Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.
„Emilia Galotti“, Gotthold Ephraim Lessing
Verhältnismäßigkeit ist ein gutes Wort. Es rückt uns zu Anderen in eine richtige Beziehung und fordert moderates Verhalten ein. Über Verhältnismäßigkeit sollte man täglich sprechen, kritisch. Unverhältnismäßigkeit verschlägt einem leider oft die Sprache. Angesichts von Unverhältnismäßigkeit scheinen angemessene Vergleiche plötzlich brüchig.
Jetzt, in der zweiten Phase der Pandemie, in der sich die Gesellschaft in Geimpfte und Umgeimpfte teilt, wie in einem 50er-Jahre Pulp-Fiction aus der Reihe Utopia, treten technische Begriffe des Gesundheitsregimes sukzessive in den Hintergrund und werden von moralischen Begriffen ersetzt. Mit ihnen bewaffnet, wird der Bürger des Bürgers Feind.
Dieser Bürgerkrieg aber blendet weitgehend alle relevanten Probleme aus.
Wildbrücken
Wir werden vergleichsweise gut davon kommen. Wildbrücken über den Autobahnen werden nicht abgerissen, wenn Leute wie Olaf Scholz an die Macht kommen und Annalena Baerbock zum Gärtner machen. Entschuldigung, Gärtner*in.
Solange aber die Wildbrücken stehen, werden die Menschenrechte im neuen Deutschland unter selbstgewisser Führung im Stil der Hamburger Härte nicht mit Füßen getreten. Darauf kann man sich verlassen.
Verlassen.
Auch so ein Wort.
Vielleicht müsste man Lessing heute umdichten.
Ich werde darüber nachdenken.
Unsere Probleme sind klein. Verglichen mit dem, was in den Newslettern von Statewatch berichtet wird, haben wir das kleinste Problem unter der Sonne.
Ich erinnere noch recht gut, dass ich etwa 2008 in einem Link von Statewatch zuerst den Begriff „virale Bombe“ gelesen habe. Statewatch zitierten mit Entrüstung aus einem Firmen-Pamphlet zur Begründung der Notwendigkeit einer „Festung Europa“.
Migranten seien virale Bomben. Selbstmordattentäter, gewissermaßen, die das friedliche und gesunde Leben der hinter den Festungsmauern Lebenden bedrohten.
Kranke, in jedem Fall. Die wie ein „Tsunami“ nach Europa hereinbrandeten.
Wollte man hier künftig von Kranken überschwemmt leben?
Da tauchte es also das erste Mal vor mir auf: das Argument der Gesundheit, das Angst und Ablehnung schüren sollte. Das den Bau des antiviralen Schutzwalles auf dem Perimeter von Schengen rechtfertigen sollte. Ich hatte 2020 beinahe vergessen, dass ich das Argument schon mehr als ein Jahrzehnt kannte.
Als ein Freund von mir kürzlich den eingangs zitierten Vergleich zwischen Menschenrecht und Wildbrücken vortrug, ging es um die Frage einer Impfpflicht. Er verneinte die Möglichkeit. Ein Land, das Wildbrücken baut, zwingt keine Bürger unter die Spritze. Undenkbar.
Aber die Umgespritzten? Vielleicht müssen sie künftig über Wildbrücken laufen?
Terrassengesellschaft
Letzte Woche in Berlin bei Sonnenschein. Die Terrassen sind voll. Überall, eng an eng sitzend, jüngst Genesene – mit amtlichem Beleg, frisch Getestete – mit Zertifikat, zwei Mal Geimpfte – mit Pass. Den Mund frei, dürfen sie wieder miteinander sprechen: die Stichworte, die ich aufschnappe, drehen sich um Herstellernamen und Impftermine ihrer Freunde.
Die dürfen hier jetzt nämlich noch nicht mit sitzen. Oder nur, wenn sie sich vorher in die Schlange der Test-Center eingereiht haben. Überall Schlangen – vor umgenutzten Läden, die Pandemie-bedingt dicht machen mussten. In Schlangen kann man sich offenbar überhaupt nicht anstecken.
Wie gut!
Wenigstens eine Freiheit.
Vor der Marheinekemarkthalle parkt ein Impfmobil, ein Lastfahrrad gleichen Typs wie das, das sonst als Techno-Mobil donnernd durch die Hasenheide fuhr. Die Deutschen sind einfach unschlagbar, was Geschäftstüchtigkeit anbelangt.
Unsere Terrassengesellschaft begegnet in dem wöchentlichen, gewissermaßen brachialen Überblick über die Geschehnisse in ganz Europa, den uns Statewatch serviert, einer Kultur des nackten Lebens, wie es sich an den Außengrenzen täglich abspielt.
Wir wissen – insbesondere nach den letzten Ereignissen in Ceuta –, dass wir in einer Zaungesellschaft leben, eine, die sich gut hält, indem sie ein Bollwerk baut, das nicht so dick und fest sein muss, aber genauso gut funktioniert wie ein mittelalterliches Schanzwerk. Diejenigen, die auf der Terrasse sitzen, entscheiden über das Leben derjenigen, die davor, am Rand der untersten Stufe betteln.
Es sind Entscheidungen, die keinen Vergleich kennen mit dem Schutz des Lebens der anderen, zu dem wir aufgefordert sind, Maske zu tragen und Abstand zu halten. Der Abstand, der uns die Leute vor der Terrasse morden lässt, wird heute gern übersehen. Insbesondere die Mitverantwortung all derer, die sich derzeit täglich echauffieren, wenn sich jemand nicht an „die Regeln“ hält.
