Nummer 46 Dietrich Brüggemann SIE SAGEN ES WIRKLICH

Auweia, dachte Leonie, sie sagen es wirklich.

Erst am Vorabend war sie mit Henrike und ein paar von Henrikes Freunden zusammengesessen, das Gespräch wär natürlich irgendwann bei der Deutschen Bahn gelandet, wo sollte es kurz vor Weihnachten auch sonst landen, man hatte die üblichen Bahn-Themen abgehandelt, also ausgefallene Toiletten, kaputte Klimaanlagen und epochale Verspätungen, und dann hatte Henrike gesagt: “Außerdem sagen sie immer Ordnungsnummer. Im Wagen mit der Ordnungsnummer sieben. So als gäbe es einen Unterschied zwischen einer Ordnungsnummer und einer ganz normalen Nummer.”

Leonie hatte dagegengehalten. Das hatte sie noch nie gehört. Das war Bahn-Folklore. Doch jetzt saß sie hier im ICE von Berlin nach Bonn, den sie in Köln verlassen würde, um in die S-Bahn nach Bergisch Gladbach zu steigen, und soeben hatte die Stimme im Lautsprecher verkündet, dass das Bordrestaurant im Wagen mit der Ordnungsnummer sechs zu finden war.

Der Zug setzte sich in Bewegung und fuhr aus dem tiefen Teil des Berliner Hauptbahnhofs in den Tunnel, und Leonie griff zu ihrem Handy, um Henrike zu schreiben und ihre Niederlage einzugestehen. Auf ihrem Handy war X (vormals Twitter) geöffnet, die App aktualisierte sich und jemand hatte einen Artikel gepostet:

Was tun, wenn der Onkel Verschwörungsmythen erzählt? Wie Sie über die Feiertage mit abgedrifteten Familienmitgliedern reden können

Leonie clickte den Link an und las die ersten Zeilen. Dann wischte sie von der X-vormals-Twitter App zu WhatsApp und schrieb an Henrike: Du hattest recht. Sie sagen wirklich “Ordnungsnummer”.

Der Zug fuhr ohne Halt durch den Regionalbahnhof Potsdamer Platz und Leonie vertiefte sich in den Text mit dem abgedrifteten Onkel.

Zur gleichen Zeit hätte der Zug, in dem Torben saß, laut Fahrplan den Stuttgarter Hauptbahnhof bereits verlassen haben müssen. Er stand aber noch am Gleis, weil das Personal, das den Zug hier übernehmen sollte, selber in einem verspäteten Zug saß. Torben nahm das Handy und schrieb an seine Schwester Leonie: Sitze derzeit noch in Stuttgart fest. Anschluß in Frankfurt unsicher. Wird vielleicht später.

Leonie antwortete postwendend: Bin auch noch im Zug, schreib das mal Mama, die wollte uns abholen.

Torben antwortete: Ok.

Dann zog er das Buch aus dem Rucksack, das Emma ihm geschenkt hatte. Es hieß Letter To A Writer”, war 784 Seiten stark und stammte von einer amerikanischen Autorin mit afrikanisch-koreanisch-israelischen Wurzeln, die bei Pflegeeltern in Oklahoma aufgewachsen war und den schmerzhaften Prozess der Ablösung von ihren Pflegeeltern und der Selbstfindung ihrer Identität als Schriftstellerin beschrieb. Er las drei Sätze, dann legte er das Buch wieder weg, nahm sein Handy wieder heraus und öffnete in automatisierter Beiläufigkeit Instagram. Ein entfernter Bekannter hatte einen Artikel gepostet, den er in einer Regionalzeitung geschrieben hatte. Die Überschrift lautete: Corona, Chemtrails & Co: Wenn Verwandte sich in den dunklen Ecken des Internets verlaufen haben. Ein Erste-Hilfe-Ratgeber für die Weihnachstage. Link in Bio.

