In ihrem Kommentar zum Beitrag „Vergeudung“ hat DIE AKTION-Autorin Hanna Mittelstädt die Frage nach der Rache aufgeworfen und damit die Debatte über das „Konspirationistische Manifest“ auf diesem Blog eröffnet.
Hanna schreibt: „Ich glaube übrigens, dass Rache trotz allem kein guter Ansatz ist. Leider ist das ein Relikt der „Kriegerkultur“. Ich glaube, die Richtung wäre Versöhnung, im Sinne einer Konsenskultur, Entwurf von Möglichkeitsräumen, sich Zuhören etc. Ich möchte mich nicht auf den Rachefeldzug begeben und ich glaube auch nicht, dass er „zielführend“ ist. Ich verurteile keine Gewalt im Sinne der herrschenden Gesellschaft, aber ich denke, dass wesentlicher, gerade für uns, die wir so viel wissen und so „privilegiert” sind, die Arbeit an einer Konsenskultur ist, auf allen Ebenen … in aller Klarheit … mit aller Entschiedenheit …
Vielleicht könnten wir über die Rache debattieren?“
Janneke, Herausgeberin der AKTION, antwortet ihr:
„wir sollten zuallererst fragen, was genau mit „rache“ gemeint ist. es geht doch wohl nicht um das blindwütige abschlachten im zorn!
ich verstehe die autoren des „konspirationistischen manifestes“ folgendermassen: diejenigen politiker und unternehmen, deren erklärtes ziel es ist, uns auszubeuten und die dafür bereit sind, alle möglichen brutalitäten zu begehen, fordern die unterdrückten und ausgebeuteten im namen der christlichen metaphern dazu auf, versöhnlich zu sein und verzicht zu üben (sic!)
das heisst: sich alles gefallen zu lassen, statt eine gerechte rache zu üben. sie sollen sich also gegen die ungerechten verhältnisse nicht auflehnen.
genau die leute, die solche forderungen aufstellen, verhalten sich selbst allerdings absolut unchristlich und nehmen auf nichts rücksicht: weder auf menschen, noch auf natur oder moral.
das findet sich derzeit besonders deutlich wieder in der aktuellen umkehrung aller tatsachen.
die verkehrte welt, die wir gerade durchleben, zeigt täglich diesen widerspruch:
wir sollen auf wasser verzichten, sollen uns für andere impfen lassen, sollen sparen, frieren, hungern, und – übrigens im namen des krieges und der rache an russland – mehr geld für gas bezahlen, damit die konzerne es leichter haben in dieser schwierigen weltsituation.
zurück zur rache. der wille zu rächen entsteht ja nicht ohne eine vorgeschichte.
eigentlich sollten wir – allein schon, um überleben zu können – beginnen, rache zu üben für all die zumutungen, mit denen wir in unserem leben ununterbrochen traktiert werden.
stattdessen werden wir in der tradition unserer angeblich christlichen gesellschaft und von eben jenen „herrschaften“, die eine besonders blutige form von rache in der geschichte definiert und etabliert haben mit ihren kreuzzügen und imperialistischen angriffskriegen, ständig dazu aufgefordert, den frieden zu bewahren und versöhnung zu üben.
wie aber könnte eine solche rache nun aussehen, ohne eine kopie der christlichen blutrünstigen rache zu sein?
wie könnte eine kompensation geschehen, die nicht einem almosen gleicht?
dabei könnte eine nicht an den massstäben, an der pseudo-ethik der gewalttäter orientierte (unblutige) rache etwas durchaus fruchtbares sein, weil sie einen inneren stau auflösen würde, der uns bislang weiter an die kette der vernichtung angeschmiedet sein lässt.
diese interpretation gibt übrigens das wort „rache“ bereits sprachgeschichtlich her.
in Grimms wörterbuch heisst es: „im subst. wie in dem verbum „rächen“ ist ein alter gemeingermanischer rechtsbegriff beschlossen, das setzen auszerhalb des landrechts und die austreibung aus dem lande in folge angriffs auf den landfrieden, eine mildere und nicht entehrende art derjenigen strafe, als deren höchste und zugleich vogelfrei machende stufe die verurtheilung zum wargus angesehen werden musz.“
lt. Grimm sei auch ein Zusammenhang mit „to reject, refuse,“ nachweisbar, ebenso zum „urverwandtem sanskrit. vṛǵ = abwenden“.
die auslegung der rache als „vertreiben“ wird im „manifest“ mit dem satz aufgenommen, in dem es heisst, dass man sich der „missetäter“ entledigen müsse.
ist es denn nicht so, wie unser freund Jason W. Moore es in seinen „four cheaps“ mustergültig formuliert hat? eigentlich „gehört“ die welt, die natur, ihre ressourcen uns allen. den wirtschaftlichen nutzen ziehen aber nur wenige aus alldem, denen es gelingt, für arbeitskraft, essen, energie und rohstoffe nichts oder nicht genug zu bezahlen.
hier ist, lt. Moore, bereits eine rechnung seit anfang des ‘long sixteenth century’ offen.
nebenbei bemerkt, denken auch die autoren von „genug ist genug“ („c/o Jacobin/Brumaire“) gerade in eine ähnliche richtung, wenn sie sagen „Es ist Zeit, wütend zu sein. Und aus der Wut etwas zu machen.“ wut ist nicht rache. aber es brodelt überall und es ist nur eine frage der zeit, dass wir „etwas daraus machen“.
