Den Umfrageinstituten zufolge erklären (im Jahr des Erscheinens des Textes, 1993; Anm. d. Hrsg.) 84 Prozent der Franzosen, „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ mit ihrer „Lebenswelt“ zu sein. Sie sind zudem mit ihren Vorgesetzten „ziemlich zufrieden“, zu denen sie „eher Vertrauen“ haben.
Andere vorher schon zitierte Zahlen, die dieselben Franzosen betreffen (Verdoppelung der Selbstmorde unter Jugendlichen innerhalb von fünfzehn Jahren, steigender Konsum illegaler Drogen, Alltäglichkeit der Gewalt an den Schulen – und, parallel, für die zaghafteren Älteren, starke Zunahme von „Risikoverhalten“, Gewöhnung an chemische Beruhigungsmittel, sehr starker Hang zu Gewaltspektakeln), bezeugen keine solche Zufriedenheit, sie könnten sogar den Wert der vorher genannten Studien in Frage stellen.
Hier liegt jedoch weder eine Manipulation der Forscher noch berechtigte Trickserei seitens der Befragten vor. Die Verzweiflung ist nur unfähig geworden, ihren Gegenstand zu benennen. Eine undurchlässige Wand trennt nunmehr das Leiden ab – das sich im Körper und im sich aus ihm bildenden Bewusstsein ausdrückt. Ein fast unüberwindlicher Graben zwischen dem Unglück und den Worten, es auszudrücken.
Seit langem haben die Psychologen beobachtet, dass Gefühle, die mit dem erlaubten sozialen Verhalten nicht vereinbar sind, nicht im Bewusstsein erscheinen können. Man weiß auch, dass ein starker Schmerz im extremen Notfall, wenn es heißt, ‚Rette sich wer kann‘, verschwindet. Unter dem beruhigenden Schweigen eines stummen Bewusstseins tummeln sich manchmal Schatten, die uns später in unseren Träumen und Phantasien, unseren Versprechern und in Fehlleistungen heimsuchen – und auch in unserem Körper in der Form der Krankheiten.
Alle heutzutage erlaubten Tätigkeiten, ob individuell, gesellschaftlich oder politisch, arbeiten gegen das Leben. Und das Bewusstsein, das sich dabei bildet, kann dieses Leben nicht mehr begreifen. Das Leiden und der Zorn bleiben undenkbar. Manchmal führt jedoch ein Anwachsen des Schmerzes zu einer zufälligen Explosion und bringt die blutige Wahrheit vor aller Augen an die Oberfläche. Die Medien zeigen uns dann, verbarrikadiert hinter seinen heruntergelassenen Rollläden, das, was sie einen „Wahnsinnigen“ nennen; und die Polizei muss ihn schleunigst zur Strecke bringen. Aber in den meisten Fällen sitzen die Riegel des Bewusstseins stabil, und es sind die Körper, die langsam verfaulen.
Den Kundinnen von Doktor Freud hat es in ihrer Kindheit zweifellos nicht an Respektgefehlt, und ohne die erneuerte alte kabbalistische Wissenschaft hätten weder ihre Träume, ihre Lieblingsspiele, ihre Wortschöpfungen, noch der Schrei ihrer Organe einen Schatten auf die häusliche Moral geworfen. Diejenigen, die den Forschern der Umfrageinstitute antworten, haben gleichfalls ein Lächeln auf dem Gesicht und sind voller Schwung; dennoch gestehen sie ihr Gefallen an Gewaltspektakeln ein und fahren ihre Autos viel zu schnell; sie erklären bereitwillig, dass sie sich in ihren Vergnügungen „austoben“, aber nehmen dennoch Schlafmittel. Die Mehrheit von ihnen gibt also an, dass sie „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ mit ihrer Lebenswelt ist. Aber die Mediziner beobachten, dass die Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Todesursache in den Ländern geworden sind, in denen man sich so „austobt“.