Torben dachte nach. Hatte er abgedriftete Verwandtschaft? Seine Mutter hatte kürzlich am Telefon angedeutet, dass sein Vater bei der Tagessschau immer halblaut in sich hineingrummelte, wenn vom Ukraine-Krieg die Rede war, der demnächst ins dritte Jahr ging. Und Leonies Exfreund Martin hatte sich in der Pandemie radikalisiert und dabei bedauerlich wenig Berührungsängste zum rechten Rand gezeigt. Zumindest hatte man davon gehört. Mit eigenen Augen gesehen hatte Torben nur ein Facebook-Posting, in dem Martin einen Lockdown-kritischen Artikel verlinkte und dazuschrieb, Deutschland sei ja offensichtlich weitgehend durchgeknallt. Leonie war sechs Jahre mit Martin zusammengewesen. 2018 und 2019 hatte sie ihn an Weihnachten zu den Eltern mitgebracht, und Torben hatte sich ganz gut mit ihm verstanden, wobei allerdings Martin den deutlich größeren Anteil an der Redezeit gehabt hatte. Im Februar 2020, als man schon besorgniserregende Nachrichten von einem Virenausbruch in China lesen konnte, war es mit Leonie und Martin auseinandergegangen, Torben wußte aber nicht genau, wer Schluß gemacht hatte, denn er hatte mit seiner Schwester außer an Weihnachten wenig zu tun. Er nahm das Buch wieder zur Hand, las drei Sätze, las dann den ersten Satz nochmal, kannte ein Wort nicht, griff zum Handy, um nachzuschlagen, und las dann den Erste-Hilfe-Ratgeber über Weihnachten mit der abgedrifteten Verwandtschaft.

Brigitte fuhr das Auto vom Parkplatz des Supermarkts, setzte den Blinker, bog auf die Hauptstraße, dann nach einem halben Kilometer auf die Umgehungsstraße und dann beim ersten Abzweig links in die Siedlung. Sie kannte die Strecke blind, sie fuhr sie seit vierzig Jahren. Der Supermarkt war früher in der Stadt gewesen, dann hatte er zugemacht und ein neuer Gewerbepark war gebaut worden, wo rund um einen großen Parkplatz die Firmen Aldi, Rewe, KiK, Deichmann, Rossmann und Getränke Hoffmann jeweils ihre Läden hatten. Jedesmal, wenn sie hier war, fühlte sie sich an den Abgrund an Depression erinnert, der sich eine Zeitlang vor ihr aufgetan hatte, als Torben und Leonie kurz nacheinander ausgezogen waren und ihr ganzes Leben sich anfühlte wie eine endlose und sinnlose Reihe von staubgrauen Tagen und bleigrauen Nächten.

Sie hielt an einer roten Ampel und warf einen Blick auf die Zeitung, die auf dem Beifahrersitz lag. Sie hatten 35 Jahre lang die regionale Zeitung abonniert gehabt, aber als vor zwei Jahren im Politikteil ein Artikel mit der Überschrift Putin – wie Hitler oder schlimmer? zu lesen war, hatte Norbert die Augen verdreht und das Abo gekündigt und jetzt kaufte Brigitte manchmal die Wochenendausgabe. Auf der Titelseite war ein Hinweis auf einen Beitrag im Gesellschaftsteil: Zoff unterm Weihnachtsbaum – so halten Sie dagegen, wenn der rassistische Onkel und die Querdenker-Tante loslegen.

Jemand hupte hinter ihr. Brigitte fuhr los. Sie konnte sich nicht mit der Idee anfreunden, dass man an Weihnachten gegen irgendetwas dagegenhalten sollte. Bei Familienzusammenkünften redete jeder irgendwas, am ehesten über Verwandtschaft und die Absurditäten des Alltags, ab und zu ging jemand in die Küche oder aufs Klo und wenn man zurückkam, war das Gespräch meistens schon ganz woanders hingewandert.

Ihr Handy vibrierte. Leonie schrieb: 35 Minuten Verspätung. Brigitte sah auf die Uhr und überlegte, ob sie schnell die Einkäufe zuhause abladen sollte oder zum Bahnnhof fahren und dort auf Leonie warten, und was für einen Sinn das eigentlich hätte, die Einkäufe vorher abzuladen. Hatte sie verderbliche Sachen gekauft, die sofort ins Gefrierfach mußten? Allenfalls die Leberpastete, aber die würde auch eine halbe Stunde mehr im Kofferraum überleben. Im Sommer 2001 hatten sie in Kroatien Meeresfrüchte gegessen, die anscheinend schon zu lang aufgetaut gewesen waren und das Resultat war ein Magen-Darm-Terror gewesen, der die ganze Familie neun Tage lang an die Toilette fesselte, nur nicht Leonie, die ernährte sich damals schon vegetarisch.