ich verstehe daher den begriff der rache im „manifest“ nicht als teil einer eigenen „kriegerkultur“ (wie Hanna), sondern als eine metapher, als aufforderung, nichts, insbesondere den feldzug der reichen und politiker gegen uns, nichts mehr unwidersprochen hinzunehmen und gerade jener blutdrünstigkeit die gefolgschaft zu verweigern.
das wird nicht einfach werden.
im letzten kapitel des manifestes ist deswegen von einer „aporie“ die rede:
„Angesichts dessen reicht es nicht aus, zu desertieren. Es handelt sich um einen Krieg. Ein Krieg erfordert Strategien, eine Rollenverteilung und den Einsatz materieller und subjektiver Ressourcen. Nun besteht das allen tätigen und strategischen Aufgabenstellungen eigene Paradox gerade darin, dass ihre öffentliche Formulierung ihrer praktischen Umsetzung entgegensteht.“
diesen widerspruch gesehen und durchdacht zu haben, bedeutet leider noch nicht, mit einer fertigen handlungsanweisung da zu stehen.
aber von tag zu tag wird deutlicher: wir dürfen nicht locker lassen!“
Soweit Janneke.
Wir haben weiterhin probiert, die Herkunft des Begriffs Rache bei Walter Benjamin nachvollziehen. Seine „Thesen zum Begriff der Geschichte“ werden im Manifest explizit zitiert.
In der Geschichtsthese 12 wird mit Verweis auf Marx die „rächende Klasse“ benannt (ohne genauere Quelle).
Benjamin unterscheidet hier uE wenig zwischen Rache und Haß, wenn er sagt, mit der „Rolle der Erlöserin künftiger Generationen“ habe die Sozialdemokratie die beste Sehne der Kraft der Arbeiterklasse durchschnitten.
Daher rührt Benjamins Bild vom sich „nähren“ am Bild der geknechteten Vorfahren, das das Manifest benutzt.
Wenn man schaut, wo Marx von der Klasse im Zusammenhang mit Rache gesprochen hat, findet man den Text „18. Brumaire“ und einen spannenden Artikel über die „Revanche der Peripherie“ (i.e. Landwirtschaft) dazu bei Telepolis, wo sich die Sache noch einmal ganz anders liest:
„In seinem „Achtzehnten Brumaire“ von 1869 analysiert Marx, dass die halbhörigen Bauern Frankreichs durch ihren wahren Kaiser Napoleon I. zwar vom Eigentum ihrer Grundherren zu Eigentümern ihrer Grundparzellen, zu Teilnehmern an der freien Konkurrenz untereinander und zu Teilnehmern an der aufstrebenden Industrialisierung der Städte mit ihrem Lebensmittelbedarf befreit worden sind. Als isolierte Einzelproduzenten und überwiegend Selbstversorger waren sie aber nicht in der Lage, ihre Produktivität ausreichend zu steigern. Deshalb wurden sie auch innerhalb von nur von zwei Generationen zum Ausbeutungsobjekt von Hypothekenverschuldung und Hypothenkenwucher, von Abgabenerhöhung und Steuereintreibung und zudem nicht selten zum Opfer von fallenden Getreidepreisen oder von schlimmen Missernten.
In der Wahl Louis Bonapartes im Jahr nach seinem 1848er Putsch dann zum Präsidenten und damit in der Öffnung der Treppe zum Kaiserthron sieht Marx die Rache der Bauernklasse an den übrigen Klassen der Nation, sieht er eine „Reaktion des Landes gegen die Stadt“ . Allerdings verbesserte die Machtergreifung Louis Bonapartes die ökonomische Lage und die politische Situation der Bauernklasse Frankreichs mitnichten.“
Die Frage, ob angesichts der aktuellen politischen Weltlage Rache zu einer Form des Handelns der Machtlosen werden könnte und wie diese Rache genau aussehen, wohin sie uns führen könnte, lässt sich mit wenigen Zeilen nicht beantworten.
Aber die Debatte darüber ist hiermit eröffnet.
„Eine Gesellschaft, in der die Möglichkeit eines Bürgerkriegs, d.h. die extreme Form des DISSENSES, ausgeschlossen ist, ist eine Gesellschaft, die nur in Richtung Totalitarismus abgleiten kann. Als totalitär bezeichne ich eine Denkweise, die nicht die Möglichkeit in Betracht zieht, sich mit der extremen Form des Dissenses auseinanderzusetzen, eine Denkweise, die nur die Möglichkeit des KONSENSES zulässt. Und es ist kein Zufall, dass die Demokratien, wie die Geschichte zeigt, gerade wegen der Konstituierung des Konsenses als einziges Kriterium der Politik in den Totalitarismus abgleiten“, Agamben dixit
Man kann gut sein und trotzdem nicht harmlos bleiben. Es ist eine Frage der Ethik. Das Problem mit den „goodpeople“ wäre, dass sie nur das gute Gewissen vertreten. Und das ist im Gegenteil die reine Moral.
Nach Spinoza ergeben sich „die Tätigkeiten (Handlungen) des Geistes rühren von adäquaten Ideen allein her; die Leiden aber hängen von inadäquaten Ideen allein ab.“ und noch „unter Lust verstehe ich daher im nachstehenden ein Leiden, durch welches der Geist zu größerer Vollkommenheit übergeht; unter Unlust dagegen ein Leiden, durch welches der Geist zu geringerer Vollkommenheit übergeht“.
Dies konnte der Ausgangspunkt für Rachegedanken. Warum sollte Rache dann nicht eine adäquate emanzipatorische Handlung sein, ein Lust, das zum Glück führt? Wir werden die zwei Jahren ausgeraubt, kein Konsens möglich… genug ist genug.