In Erwartung der Sirene des Krankenwagens – oder, seltener, der Polizei und ihrer Scharfschützen – interessieren sich unsere „permissiven“ Gesellschaften für die uns bekannten Dämonen, die sie am Leben erhalten. Wut, Neid, Gewalt, die Lust an Eroberung und Verrat lassen sich noch, symbolisch, mittels der Waren befriedigen, zu denen die Werbung zynischerweise auch die Gebrauchsanleitung mitgibt; sie können auch in zahllosen beruflichen Aktivitäten nützlich angewandt werden, die Missbräuche bleiben dabei die Ausnahme.
Die modernen Waren, rein symbolische, sind dennoch nicht dafür gemacht, ihre Versprechen zu halten – wie auch keiner der empfohlenen Berufe. Die ungestillten Leidenschaften gehen also dazu über, ihr eigenes Bild im Theater der Medien zu betrachten, wo Profis ihnen die gewünschte Form verleihen. Manchmal sind das einfache romanhafte Schöpfungen, an ein Publikum angepasst, das diese zu schätzen weiß. Mit mehr Realismus präsentiert man uns auch in der Form der ‚Reportage‘ oder der ‚Neuigkeiten‘ Vorführungen anderer spezialisierter Darsteller – Politiker, Künstler, Sportler, Sozialkritiker oder sogar Journalisten. Die am meisten geschätzten Darstellungen betreffen schließlich reale Ereignisse, eine bombardierte Stadt, ein Sardinenfangzug, die Gefangennahme eines ‚Wahnsinnigen‘, das Leben eines Tausendfüßlers oder den Tod eines Staatschefs. Die Kunst besteht in nichts anderem, als die Bilder angemessen auszuwählen, zusammenzumontieren und zu kommentieren, um den gewünschten künstlerischen Effekt zu erhalten.
Die Künstler-Journalisten bedienen auf diese Weise weit verbreitete Leidenschaften. Aber am künstlerischen Genie haben auch alle teil: Es blüht, so sagt man, auf der erkalteten Asche toter Liebe, und die Künstler-Journalisten müssen nur den eingeschlagenen Weg weiter hinabschreiten. Allerdings träumen die anderen auch und erzeugen sich ihr Kino. Jeder erstellt heimlich seine eigenen Szenarios im schmutzigen Alten Ozean, wo sich seine Unterwassermonster tummeln. Dieselbe Intrige mit denselben Darstellern, aber vor anderem Hintergrund und mit anderen Masken, kann also verschiedene Aspekte annehmen. So kann seine pornographische Form sich stark zum Beispiel von seiner religiösen oder sogar auch seiner politischen Form unterscheiden.
Eine dieser Darbietungen, einst hoch im Kurs stehend, zu einer Zeit, als die Geschichte noch ein mögliches Feld für ersatzbefriedigende Phantasmen war, bestand im Entwickeln von glaubwürdigen Szenarien einer Revolution des Volkes, die ihre Liebhaber genüsslich die Revolution nannten. An der Pforte dieses Theaters gab es echte Hernani-Schlachten, ernste Streitgespräche über die drei Einheiten von Zeit, Ort, Handlung und endlose Auseinandersetzungen über das freie Versmaß. Aber die Entwicklung des Dramas und seine Auflösung vollzogen sich ohne Unterschied mittels eines Wunders. In dieser heroischen Geschichte, in der es an Räubern und Gendarmen nicht mangelte, erschien immer ein Retter, den seine Bewunderer das Proletariat nannten, alle Querelen wurden beiseitegeschoben, um ihm zu applaudieren. Niemand zweifelte damals daran, dass eines Tages seine Rolle von den diszipliniertesten Produzenten des gegenwärtigen Saustalls gespielt werden würde, und so konnten die Gläubigen ruhig schlafen.
Freud hat die – heute natürlich umstrittene – Ansicht geäußert, die Träume seien die Wächter des Schlafs; Debord meinte, eindeutiger: „Das Spektakel ist der schlechte Traum der modernen Gesellschaft in Ketten, das letztlich nur ihren Wunsch zu schlafen ausdrückt“. Wieder andere sagten in einer weniger züchtigen Sprache, dass ein Volk, das masturbiert, ein ruhiges Volk sei. Und, wie wir heute ergänzen können, ‚eher zufrieden‘ mit seiner ‚Lebenswelt‘, deren Verfall ihm nicht einmal mehr verheimlicht wird.