Norbert schleifte den Baum über die Terrasse ins Wohnzimmer, wuchtete ihn in den Christbaumständer, richtete ihn halbwegs gerade und trat dann so lange auf den Fußhebel des Ständers, bis der Baum fest stand. Dann nahm er eine Schere und schnitt das weiße Kunststoffnetz auf, das den Baum zu einer handlichen Spindel zusammenhielt und zog es nach oben ab. Die Äste des Baums federten nach unten. Torben war als kleiner Junge fasziniert gewesen von den großen Blechtrichtern, in die die Weihnachtsbaumverkäufer die Bäume hineinschoben und aus denen sie am anderen Ende in Netze verpackt wieder herauskamen. In den Jahren seitdem hatte sich unendlich viel auf der Welt geändert, aber Weihnachtsbäume wurden immer noch auf genau diese Weise verkauft und verpackt. Norbert holte einen Handfeger, kehrte die herabgefallenen Nadeln zusammen, knüllte das Netz zu einem Knäuel zusammen, ging in die Küche und warf alles in den Müll. Dann ging er hinab in den Keller, um den Karton mit dem Weihnachtsschmuck zu holen. Das Schmücken des Baums war Sache der Kinder. Ganz früher, als die beiden klein waren, hatte er es mit ihnen gemeinsam gemacht, aber als Leoni sieben oder acht war, hatte sie sehr bestimmt das Kommando an sich gezogen und seitdem führte sie das Regiment.

Er stellte den Karton ab, öffnete ihn und warf einen Blick hinein. Obenauf lag ein Gegenstand, der in ein Stück Zeitung vom vorigen Jahr eingewickelt war und darauf stand eine Überschrift: Hilfe, mein Papa ist Putin-Fan! Was Sie tun können, wenn die Schwurbler-Verwandtschaft zu Besuch kommt.

Norbert wickelte den Gegenstand vorsichtig aus. Es war eine große, golden glänzende Kugel, auf der in prächtigen Farben eine Weihnachtsszene gemalt war: Der Stall mit Maria, Josef und der Krippe, daneben Ochs und Esel und darüber ein prächtiger Komet. Sie hatten diese Kugel irgendwann in den 80ern auf einem Weihnachtsmarkt in Oberbayern gekauft und sie hatte all die Jahre heil überstanden.

Die Lichterkette blinkte in fünf verschiedenen Farben, leuchtete dann dreimal hellweiß auf, wurde dann kurz dunkel, dann liefen blaue Punkte an der Kette entlang, um sich dann nach Grün und dann nach Rot zu verfärben. Dann ging das Spektakel wieder von vorn los. Das ganze Nachbarhaus blinkte und leuchtete, und die beiden Bäume, die vor dem Haus auf dem Rasen standen, leuchteten ebenfalls.

“Boah”, sagte Torben und sah aus dem Fenster, “ich würde durchdrehen”.

“Das war letztes Jahr schlimmer”, erwiderte Norbert, “anscheinend wollen sie jetzt doch mal Strom sparen.”

“Und wir konnten sie dazu bringen, dass sie den Baum direkt vor unserem Wohnzimmerfenster diesmal nicht beleuchten”, setzte Brigitte hinzu.

“Diese ganze Lightshow finde ich angesichts der politischen Lage eh schwierig”, sagte Leonie,

“ist ja nicht mehr so, dass wir einfach ohne Ende Energie hätten. In Berlin gab’s zum Beispiel dieses Jahr auch keine Lichterketten unter den Linden.”

“In den Linden”, erwiderte Norbert.

“Was?”

In den Linden. Die Lichterketten waren ja sonst auch nicht unter, sondern in den Linden.”

“Ach so. Ja. Papa.”

“Präzision ist wichtig.”

Es war der 24. Dezember, kurz nach halb fünf, draußen war es bereits dunkel, nur das Haus nebenan blinkte wie ein Vergnügungsdampfer. Früher hatte dort Familie Baumgärtner gewohnt, deren Kinder ein paar Jahre älter waren als Torben und Leonie, dann war Herr Baumgärtner gestorben, seine Frau war ins Seniorenheim gezogen und das Haus war verkauft worden an eine Familie, deren Kinder Kayleigh und Josybelle hießen. Jetzt war vor dem Haus ein riesengroßer amerikanischer Pick-Up-Truck geparkt, Marke Dodge Ram, dahinter stand eine pompös ausladender, zehn Meter langer Wohnwagen und das ganze Haus war in eine grell blinkende Lichskulptur verwandelt worden.

Norbert, Brigitte, Leonie und Torben saßen am Eßtisch, es gab die traditionellen Würstchen mit Kartoffelsalat, für Leonie die vegane Variante, nebenan im Wohnzimmer stand der Baum, den Leonie so penibel geschmückt hatte wie jedes Jahr, nach dem Essen würde Norbert die Kerzen am Baum entzünden, dann wäre Bescherung und danach gab es den traditionellen gespickten Rinder-Rollbraten, für den Leonie sonst immer eine Ausnahme vom Veganismus gemacht hatte, nur in den letzten beiden Jahren nicht mehr, was ihre Mutter ein wenig betrübt hatte.

