Der Kanarien-Käfig

Der Sommer steht vor der Tür und Europa geht baden – in Sichtweite des Muelle de Arguineguín auf Gran Canaria, der nun im Volksmund „muelle de la vergüenza“ heisst: der „Pier der Schande“

In den vergangenen Wochen habe ich intensiv darüber nachgedacht, wie die seit April vergangenen Jahres auf diesem Blog verfolgte inhaltliche Linie kritischer Berichterstattung zur aktuellen Situation sinnvoll fortzusetzen ist.

Meine größte Sorge gilt dabei der Vermeidung von Eindimensionalität – bei gleichzeitig sinkende Aufmerksamkeit der Leserschaft wegen allgegenwärtiger Überstrapazierung mit dem Thema „COVID und die Folgen“.

Ich habe deswegen in dem Beitrag „Terrassengesellschaft“ bereits versucht, auf gewissermaßen „liegengebliebene“, wegen der allgemeinen Fokussierung auf Corona nicht weiter bearbeitete oder zur Seite geschobene, für die Frage der Menschenrechte in Europa jedoch wesentliche Themen zurückzukommen.

Fast bin ich versucht zu sagen: die Zukunft der Menschenrechte in Europa, denn die Gegenwart zeigt eine bedrückende Missachtung.

Um Missverständnissen vorzubeugen, was ich meine, wenn ich von Menschenrechten spreche, verweise ich hier auf den brillanten und zutiefst erschütternden Beitrag „Der Kanarien-Käfig“von Samuel Allan.

Der Text dokumentiert drastisch, was ich damit sagen wollte, als ich in meinem vorherigen Blog-Beitrag von der Notwendigkeit sprach, den Blick trotz aller pandemiebedingten Anliegen offen zu halten für dramatische Veränderungen, die momentan fast unbemerkt in ganz Europa stattfinden.

Urlaub machen, wo andere Menschen wie Dreck behandelt werden.

Während sich die Tageszeitungen Deutschlands mit so dringenden Fragen beschäftigen wie, ob der Zugang zu Badeanstalten künftig nur noch mit Kreditkarte möglich ist, werden an den Außengrenzen Menschen unter Bedingungen festgesetzt, die für die allermeisten von uns unvorstellbar sind.
Dies noch dazu auf zwei der wichtigsten Badeinseln des europäischen Tourismus: Gran Canaria und Teneriffa. Wie dort jemand entspannt ins Wasser steigen und Badefreunden genießen kann, während auf dem heißen Asphalt des „Pier der Schande“ tausend Menschen ungeschützt der brennenden Sonne ausgeliefert sind – ganz zu schweigen von mangelhafter Grundversorgung mit Wasser und Essen, fehlenden hygienischen Maßnahmen aller Art – ist mir ein Rätsel.

Die Szene erinnert ein wenig an die Brutalität, mit der Tierherden in Australien geschoren und verladen werden, wobei der Unterschied der ist, dass jemand, der einen Pullover bei Manufactum bestellt, sorgfältig darauf achtet, dass ein Mulesing-Zertifikat beiliegt, das beweist, dass die Tiere, aus deren Wolle der Hersteller den sündhaft teuren Pullover fabriziert, nicht gequält wurden.

Impferfahrung

Wen kratzen, angesichts solcher unvorstellbare Dimensionen von Gewalt, zugefügt von einer Agentur, die im Auftrag aller europäischen Länder die Außengrenzen schützen soll, unsere Problemchen rund um das gegenwärtige Impfgeschehen und seine gesundheitlichen Auswirkungen?

Zwei Formen von Schutz, zwei Formen von Leiden, doch gänzlich verschieden.

Wir sitzen hier in unserem persönlichen Kanarien-Käfig wie fette Drogen-Barone: hinter goldenen Stäben.

Im vollen Bewusstsein dieses Widerspruchs, zugleich wissend, dass ich ihn nicht auflösen kann, weil er zu den im ewigen Schmiedefeuer gehärteten Zentralwidersprüchen des Kapitalismus zählt, werde ich ab morgen an dieser Stelle einige sehr persönliche Eindrücke von mir befreundeten älteren Frauen (alle über 80 Jahre alt) wiedergeben, die ich auch und gerade deswegen für lesenswert halte, weil sie aus der Perspektive von Insassen im Luxus-Vogelkäfig gesprochen sind. Es sind Stimmen von Freundinnen, die allesamt von vergleichbar hoher sozialer Sicherheit geschützt, doch ganz extrem unterschiedlich klingen.

Effizienz

Zeitgleich zum Text „Der Kanarien-Käfig“ publiziert das „Netzwerk zur Beobachtung der Gewalt an der europäischen Außengrenze“, Border Violence Monitoring Network (BVMN), Beweise über fortgesetzte, geradezu strukturell angelegte Gewalt in Nord-Mazedonien, ausgeübt durch Frontex-Mitarbeiter. Ebenfalls zeitgleich befindet The European Court of Auditors (ECA), Frontex sei ineffizient. Was bedeutet dies?

Nun, meine Vermutung ist, dass damit nicht gemeint ist, Frontex gehöre mangels Wirkung abgeschafft – oder: weil der Stil ihrer Arbeit gegen die herrschende Vorstellung eines freiheitlich demokratischen Europas verstoße, das jeden Menschen unabhängig von seiner Hautfarbe oder Religion achte.

Ich vermute, dass das Wort „Effizienz“ – ähnlich wie „Digitalisierung“ – nur dann und dort auftaucht, wo eine Lücke sichtbar wird, die Anlaß zu größeren Investitionen bietet.

Ich meine, dass die Feststellung mangelnder Effizienz bei Frontex das Einfalltor sein wird für eine Budgeterhöhung in gigantischem Maßstab, denn „wir“ brauchen Frontex und sie müssen effizient arbeiten können, was nichts anderes heisst, als: „die Ausrüstung muss verbessert werden“. Wenn Frontex „vernünftig“ – mit zeitgemäßer (digitalisierter) Bewaffnung – hochgerüstet sind, wird man sie auch nicht mehr bei händischer Quälerei erwischen. Und wenn die Ver-X-fachung des Budgets einst beschlossen ist und Thierry Breton endlich sein Ziel erreicht hat, dann wird vom momentanen „Alptraum“ nur noch der zweite Wortbestandteil übrig sein (siehe Foto oben).

Hier geht es zu den neuen Beiträgen für „Die Aktion“, die im Text erwähnt sind:

Teil 1/3: Die Seniorengemeinschaft: Eindrücke aus sechzehn Monaten Pandemie in einer „gated community“ in Sonoma, Kaliformien

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