Nummer 12, 9. Oktober 2020 Roberto Censolo und Massimo Morelli Epidemien: Brutkästen für Konflikte?

COVID-19 und die möglichen Folgen für die soziale Stabilität

Epidemien erhöhen Risiken für soziale Unruhen

Die großen Seuchen der Vergangenheit zeigen, dass soziale Spannungen, die sich während einer Epidemie und davor häuften, sich oft in den Jahren nach der Epidemie in Form massiver Aufstände äußern. Basierend auf historischen Beweisen sagen wir voraus, dass die Proteste aus der Zeit vor dem Ausbruch von COVID-19 als Epidemie-bezogene Unruhen weiter gehen werden, jedenfalls solange die Epidemie andauert. Wir sollten uns allerdings darauf einstellen, dass nach Ende der Epidemie die ungelösten präepidemischen Missstände noch stärker wieder aufbrechen werden, angekurbelt durch die zunehmenden sozialen Missstände aus der Zeit vor der Epidemie. Während die Epidemie andauert, neigen die amtierenden Regierungen zur Festigung des gegenwärtigen Standes. Doch ist ein starker Anstieg sozialer Instabilität nach der Epidemie zu erwarten.

Das Verstummen der Protestbewegungen

Mit der COVID-19-Krise scheinen die Protestbewegungen überall in der Welt ihre Stimme verloren zu haben: “Liberate Hong-Kong”, der Umweltaktivismus von Greta Thunberg, die “Gilets Jaunes” in Frankreich oder die “Sardinen”-Bewegung in Italien scheinen seit Ausbruch der Epidemie stark geschwächt. Nach Angaben des Jahresberichtes von “Freedom House” (Repucci 2020) sind wohl von den zwanzig Protestbewegungen, die weltweit in Dezember 2019 aktiv waren, nur zwei oder drei noch tätig.

Gleichzeitig produziert die Verwirrung stiftende Wucht, mit der die Epidemie auf das Netz sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen wirkt, ein latentes Gefühl der öffentlichen Unzufriedenheit – dies insbesondere in Kombination mit den von den Regierungen verhängten Beschränkungen zur Eindämmung von Masseninfektionen.

Das Argument der “Virusverschwörung” und die in der öffentlichen Meinung sich ausbreitende Leugnung der Schwere der Epidemie, die unkonzertiert von mehreren politischen Führern befördert wird, sind ein Symptom potenziell gefährlicher Spannungen innerhalb der Gesellschaft.

Auswirkungen auf die kollektive Psyche

Darüber hinaus gibt es Stimmen, die beschreiben, in welcher Weise die Epidemie auf die kollektiven, emotionalen und verhaltensmässigen Charakteristika einer Gruppe prallt (Torales et al. 2020). Angstzustände, Depressionen und aufreibende soziale Beziehungen führen tendentiell dazu, dass der Einzelne sich in der Privatsphäre verschließt, so dass sich die sozialen Bindungen der Protestbewegungen notwendigerweise lockern.

Wie auch immer, dieser psychologische Effekt kann durchaus auch soziale Stimmungen in ein höheres Maß von Aggressivität kanalisieren, wodurch sich das Niveau der sozialen Konflikte in der post-epidemischen Zeitraum steigert. Dies vorausgesetzt kann man sagen, dass sozial und psychologisch motivierte Unruhen, die aus der Epidemie heraus entstehen, tendenziell die Konflikte der vor-epidemischen Periode verdrängen. Wohl aber kann dies auch der Nährboden sein, aus dem weltweiter Protest bedeutend aggressiver hervorschießt – sobald die Epidemie einmal vorüber ist.

Seuchen und Unruhen

Wir behaupten, dass es möglich ist, aus einer Untersuchung der großen Seuchen der Vergangenheit abzuleiten, welche möglichen Auswirkungen COVID-19 auf Protestinitiativen und künftige soziale Unruhen haben wird.

Wie in Snowden (2020a) ausführt, besitzt die augenblicklicheVeränderung der Art von Unruhen, die Amerika erlebt, einige Ähnlichkeiten mit dem Aufstand in England im 14. Jahrhundert, der dem “Schwarzen Tod” folgte (1346-1353). Snowden argumentiert, dass die Beulenpest als sozialer Inkubatorfungierte, der still und leise die Klassen-Spannungen nährte, die seit mehr als dreißig Jahren schwelten und schließlich – wie ein Nachspiel zur Pest – gewaltsam ausbrachen.