“Willst du nicht dieses Jahr doch was von dem Braten? Der ist diesmal besonders gut”, sagte Brigitte.

“Mama, unser Fleischkonsum ist ganz oben auf der Liste der Sachen, die wir als Gesellschaft ändern müssen. Und das weißt du eigentlich auch.”

“Ist ja gut, ich mein ja nur. Ich bin ja schon froh, dass wir endlich wieder alle einfach so zusammenkommen können, ohne uns dauernd zu testen.”

“Das war aber genau richtig”, warf Torben ein. “Nur durch diese konsequente Disziplin sind wir als Gesellschaft gut durch die Pandemie gekommen.”

“Genau”, ergänzte Leonie, “und es hätte sogar noch besser funktioniert, wenn nicht ein paar asoziale Vollidioten ihren Egoismus rücksichtslos ausgelebt hätten.”

Norbert nickte. “Sehr wahr. Diese Weihnachtsbeleuchtungsfamilie von nebenan, die hatten mit ihrem Josybelle-Kayleigh-Nachwuchs im April 2020, also mitten im Lockdown, nicht besseres zu tun, als einen illegalen Kindergeburtstag zu feiern. Wir haben natürlich sofort die Polizei geholt.”

“Ja”, seufzte Brigitte, “schrecklich, dieser Rechtsruck.”

“Und dann”, setzte Norbert hinzu, “dann konnte man nach zwei Jahren Pandemie gerade mal wieder durchatmen und auf ein bißchen Normalität hoffen, aber dann mußte ja Putin, dieser Verbrecher, seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaun brechen.”

“Genau”, sagte Brigitte, “dieser widerwärtige Macker mit seinem Kleiner-Mann-Komplex. Abscheulich.”

Leonie schaute irritiert von ihrem Vater zu ihrer Mutter. “Ich dachte, ihr wärt da etwas, äh, zwiegespaltener?” Sie warf einen Seitenblick zu Torben.

“Wir wollten das Thema ehrlich gesagt vermeiden”, murmelte Torben.

“Nein, Schatz, da täuschst du dich. Dein Vater und ich verurteilen den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg aufs Schärfste. Außerdem wollen wir einfach ein harmonisches Weihnachtsfest mit unseren Kindern feiern. Das muß doch beides möglich sein.”

“Noch”, sagte Norbert, “wenn der Klimawandel so weitergeht, dann bald nicht mehr.”

“Ja”, pflichtete Leonie bei, “das sieht wirklich nicht so gut aus.”

Torben hielt inne. “Aber, äh, Weihnachten kann man doch bei jedem Klima feiern. Sogar wenn es theoretisch knallheiß wäre, könnte man immer noch Weihnachten feiern.”

“Nicht, wenn der Meeresspiegel steigt und wir hier unter Wasser sitzen.”

“Bergisch Gladbach liegt 100 Meter über dem Meeresspiegel. So hoch steigt das Wasser auf keinen Fall.”

Leonie ließ den Löffel sinken und sah ihren Bruder an. “Ich bin fassungslos. Willst du damit vielleicht sagen, dass das mit dem menschengemachten Klimawandel gar nicht so schlimm ist?”

“Oder dass er vielleicht gar nicht menschengemacht ist, der Klimawandel?” legte Norbert in schneidendem Tonfall nach.

“Auf keinen Fall”, sagte Torben und verschluckte sich fast, “der menschengemachte Klimawandel hat den Spitzenplatz unter den Top Five der drängendsten Probleme. Wir müssen unseren CO2- Ausstoß in einem Ausmaß reduzieren, das wir uns noch gar nicht vorstellen können, sonst haben wir als Menschheit keine Chance.”

“Gut”, sagte Norbert und goß sich noch einen Schluck Wein ein, “dann hätten wir das ja geklärt. Bin sehr froh, dass wenigstens in unserer Familie keine Schwurbler sind. Da würde ich auch klar dagegenhalten. Bei sowas ist mir der weihnachtliche Familienfrieden im Zweifelsfall egal. In meinem Haus ist kein Zentimeter Platz für Verschwörungsmythen, Geschwurbel und Antisemitismus.”

“Kein Millimeter”, korrigiert Brigitte.