Wir futtern uns Speck an auf der Terrasse. Endlich wieder. Wir zuerst, dann die anderen. Mit Speck auf der Seele lässt sich Ungerechtigkeit, an der wir sowieso nichts ändern können, besser ertragen.
Wir brauchen mehr Speck, um sicher zu sein.
Überwindung
Statewatch – das ist menschenrechtlich notwendige Erinnerungs-Kultur. Über die turbulenten Veränderungen unserer Lebenswelten in den letzten 18 Monaten vergessen wir noch leichter als schon zuvor, dass es auch jenseits der staatlich verordneten und medial propellierten Denkpfade berücksichtigenswerte Realitäten gibt, die bei Licht betrachtet viel beklemmender sind als das Pandemiegeschehen.
Die durchweg präzise recherchierten, meist umfänglichen Beiträge von Statewatch verbinden sich über ihr kompromissloses Engagement für die Menschenrechte zu einem Panorama eines weitgehend im Dunkeln liegenden Europa.
Die Texte zu lesen fällt mir – trotz ihrer hoch spannenden und von den meisten Medien wenig berücksichtigten Fragestellungen und den brillianten Lage-Analysen – oft deswegen schwer, weil die dort aufscheinende dystopische Realität bei mir ein Ausschalt-Ventil betätigt.
Der dort beschriebene europäische Alltag scheint jedes Maß des Erträglichen, das man bereit ist, als seine Gegenwart hinzunehmen, zu überschreiten.
Ich muss mich daher immer überwinden, mir diese unerfreulichen Aspekte unserer Zeitgeschichte vor Augen zu führen.
Die längeren Studien der letzten Jahre, NeoConOpticon und Market Forces – um nur zwei Beispiele aus der langen Liste bisheriger Publikationen zu nennen –, gehören allerdings zum Spannendsten, dass ich je im Bereich engagierter politischer Forschungsarbeit gelesen habe.
Mancher meiner Leser mag sich fragen: woher soll ich die Energie nehmen?
Wann – zwischen homeschooling, Schlange stehen vor dem Supermarkt, auf eine freie Zähl-Karre wartend (zu der der Einkaufswagen mutierte) – wann zwischen Arbeit, Familie, Arzt und Besorgungen soll ich mich mit diesen Forschungen beschäftigen?
Jetzt? Nachdem ich gerade alle meine (wenigen) frei einsetzbaren Energien eingebüßt habe und von einer infektiösen Psychose befallen wurde, als meine Tochter (Gendersternchen * Sohn) aus der Schule einen positiven Tagestest mitgebracht hat?
Ich spreche hier natürlich nicht von einer Klassenarbeit, sondern von der „engmaschigen“, dennoch offenbar wenig verlässlichen schulischen Gesundheits-Analyse, die jene globale Panik in das Heim der Familien trägt.
Wo soll angesichts solcher Schock-Erlebnisse, die jeder, der Kinder hat, einmal pro Monat mindestens erfährt, noch Rest-Energie herkommen, um sich mit Statewatch zu befassen und den Fragestellungen zum laufenden Umbau Europas – in was genau eigentlich?
Ein rasant sich wandelndes Europa bleibt so von kritischer Bürgermeinung unkorrigiert. Es kann sich ungebremst in jener Weise entwickeln, wie dies in Market Forces beschrieben wurde.
Würde man Market Forces lesen, wüsste man, wohin die Reise geht. Viel Phantasie ist nicht nötig, um von der Lektüre auf die Wirklichkeit zu extrapolieren.
Akupunkturpunkt
Die Spannungen, die sich aus dem emotional höchst wirksamen, um nicht zu sagen: toxischen Erfahrungen rund um die Pandemie ergeben, verstärken den Abwehrmechanismus, der uns schon unter normalen Bedingungen dazu bringt, unerfreuliche Dinge wenig gern wahrnehmen zu wollen.
Testen und Masken tragen und wieder testen führt auf relativ kurzer Strecke zu einer Löschung aller Ereignisse, die nicht unmittelbar mit der Bewältigung der nächsten Stunden zu tun haben.
Ein zynischer Freund, den ich hier gern und oft zitiere, hat die Theorie aufgestellt, dass die Elastik-Bänder der Masken einen Akupunkturpunkt hinter dem Ohr triggern, der sofortiges Vergessen auslöst.
Jeder von uns hat schon die Erfahrung machen können, dass das Tragen der Maske, obwohl sie die Augen überhaupt nicht bedeckt, das Gesichtsfeld einschränkt. Das muss tatsächlich Einfluss auf das Denkvermögen haben, anders ist es nicht vorstellbar. Man vertrottelt spontan.
Wohl gemerkt, das ist ironisch gemeint – vielleicht sollte man zur Kennzeichnung ein ganz unübersehbares Analogon zum Gendersternchen benutzen?
Ich verbreite hier keine neue Verschwörungstheorie, die innerhalb weniger Tage Millionen von Followern finden soll und dabei genau bei jenen Leuten auf fruchtbaren Boden fällt, die ohnehin unzufrieden sind, aber ihre Unzufriedenheit nicht anders konkret machen können als durch paranoiden Irrsinn.
Ganz im Gegenteil, ich versuche mit der Groteskheit solcher Ideen das kritische Wahrnehmungsvermögen anzureizen. Wir müssen unsere Akupunkturpunkte drücken, die sozialen, humanitären und die demokratischen. Sonst stehen wir ziemlich schnell trotz allem Speck ganz mager da.
Zynismus und Ironie sind vielleicht nicht immer die besten Berater. Aber ich bin offen für Vorschläge, damit ein neuer Lessing nicht eines nahen Tages dichten muss:
Wir haben über gewisse Dinge den Verstand verloren. Ein Wunder, denn hatten keinen zu verlieren.
Köstlich zu lesen, danke!