In ähnlicher Weise weist Hays (2005) darauf hin, dass die scheinbare soziale Ruhe während derselben Beulenpest eine wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung verbarg, die in den folgenden Jahrzehnten unvermittelt auftaucht. Volksaufstände erschütterten die Machtgefüge nicht nur in England, sondern auch in Frankreich und im italienischen Stadtstaat Florenz. Wie von Hays (2005) hervorgehoben, waren die Revolten nach dem Ende des “Schwarzen Todes” verursacht durch die sich verschärfende Ungleichheit: dies nicht allein als Folge der Pest, sondern vor allem durch die von der Regierung getroffenen Maßnahmen zum Schutz der Interessen von Landbesitzern und großen Arbeitgebern.

Epidemien als Brutkasten für soziale Störungen

Die zuvor angeführten Überlegungen zeigen, dass ein tieferes Verständnis gewonnen werden könnten bezüglich der mittelfristigen Auswirkungen von Covid-19 auf den sozialen Zusammenhalt und die institutionelle Stabilität – und zwar durch exakte historische Untersuchung von Epidemien als Quelle für radikalen sozialen Wandel. Während detaillierte Listen von Epidemien leicht verfügbar sind, existiert kein sorgfältig und genau gemachter Datensatz, der Revolten, Rebellionen, Aufstandsbewegungen und Proteste in historischer Perspektive aufarbeitet. Als ersten Ansatz einer historischen Untersuchung stützten wir uns auf den “Konfliktkatalog” von Brecke (1999) und auf die Informationen bei Hays (2005). Aus dem langen Zeitraum zwischen dem “Schwarzen Tod” und der “Spanischen Grippe” (1919-1920) haben wir die siebenundfünfzig bedeutendsten Epidemie-Episoden ausgewählt. Überblicksweise lässt sich sagen, dass wir nur vier Fälle von Revolten während der Zeit einer Epidemie identifizieren konnten, die nicht unmittelbar mit der Krankheit verbunden waren.

Dieses Ergebnis stützt die Verdrängungshypothese. Hays (2005) weist auch darauf hin, dass sich während Epidemien andere Missstände, die nicht direkt mit der Epidemie zusammenhängen, stillschweigend anhäufen, doch ohne sofortige Explosion. Dies unterstützt die Sichtweise von Epidemien als Brutkasten für schwerwiegendere soziale Störungen.

Saat für Konflikte

Wenden wir uns den Effekten zu, die aus Regierungsmaßnahmen resultieren: Der “Schwarze Tod” im 14. Jahrhundert führte zu massiven öffentlichen Interventionen mit dem Ziel einer Begrenzung der Ausbreitung der Krankheit. Quarantäne, Einsperren der Kranken, Beschlagnahme von Eigentum, Verbot öffentlicher (insbesondere religiöser) Demonstrationen waren alle zwingend vorgeschrieben und wurden oft wie militärische Operationen durchgesetzt.

Die zweite Choleraepidemie (1827-1835) ist in dieser Hinsicht sinnbildlich. Die Einschränkungen durch die Regierungen standen in scharfem Konflikt mit dem Liberalismus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts und laut Hays (2005) trug die Epidemie zu den politischen Spannungen der 1830er Jahre bei und prägte sie in einigen Fällen sogar.

Epidemien säen bisweilen noch eine andere Art von Konflikten.

Während und nach der Pest in London 1665 gab es Streit darüber, ob die Krankheit dem “Schmutz der Armen” zuzurechnen sei. Der Verdacht, dass unverantwortliches Verhalten der Armen die Cholera mit sich bringe, war unter Mitgliedern der britischen Behörden in Indien während der ersten Cholera-Epidemie (1817-1824) weit verbreitetet.

Verschwörung der Regierung gegen die Armen?

Während der zweiten Choleraepidemie betrachteten viele Bessergestellte die Gewohnheiten und sogar die Moral der Armen als Ursache von Schmutz. Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit wurden daher als diskriminierend wahrgenommen – Maßnahmen, mit denen man die Armen unterdrücke, um die Reichen zu schützen. Während der zweiten Epidemie in Paris sahen die Armen in der Cholera ein Komplott der Regierung, während sie für die Eliten ein Vehikel sozialer Unordnung darstellte: eine Situation, die zu schweren Schüben von Volksgewalt führte.

Ein ähnliches Beispiel ist aus Neapel während der fünften Choleraepidemie (1891-1896) bekannt. Die Cholera schlug vor allem in den Armenvierteln zu und die Menschen dachten, die Krankheit sei eine Verschwörung der Regierung gegen die Armen, mit der die Bevölkerungszahl reduziert werden sollte. Analog zu den Ausschreitungen in Paris provozierte dies etliche gewalttätige Aufstände, die erst nach Abklingen der Epidemie niedergeschlagen werden konnten.