“Richtig. Schon ein halber Zentimeter wäre zuviel. Null Toleranz lautet die Devise.”

Einen Moment herrschte Schweigen. Leonie und Torben horchten den Worten ihrer Eltern nach. Dann deutete Torben nach draußen. Vor dem Fenster tanzten weiße Flocken.

“Guckt mal.”

“Ach, wie schön”, seufzte Brigitte.

“Aber dass mir da jetzt bitte niemand ankommt und erzählt, dann könne das mit dem Klimawandel ja wohl halb so wild sein, nur weil es gerade mal schneit”, erwiderte Norbert.

“Bleibt sowieso nicht liegen”, bemerkte Brigtte, “und das liegt am menschengemachten Klimawandel.”

Alle schauten nach draußen ins Schneegestöber. Die Flocken waren groß wie Schmetterlinge.

“Die Suppe schmeckt gut”, sagte Leonie.

“Will noch jemand?” fragte Brigitte.

“Nein danke. Gibt ja nachher noch was.”

“Zum Nachtisch vielleicht ein paar Lebkuchen?” fragte Norbert.

“Lebkuchen”, sagte Leonie, “sind auch irre teuer geworden. Neulich wollte ich welche kaufen, aber acht Euro neunzig für sone Dreierpackung war mir dann echt zu dolle.”

“Oha”, erwiderte Norbert, “da würde ich gern einhaken. Bei solchen Äußerungen sehe ich die Gefahr einer problematischen Nähe zum Rechtspopulismus. Von Klagen über teure Lebensmittelpreise ist es doch nur ein kleiner Schritt zu Klischees vom kapitalistischen Großunternehmer, der das ehrliche Volk bis auf den letzten Pfennig ausquetscht, und da sind wir schon voll im antisemitischen Fahrwasser.”

“Total”, pflichtete Torben bei, “also versteh das nicht falsch, das geht jetzt nicht gegen dich, aber da müssen wir alle aufpassen.”

“Ihr habt recht”, erwiderte Leonie, “und es ist gut, dass ihr mich darauf hinweist. Für Antisemitismus gibt es auch bei mir keinerlei Toleranz, und wenn eine gedankenlose Äußerung meinerseits als antisemitisch mißverstanden werden kann, dann nehme ich das als Warnung, dass wir alle immer noch tief in antisemitischen und rassistischen Denkmustern verstrickt sind, die wir nicht ohne weiteres loswerden, das fordert permanente harte Arbeit, aber ich freue mich über den Support, den ich von meiner Familie habe. Ohne euch wäre ich manchmal ziemlich lost. Deswegen: Hey, auf uns!”

Sie hob ihr Glas, und alle stießen an.

“Nicht über Kreuz!”, rief Torben.

Brigitte stand auf, ging in die Küche und kam mit einer Dose Lebkuchen wieder. Norbert nahm einen Lebkuchen mit Schokoladenüberzug aus der Dose, griff nach dem darunterliegenden, der mit Zuckerüberzug war, legte den Schokoladenlebkuchen zurück in die Dose, biß in den Zuckerlebkuchen und sprach: “Meine Gedanken sind außerdem zu dieser Stunde voll und ganz beim jüdischen Volk, das derzeit durch seine schwerste Stunde geht. Und ich bin entsetzt über die Welle an üblem Antisemitismus, der sich derzeit auf den Straßen der ganzen westlichen Welt zeigt.”

Torben ließ sein Glas sinken. Leonie hielt den Atem an. Einen Moment war Stille.

“Ich glaube”, sagte Torben dann, “das ist kompliziert.”

“Was genau ist da bitteschön kompliziert?” fragte Brigitte, und ihr Tonfall wurde so schneidend, wie Torben es zum letzten Mal gehört hatte, als er mit sieben Jahren sämtliche Rosen in ihrem über alles geliebten Rosenbeet geköpft hatte.

“Na ja. Also, das ist ja nun schon so, dass die Palästinenser 1948 von ihrem Land vertrieben…” Seine Stimme verebbte.

Leonie schaute von einem zum anderen.

“Israel”, setzte sie vorsichtig an, “hat ja nun innenpolitisch, also im Umgang mit den Arabern und der Siedlerbewegung, schon so gewisse Tendenzen und auch was die Hardliner an der Regierung anbelangt und die ganze Ideologie, die den Alltag durchdringt und, also, wie soll ich das jetzt sagen, das sind schon zumindest Ansätze zu so einem gewissen, ähm…”

“Apartheidssystem?” fragte Norbert mit eisiger Kälte in der Stimme, “und lass mich raten, der Gaza-Streifen ist ein Open-Air-Konzentrationslager, in dem ein fortwährender Genozid verübt wird, weswegen die Bevölkerung dort sich übrigens alle 15 Jahre verdoppelt? Möchtest du uns das mitteilen, Leonie?”