Ein Übermaß an Schlaf ist jedoch nicht gut für die Gesundheit. Vor allem, wenn gerade das Haus abbrennt. So hat man nun also die Frage: Zu anderen Zeiten gab es gefährliche Leidenschaften, heute gibt es diese nicht mehr. Wutausbrüche, Zorn, Begeisterung, Begehrlichkeiten sprudelten aus der Katastrophe des Endes von Zivilisationen regelmäßig hervor und, in Zeiten, in denen der Verstand noch nicht verloren war, waren sie der Gärstoff neuer Strategien, um neue Welten zu errichten.
Was ist aus diesen Leidenschaften geworden, die fähig sind, sich Waffen zu erfinden? Sie haben sich von Trugbildern in die Falle locken lassen, und wir träumen nun von würdelosen Spielen. Aber noch nie haben Zinnsoldaten wirkliche Schlachten gewonnen, und Gummipuppen können das Leben nicht weitergeben, weil sie keines haben. Das Schweigen der Vernunft hat uns also in den Schlaf der Geschichte und an diesen Abgrund geführt. Wir selbst haben uns in Zinnsoldaten verwandelt, unsere schönen Freundinnen in Gummipuppen, und der Garten unserer verlorenen Liebschaften wird von Unrat überschwemmt. Die nichts zu verlieren haben als ihr Leben, ihre Liebe und den Garten ihres Vaters, schauen, nun ganz allein, in die Kristallkugel ihres Fernsehers, wo sie niemals das wiederfinden werden, was sie verloren haben – niemals, außer wenn ein Kinoproletariat kommt, um sie zu retten.
Ganz gewiss, das Proletariat ist keine soziale Klasse. Es ist das Subjekt der Geschichte, das alle existierenden sozialen Klassen und die ganze zu Ende gehende Zivilisation zersetzt. Es ist die lebendeGemeinschaft, in der sich, anfangs ohne Freude, diejenigen erkennen, die nichts zu verlieren haben als ihre „Ketten“. Es ist der Resonanzkörper der Unordnung der Welt.Durch es tritt der Skandal des Lebens immer wieder neu in Erscheinung, und es rettet die Welt, indem es sich selbst rettet.
So kann man, angesichts der Fehlleitung der Leidenschaften, der Fallen, Köder und Trugbilder, sagen, dass es das Proletariat ist, das aus der Welt verschwunden ist. Diejenigen, die dieses Verschwinden als erfreuliche Wirkung der Gesellschaft der Ware angekündigt hatten, hatten nicht gelogen: Auf der glatten Oberfläche der Gegenwart lässt sich nichts von dem mehr finden, was die früheren herrschenden Klassen so sehr beunruhigt hatte.
Man weiß jetzt, wo uns das alles hinbringt: Die gegenwärtige Organisation unserer Gesellschaft, die indiskutabel geworden ist, führt, mit immer höherer Geschwindigkeit, zur tödlichen Vergiftung der Biosphäre, zur Verwüstung der Erde, zu den nächsten Hungersnöten, zu den nächsten Epidemien. In weniger als zehn Jahren werden der WHO zufolge auf den Straßen eines ausgehungerten Afrikas eine Million Aids-Waisen herumirren (Le Généraliste, 21. Oktober 1991). Das ganze Asien, der südamerikanische Kontinent und Europa werden bald folgen.
So zieht sich also das Leben aus der Welt zurück, indem das, was ihr immer wieder Leben eingehaucht hatte, in einen ausgiebigen Schlaf gefallen ist. Die Verfinsterung des Lebens in jedem von uns hat das gründliche Verschwinden des Subjekts der Geschichte und den Zusammenbruch alles Lebens im Allgemeinen mit sich gebracht. Unsere Epoche kann so, zu ihrem Leidwesen, die vormals erkannte perfekte Identität zwischen dem individuellen Subjekt, dem Subjekt der Geschichte und dem Subjekt der Welt bestätigen.
Übersetzung: Bernd Volkert et al.