Die Befürchtung, dass Klassenspannungen durch COVID-19 und die Regierungspolitik verschärft werden könnten, zutreffend ist, zeigt sich heute in Brasilien. Für die USA weisen Jung, Manley, und Shrestha (2020) darauf hin, dass man deutlich sehen könne “…welch starkes Armutsgefälle vorliegt sowohl für Infektionen, wie auch für Todesfälle”.

Rassismus und Aggression

Schließlich schürt die Ansteckungsgefahr Verdacht und Angst vor den “Anderen”. Mehrere historische Beispiele zeigen, dass Epidemien soziale Konflikte auslösen können, deren Tenor Rassendiskriminierung ist. Während der zweiten Choleraepidemie wurde in den Vereinigten Staaten die Ansteckungsgefahr mit den jüngsten Einwanderungswellen in Zusammenhang gebracht, sowie mit den Afroamerikanern. Im Westen wuchs die Überzeugung, dass die Cholera asiatisch sei, was bewies, dass “Asien” von schädlichem Einfluss sei. In Indien war unter den Briten die Meinung verbreitet, dass Cholera dem barbarischen Aberglauben und ebensolchen Traditionen vor allem der Hindu-Pilger zuzurechnen sei. Dies führte zu umfangreichen Programmen der Verwestlichung. Diese Politik legte – in scharfem Kontrast zu den lokalen Sitten und Gebräuchen – die Grundlage für Ressentiments, die zwei Jahrzehnte später zum ersten Unabhängigkeitskrieg führten.

Ein weiteres Beispiel stammt aus dem Jahr 1771: die Pest in Moskau. Nach Hays (2005) herrschte damals die Überzeugung, die Krankheit stamme aus der osmanischen Türkei. Das verstärkte fremdenfeindliche Gefühle, die wiederum die Politik der Aggression gegen die Türkei stützten.

Ungleichheit und soziale Zermürbung

Insgesamt belegen die historischen Beispiele unsere Vermutung, dass Epidemien ein Potential für in der Zivilgesellschaft Unordnung stiftende Wirkungen besitzen und zwar in dreierlei Hinsicht:

1. Die politischen Maßnahmen stehen im Widerspruch zu den Interessen der Menschen, wodurch eine gefährliche Zermürbung des Verhältnisses von Gesellschaft und Institutionen erwächst.

2. In dem Maße, wie eine Epidemie sich innerhalb der Gesellschaft unterschiedlich auswirkt in Bezug auf Sterblichkeit und wirtschaftliche Wohlfahrt, verschärft sie die Ungleichheit.

3. Der psychologische Schock führt zu irrationalen Narrativen über die Ursachen und die Ausbreitung der Krankheit. Dies kann soziale Folgen haben, sowie zu Rassendiskriminierung und sogar Fremdenfeindlichkeit führen.

Offensichtlich ist, dass verschiedene Faktoren mäßigend oder verschärfend auf die oben genannten Phänomene wirken:

  • – der Grad des sozialen Zusammenhalts und die aus der Vergangenheit ererbte politische Stabilität
  • – die Dauer der Epidemie, ihre Mortalitäts-Rate und Verbreitung und
  • – die Frage, wie die sozialen Kosten der Epidemie auf die Gesellschaft verteilt werden.

Der Nutzen der notwendigen Einschränkung der Freiheit

Jedenfalls scheinen die meisten der großen Epidemien der Vergangenheit in unterschiedlichem Ausmaß Brutstätten sozialer Unruhen gewesen zu sein. Um zu überprüfen, ob sich ein Potenzial sozialer Spannungen über eine Epidemie so aufgestaut hat, dass es zu bedeutenden Ausbrüchen von Rebellion führt, haben wir die oben beschriebenen Epidemien näher untersucht hinsichtlich ihres Potenzial für Rebellion und Aufstände. Wir betrachteten insbesondere die fünf Cholera-Epidemien. Für jede Epidemie identifizieren wir die wichtigsten geographischen Räume, die von der Krankheit betroffen waren.

Dann berechneten wir die Fälle von Revolten in den zehn Jahren vor einer Epidemie und in den zehn Jahren nach einer Epidemie. Ziehen wir all jene Epidemien zusammen, so finden wir neununddreißig Rebellionen vor einer Epidemie und einundsiebzig Rebellionen nach einer Epidemie. Überdies lässt sich das gleiche Muster für jede einzelne der fünf Epidemien nachweisen.