Seine Stimme war laut geworden und Leonie mußte schlucken. Sie spürte, wie ihre Unterlippe zitterte und sie spürte zu ihrem eigenen Erstaunen, wie Tränen in ihr aufstiegen. Sie hatte ihren Vater noch nie so erlebt und sein Tonfall traf sie mit einer Heftigkeit, die sie selbst verwunderte.

“Ich weiß es doch auch nicht”, schluchzte sie.

Brigitte runzelte sorgenvoll die Stirn und sagte: “Sei doch nicht so hart mit ihr.”

“Verzeihung”, erwiderte Norbert, “du hast recht, Liebling, aber wenn ich mit Antisemitismus konfrontiert werde, dann brennen mir nun mal Sicherungen durch, da muß ich klare Kante zeigen und da möchte ich mich ehrlich gesagt auch nicht für entschuldigen müssen. Gerade noch hat sie verkündet, dass sie ihre eigene Verstrickung in antisemitische Diskurse besser reflektieren will und dann passiert ihr so etwas.”

“Nein, Mama”, wimmerte Leonie, “Papa hat total recht, und ich schäme mich.”

“Na dann. Prost.”

Es tat einen dumpfen Schlag und alle vier zuckten zusammen. Ein Schneeball hatte das Fenster getroffen. Norbert atmete tief ein, dann sprang er plötzlich so heftig auf, dass sein Stuhl nach hinten umfiel, riß das Fenster auf und brüllte hinaus: “Paßt gefälligst auf, wo ihr eure Schneebälle hinwerft, ihr Drecksbälger, sonst komm ich raus und polier euch die Fresse, und dann könnt ihr Weihnachten auf der Unfallchirurgie feiern!”

Er knallte das Fenster zu, stellte seinen Stuhl wieder auf die Beine, setzte sich hin und biß in seinen Lebkuchen. Dann bemerkte er, dass die anderen drei ihn sprachlos anschauten.

“Keinen Fußbreit den Rechten”, sagte er kauend.

“Was denn für Rechte?” fragte Torben.

“Na die Nachbarn. Dass wir es da mit stramm rechter AfD-Klientel zu tun haben, das sieht man ja schon am Auto oder spätestens an der Weihnachtsdeko.”

“Mitten im Lockdown Kindergeburtstag feiern”, setzte Brigitte hinzu, “das ist ist so rücksichtslos egoistisch, das geht so über Leichen, für mich ist das rechts.”

Torben runzelte die Stirn.

“Ja, also, ähm…”

“Torben? Willst du uns erzählen, das mit den Rechten sei gar nicht so wild?”

Torben schluckte. Dann stand er auf. “Mama, Papa, sorry, aber für mich ist jetzt ein Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr mitgehen kann. Spielende Kinder aus dem Fenster anbrüllen und drohen, sie ins Krankenhaus zu prügeln, ist eine Sache, aber euer völlig unreflektiertes Feiern des Massakers, das Israel derzeit im Gaza Streifen anrichtet, finde ich ehrlich gesagt unerträglich. Ich glaube, ich möchte dieses Jahr nicht mit euch Weihnachten feiern.”

Norbert sah ihn starr an und in seinen Augen funkelte es. Langsam erhob er sich von seinem Stuhl und biß dabei ein weiteres Mal in den Lebkuchen.

“Sehr gut”, sagte er kauend und seine Stimme klang wie ein knurrender Hund, “geht mir ganz genau so. Ich hab so gründlich die Schnauze voll. Ständig wird man von links und rechts und vorn und hinten angeschrieen, was man denken und sagen und tun und lassen soll. Zu jedem Thema zwei oder drei oder zehn PR-Schreihälse, die dir von allen Seiten in beide Ohren trompeten, was du gefälligst zu meinen hast. Ich hab die Schnauze so gestrichen voll, ich kann’s euch gar nicht sagen. Das ganze Drecks-Rußland-Kack-Ukraine-Blödsinns-Israel-Corona-Trans-Gender-Klima-CO2-Horror-Theater. Ich will nur noch kotzen.”

Brigitte und Leonie schauten auf die beiden Männer, die sich jetzt reglos gegenüberstanden.

Torben atmete schwer und schluckte.

