
Vaneigem schreibt, als wäre die Zeit für feine Justierungen, die Zeit der Rettung abgelaufen. Er fängt deswegen gleich mit dem Ende an. „Wir haben den Menschen zur Schande der Menschheit gemacht.“ und konstatiert folgerichtig „Was sich in der Tat durchsetzt, ist die Entstellung des Menschen.“
Nur ein verschwindend kleiner Teil dieser Ex-Menschheit befasst sich noch mit einem – dem Rest der Meute wenig aussichtsreich erscheinenden – Versuch, das Schlimmste abzuwenden.
Das sind wohl diejenigen, von denen die Selbstbereicherungspolitiker sagen, sie seien zugleich links- und rechts-extrem. Dieses Bonmot verdanken wir – und ich verspreche, sein Name wird hier nie wieder fallen – Friedrich Merz.
Vaneigem klassifiziert die Menschheit – gemäß seinem NeologismusTranshominier – als solche, die „sowohl den Raubtierinstinkt als auch den Instinkt zu gegenseitiger Hilfe geerbt haben.“
Ich würde – unter Nutzung des Vaneigemschen Vokabulars „Prédation“ und „Entraide“ – gern teilen in
– Prédhominier (die nur den Raubtierteil geerbt haben)
und
– Entraidhominier (die den Instinkt zur gegenseitigen Hilfe gepflegt haben)
Die Sisyphos-Arbeit der Entraidhominier, den Gang der Geschichte zu beeinflussen, ist notwendigerweise extrem, weil sie der Todesverachtung der anderen, dem Terror des Faschismus eine den Menschen zugewandt Perspektive entgegensetzt. Etwas mithin, das sich nicht umstandslos und nur für einige wenige Auserwählte digitalisieren, also letztendlich nicht mühelos monetarisieren lässt.
Die Prédhominier, also die Monetarisierer und ihre Adepten verstehen“ abwenden” als sich umdrehen und nicht mehr hinschauen und glauben nicht einmal theoretisch an möglichen Erfolg. Sie beschäftigen sich daher – für welches auch immer vorgestellte künftige Ziel– ausschließlich mit dem Aneignen. Unklar, unter welchen Bedingungen dieser Reichtum konsumiert werden soll.
II. Aufgeben
Immerhin wird daran klar, dass es sich um ein sehr kurzfristiges Konzept handelt.
Denn laut Giorgio Agamben hat der Westen bereits alles aufgegeben. Agamben fragt, „warum der Westen und insbesondere die europäischen Länder durch eine radikale Änderung der Politik, die sie in den letzten Jahrzehnten verfolgt hatten, plötzlich beschlossen haben, Russland zu ihrem Todfeind zu machen.“
und antwortet:
„Die Geschichte zeigt, dass, wenn, aus welchen Gründen auch immer, die Prinzipien, die die eigene Identität sichern, versagen, die Erfindung eines Feindes das Mittel ist, das eine – wenn auch prekäre und letztlich ruinöse – Auseinandersetzung mit ihm ermöglicht. Genau das geschieht jetzt vor unseren Augen.“
Agamben fährt folgerichtig fort:
„Es ist klar, dass Europa alles aufgegeben hat, woran es glaubte – oder zumindest jahrhundertelang geglaubt hatte: seinen Gott, die Freiheit, die Gleichheit, die Demokratie, die Gerechtigkeit.
Wenn die Religion, mit der sich Europa identifizierte, nicht einmal mehr von den Priestern geglaubt wird, hat auch die Politik längst ihre Fähigkeit verloren, das Leben der Menschen und der Völker zu lenken.
Wirtschaft und Wissenschaft, die an ihre Stelle getreten sind, sind in keiner Weise in der Lage, eine Identität zu garantieren, die nicht die Form eines Algorithmus annimmt.
Die Erfindung eines Feindes, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt, ist in diesem Moment die einzige Möglichkeit, die wachsende Angst angesichts all dessen, woran man nicht mehr glaubt, zu stillen. Und es zeugt gewiss nicht von Phantasie, als Feind denjenigen zu wählen, der es vierzig Jahre lang, von der Gründung der NATO (1949) bis zum Fall der Berliner Mauer (1989), ermöglichte, den so genannten Kalten Krieg, der zumindest in Europa endgültig verschwunden zu sein schien, über den gesamten Planeten zu führen.
Gegen diejenigen, die stur versuchen, auf diese Weise etwas zu finden, woran sie glauben können, muss man sich daran erinnern, dass der Nihilismus – der Verlust jeglichen Glaubens – der beunruhigendste aller Gäste ist, der nicht nur nicht mit Lügen gebändigt werden kann, sondern nur zur Zerstörung derjenigen führen kann, die ihn in ihr Haus aufgenommen haben.“
Soweit Agamben.
Was ich versuche, mit dem Begriff Aneignen zu beschreiben, liegt weit jenseits der „Bereicherungsökonomie“ eines Luc Boltanski. Es ist kein Synonym für Akkumulierung, Kapitalkonzentration oder monumentalen Reichtum.
Der Trieb zum Aneignen ist allumfassend, sinnleer und wahrscheinlich nihilistisch.
Deswegen geht auch jede konstruktive Kritik an ihr fehl, denn das Aneignen ist unheilbar – Krankheiten entziehen sich bekanntlich der Beanstandung, ebenso wie dem Widerstand. Sie lassen sich nicht (mehr) abwenden.
Unheilbare Krankheiten können sich nur selbst beenden.
Und dennoch: darauf können und müssen wir uns vorbereiten. Lesen Sie heute in DIE AKTION 52, wie Raoul Vaneigem vorschlägt vorzugehen und wie er mit seinem Konzept des „Genuss als friedliche Gewalt“ die Idee der AKTION Nr. 51 (Geniessen ohne Hemmungen) fortschreibt: denn wir brauchen weder „weder Herren, noch Kulte, noch Parteien“, um wieder zum Leben und zur Menschlichkeit zu gelangen.