Diese ersten Ergebnisse unserer Forschung sind vielversprechend als Einstieg in eine tiefere Untersuchung der Beziehung zwischen Epidemien und sozialen Konflikten in ihrer historischen Perspektive. Eine entscheidende Frage, die bisher beiseite gelassen wurde, verdient noch eine genauere Prüfung: Die notwendigen Einschränkungen der Freiheit während einer Epidemie könnten von Regierungen strategisch ausgenutzt werden, um ihre Macht zu stärken.

Orban und Trump sind nur die sichtbare jüngste Spitzen des Eisbergs – mit dem eindeutigen Versuch, die Wichtigkeit von Recht und Ordnung gegenüber allen anderen Fragen hervorzuheben.

Negativer globaler Schock und Repression

Mattozzi, Morelli und Nakaguma (2020) zeigen, dass jeder globale negative Schock Einfluss nimmt auf den verteilbaren Überschuss der Länder und das dies dramatische Auswirkungen auf Länder hat, die intern entlang ethnischer oder politischer Linien geteilt sind: die Gruppe an der Macht neigt dazu, die Verteilung des schrumpfenden verteilbaren Überschusses so zu ändern, die Ungleichheit verstärkt und sich somit interne Konflikte schließlich verschärfen.

Somit ist es eine logische Folge unserer wichtigsten Vermutung bezüglich kurz- und mittelfristiger Auswirkungen der Epidemien auf die soziale Stabilität, dass Repression wahrscheinlicher wird.

Protestbewegungen werden nun als Versammlungen angesehen, die sofortiges Eingreifen rechtfertigen.

Protestbewegungen werden zudem unmittelbar geschwächt durch Ansteckungsangst der Teilnehmer, und durch Zweifel, dass genügend andere Mitprotestierende auftauchen (das “kollektive Aktion”-Problem), sowie durch größere Toleranz gegenüber Verfolgung und Überwachung. Diese Schwächung der Standardformen von Opposition und Protest festigt bestehende Macht und Status Quo.

Der Zorn des Volkes

Die Geschichte kann hier einige nützliche Hinweise liefern: Ein Blick auf das 19. Jahrhundert zeigt, dass der Volkszorn, der 1831 in Paris während der Choleraepidemie ausbrach, nicht entschieden unterdrückt wurde durch den schwachen König Louis Philippe. Dies mag das Vertrauen in die revolutionären Bewegungen gestärkt haben, die dann 1848 losexplodierten.

Snowden (2020b) argumentiert, dass die beiden gewalttätigsten Beispiele für klassenbasierte Repressionen, die Unterdrückung der Revolte von 1848 und die Zerstörung der Pariser Kommune, sich deswegen in Paris ereigneten, weil dort noch die Erinnerung an die sanfte Kontrolle der Aufstände von 1831 wach war. Dieses Beispiel stimmt mit der von uns befürchteten Schlußfolgerung überein. Offensichtlich ist hier eine differenziertere historische Analyse notwendig, um Klarheit zu schaffen.

Quellen

Brecke, P. 1999. “Violent Conflicts 1400 A.D. To the Present in Different Regions of the World.”, in: paper prepared for the 1999 meeting of the Peace Science Society, Ann Arbor, MI, 8–10, October 1999.

Hays, J. N. 2005. Epidemics and Pandemics: Their Impacts on Human History. Santa Barbara, Calif., ABC-CLIO

Jung, J., J. Manley, and V. Shrestha. 2020. Coronavirus Infections and Deaths by Poverty Status: Time Trends and Patterns. Working Papers 2020-03. Towson University, Department of Economics.

Mattozzi, A., M. Morelli, and M. Y. Nakaguma. 2020. “Populism and War.” CEPR DP no. 14501.

Repucci, S. 2020. “A Leaderless Struggle for Democracy.” In Highlights from Freedom House, Annual Report on Political Rights and Civil Liberties: FREEDOM IN THE WORLD 2020.

Snowden, F. 2020a. “Uprisings after Pandemics Have Happened Before: Just Look at the English Peasant Revolt of 1381.” The Conversation, June 5

Snowden, F. 2020b. Epidemics and Society: From the Black Death to the Present. New Haven: Yale University Press

Torales, J., M. O’Higgins, J. Castaldelli-Maia, and A. Ventriglio. 2020. “The Outbreak of COVID-19 Coronavirus and its Impact on Global Mental Health.” International Journal of Social Psychiatry 66 (4): 317–20

Zwischenüberschriften und Übersetzung: Olaf Arndt und Janneke Schönenbach