“Also, wenn ich ehrlich bin”, sagte er, “dann bin ich mir mit dem Klima auch nicht mehr so sicher. Auf Twitter wurde mir letztens was angezeigt, da meinte jemand, mit all dem Aufwand sparen wir bis 2030 soviel CO2 ein, wie China an einem Tag ausstößt. Ich hab das sofort weggeclickt, weil ich rechtem Content keinen Raum bieten möchte, aber seitdem geht mir das nicht aus dem Kopf und ich wollte die ganze Zeit nachrecherchieren, ob das wirklich stimmt.”

“Aber das ist doch auch gut”, murmelte Leonie, “besser als nichts, jeder Schritt zählt, Hauptsache weniger CO2, wir müssen das Klima retten, das 2-Grad-Ziel wackelt sowieso schon, 97% der Wissenschaftler*innen sind sich einig.”

Norbert haute auf den Tisch, dass die Gläser klirrten.

“Ist das dein Ernst?” fuhr er Leonie an und seine Stimme klang wie ein bellender Hund.

“Nein”, murmelte Leonie, “ich dachte, ich muß das jetzt sagen.”

“Ich räum mal ab”, sagte Brigitte, stapelte die vier Suppenteller aufeinander und trug sie in die Küche. Dann kam sie wieder und griff nach Leonies Glas, in dem noch ein Rest Wein war.

“Trinkst du das noch?” fragte sie.

“Ja”, erwiderte Leonie, “warte kurz”. Sie leerte das Glas auf einen Zug, und dann warf sie es mit Schwung hinter sich, wo es an der Wand zerschellte und in Scherben zu Boden fiel. Dann sagte sie:

“So. Und jetzt zwei Sachen. Erstens, Papa: Wenn du mich jemals wieder in diesem Tonfall anpflaumst, du toxischer alter weißer Mann, dann knall ich dir eine. Kann ich eigentlich auch jetzt gleich machen. Paß auf.”

Sie ging halb um den Tisch herum, holte aus und verabreichte ihrem Vater mit erstaunlicher Treffsicherheit eine schallende Ohrfeige.

“Ha!” schrie Norbert, “das lob ich mir! Und was ist die zweite Sache?”

Leonie griff zur Weinflasche und sah sich suchend um. “Wo ist denn mein Glas?”

“Das hast du gerade zerschmissen”, sagte Torben.

“Ah ja.”. Sie setzte die Flasche an den Mund und nahm einen Schluck. Dann sagte sie:

“So, Leute. Haltet euch fest. Ich hab brav alles mitgemacht und immer gelikt, wenn meine Freunde auf Facebook die Ungeimpften beschimpft haben, aber eigentlich fand ich die Corona-Maßnahmen auch völlig bekloppt. Das war doch von Anfang an eine komplett hirnrissige Idee, ein Virus zu stoppen, indem wir alle Leute zuhause einsperren. Konnte man doch mit zehn Sekunden Nachdenken selber feststellen.”

“Sollte man meinen”, sagte Brigitte, “aber alle haben sich in Faschos verwandelt und wer nicht mitgemacht hat, wurde als asozialer menschenfeindlicher Trottel zum Abschuß freigegeben.”

“Genau”, brüllte Norbert, “aber Gastwirte und Theaterleute und Musiker bringt man um ihren Lebensunterhalt! Wer hat unseren Politikern eigentlich ins Hirn geschissen!”

“Und nicht nur unseren”, brüllte Torben dagegen, “das war doch eine völlig irre weltweite totalitäre Machtübernahme mit martialisch gepanzerten Robocops, die jeden einfangen, der fünf Minuten zu lang seinen Hund ausführt und von ihren Motorrädern runter Leute anbrüllen, die mit ihrem Kind allein am Strand spazierengehen! Freunde von mir waren in der Zeit in Spanien und saßen dreieinhalb Monate in ihrer Wohnung fest! Ein menschenverachtender Irrsinn war das! Das Kind von Kathrin und Stefan verkriecht sich heute noch heulend unterm Bett, wenn es eine Polizeiuniform sieht! Die sind aus Spanien abgehauen, sobald sie konnten und werden nie wieder einen Fuß in dieses Land setzen! Gleich zwei Freunde von mir sind gleich am Anfang nach Schweden und ich wünschte, ich wär mitgegangen!”

“Aber dann, als das ganze schließlich in sich zusammenfällt, ist auf einmal Krieg”, brüllte Leonie, “weil die Nato beschlossen hat, dass wir aus irgendeinem Grund Russland jede Menge Atomraketen vor die Nase stellen müssen und dann müssen hunderttausende junge Ukrainer sich sinnlos abschlachten lassen im Kampf gegen einen Feind, gegen den man von vornherein nicht gewinnen kann. Aber scheißegal, Hauptsache die Rüstungsindustrie verdient Milliarden!”

Ein zweiter Schneeball donnerte gegen die Scheibe, und diesmal entstand mit einem scharfen Knacksen ein Riß im Glas.

“Los”, brüllte Norbert, “wir machen sie fertig! Raus! Jetzt! Schnell!”

Alle vier stürmten in die Garderobe, zogen sich in fliegender Hast Schuhe und Jacken an und rannten hinaus ins Schneegestöber, wo Kayleigh und Josybelle und ihr Vater, ein untersetzter kahlköpfiger Mittdreißiger in Tarnhosen und Tarnjacke, einander mit Schnebällen bewarfen. Norbert nahm Anlauf, stürzte sich mit Gebrüll auf den Vater und warf ihn rücklings in den Schnee. Torben bückte sich und warf der achtjährigen Josybelle eine Armvoll Schnee ins Gesicht und Leonie formte einen harten, kleinen Schneeball und warf ihn überraschend präzise nach dem siebenjährigen Kayleigh, der heulend zu Boden ging. Dann traf sie ein Schlag und sie fiel selbst in den Schnee.

Der Rest war ein Knäuel aus Leibern, Schnee, Geschrei und Schlägen. Torben spürte den Geschmack von Blut auf der Zunge, dann traf ihn eine Schneelawine, eine Hand packte ihn, er griff nach der Hand und verdrehte den Daumen, ein Schrei erklang, dann stand auf einmal sein Vater über ihm, zog ihn in die Höhe und stürzte sich mit ihm wieder in den Kampf.

Leonies Erinnerung setzte aus und das nächste, was sie wußte, geschah eine halbe oder ganze oder drei Stunden später. Norbert hatte eine Platzwunde im Gesicht, Torben blutete aus einem Schnitt an der Stirn, sie selbst hatte Schrammen und Kratzer und ein schmerzendes Handgelenk. Sie hatten ihre Blessuren notdürfitg mit Hansaplast verbunden und jetzt feierten sie Bescherung. Am Weihnachtsbaum brannten die Kerzen, es waren wie jedes Jahr echte Kerzen, keine elektrischen, und sie überreichten einander ihre Geschenke. Torben schenkte seinem Vater ein Buch über eine abenteuerliche Reise mit einem auf Elektroantrieb umgerüsteten Wohmmobil, die ein Freund von ihm mit seiner Partnerin unternommen, auf Instagram dokumentiert und schlußendlich ein Buch darüber geschrieben hatte, und seiner Mutter ein Buch namens “Die Klugheit der Schildkröte” mit Erinnerungen von Frauen aus der ersten Gastarbeiter-Generation. Leonie schenkte ihren Eltern Gutscheine für eine Therme in Solingen, die bei Tripadvisor deutschlandweit die besten Bewertungen hatte und ein Buch, das von einer Initiative herausgegeben worden war, die sich gegen versteckten Zucker in Lebensmitteln einsetzte und für die eine ihrer Freundinnen mit wenig Geld und viel Idealismus als Social-Media-Redakteurin tätig war. Torben bekam von seinen Eltern das Buch namens “Letter To A Writer”, das er schon im Zug gelesen hatte, allerdings in deutscher Übersetzung, und einen Pullover. Leonie bekam von ihren Eltern einen Sammelband mit Essays namens “Weiße Scheiße – queere Frauen*stimmen zu Rassismus in der Pandemie”, das sie sich gewünscht hatte, und ebenfalls einen Pullover. Leonie schenkte Torben eine Flasche edles Olivenöl von einer kroatischen Insel, wo Freunde von ihr ein Haus hatten, und drei Gläser Pesto mit unterschiedlichen Geschmacksrichtungen aus einer Manufaktur in Franken, die sie auf einem Berliner Designerweihnachtsmarkt gekauft hatte. Torben schenkte Leonie ein Buch namens “Der Klima-Knigge – 99 Dinge, die Sie jetzt tun können, um mit ihren CO2-Fußabdruck kli-kla-klitzeklein zu machen” und ein Kartenspiel namens “Wir retten den Planeten”, das man allein oder mit bis zu sechs Leuten spielen konnte.

“Danke, Mama und Papa”, sagte Leonie, als sie alles ausgepackt hatten “Danke, das war das schönste Weihnachten seit langer Zeit.”