Nr. 8 Peter Schröder „Hellcife, Covid-19 und der (absehbare) Sturz Bolsonaros“

Situation April 2020: Peter Schröder veröffentlicht Teil 1 seines Berichtes „Hellcife, Covid-19 und der (absehbare) Sturz Bolsonaros“ in Telepolis. In nur zwei Monaten spitzt sich die Lage in Brasilien gesundheitlich und poilitisch zu. Hier die Fortsetzung von Mitte Juni 2020.

Am Eingang des Supermarkt EXTRA im Quartier Benefica, Recife Foto © Peter Schröder 2020
Indirekter Genozid

Seit März dieses Jahres hat es die Regierung Bolsonaro geschafft, das Bild Brasiliens im Ausland unter allen denkbaren Gesichtspunkten zu verschlechtern – um nicht zu sagen: zu ruinieren. Das schließt auch die weiterhin chaotischen Reaktionen auf die Pandemie ein. Inzwischen steht das Land bei der Gesamtzahl der Neuinfektionen auf Platz 2 der Weltrangliste hinter den USA (bzw. Trumpistão, wie einige Leute hier sagen) und wurde von der WHO als zweites großes Epizentrum eingestuft. Die absoluten Zahlen der Neuninfektionen und Todesfälle pro hunderttausend Einwohner gehören im Landesdurchschnitt zwar nicht zur Weltspitze, aber in einigen Bundesstaaten wie etwa São Paulo ist die Lage schlimm bis katastrophal. Das gilt insbesondere für die drei nördlichen Bundesstaaten Amazonas, Pará und Amapá. Auch sind die indigenen Völker sowie die zahlreichen Quilombola-Gemeinschaften besonders stark von Covid-19 betroffen, und da sie in dieser Situation mehrheitlich sich selbst überlassen bleiben, sprechen zahlreiche Regierungskritiker von einem indirekten Genozid. Aber um auf die Lage der ethnischen Minderheiten Brasiliens unter der Pandemie einzugehen, bedürfte es eines weiteren Artikels.

Sick Jagger

Da die brasilianische Gesundheitspolitik den Launen des Bolsonaro-Clans ausgeliefert wurde, bewegt sie sich in Richtung Chaos. Am 16. April wurde Henrique Mandetta aus dem Amt entlassen, nachdem sich die Auseinandersetzungen mit dem Präsidenten weiterhin verschärft hatten. Bolsonaro hält sich für eine Art Chefarzt, und wenn er meint, dass Chloroquin das wundersame Heilmittel sei, dann soll sein Gesundheitsminister halt spuren wie ein Soldat auf dem Kasernenhof. Das lief dann aber nicht so. Mandettas Nachfolger wurde Nelson Teich, der zwar Erfahrungen als Interessenvertreter der privaten Krankenversicherungen hat, nicht jedoch im öffentlichen Gesundheitssystem, dem SUS. Am 15. Mai warf er das Handtuch. Wegen seines recht angeschlagenen Gesichtsausdrucks wurde ihm vom Satiriker José Simão in Anspielung auf einen britischen Rockstar der Spitzname Sick Jagger verliehen.

Zahlenkrieg

Nun gibt es mit dem General Eduardo Pazuello einen Interimsvertreter für den Posten des Gesundheitsministers. Außerdem wurden in den letzten Monaten zahlreiche Stellen im Gesundheitsministerium durch Militärs ohne jegliche Erfahrung in der Gesundheitspolitik besetzt, was letztlich nur Ausdruck der viel weiter reichenden zunehmenden militärischen Durchsetzung der brasilianischen Politik und Verwaltung ist. Mit solchen Aufgaben und Posten versucht Bolsonaro, die Militärs an sich zu binden. Déjà vu in anderen Momenten der Geschichte.

Unter Weisung Bolsonaros haben Pazuello und sein Team in der ersten Juniwoche damit angefangen, die täglichen Daten zur Pandemie zu manipulieren. Während man unter Mandetta die Zahlen zu Neuinfektionen und Todesfällen der jeweils letzten 24 Stunden jeden Tag pünktlich um 17 Uhr erfuhr, musste man unter Teich bereits bis 19 Uhr warten, aber sie wurden zumindest korrekt veröffentlicht. Inzwischen werden sie erst nach 22 Uhr bekannt gegeben, und es wird zunehmend schwieriger, sich auf die Zahlen verlassen zu können. Einerseits werden Genesungen groß herausgestellt, andererseits neue Infektionen und Todesfälle absichtlich heruntergespielt.

Das gehört zu Bolsonaros Krieg gegen die Medien. Wie andere Rechtsradikale in aller Welt hat er gewissenhaft und skrupellos unabhängige und/oder kritische Medien zu Hauptfeinden erklärt. Die späte Bekanntgabe der Zahlen soll ihnen – allen voran dem Globo-Konzern – das Wasser für die Titelschlagzeilen der täglichen Hauptnachrichten abgraben. Bei den Grölhorden seiner Anhängerschaft kam das natürlich an. Es hat aber trotzdem nicht geklappt, denn die brasilianischen Medien reagierten kreativ. Zuerst wartete man bei Globo bis 22 Uhr, um dann laufende Programme wie die Telenovelas mit Sondermeldungen zu unterbrechen. Nun haben sich sogar die stärksten brasilianischen Mediengruppen zusammengeschlossen, um untereinander die täglich neuen Daten der bundesstaatlichen Gesundheitsbehörden auszutauschen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Regierung Bolsonaro wird inzwischen von allen Seiten mit harter Kritik überschüttet, auch seitens der WHO, woraufhin der Präsident nun als fleißiger Trump-Imitator mit dem Austritt Brasiliens aus der UN-Organisation droht.

Heute, am 9. Juni, wurde die Regierung nun vom höchsten Bundesgericht, dem STF, dazu verurteilt, die richtige und vollständige Veröffentlichung der Daten zur Pandemie in Brasilien wieder aufzunehmen. Und sie hat versprochen, das Urteil zu befolgen.

Normalität?

Was nun aus der brasilianischen Gesundheitspolitik werden soll, scheint den Verantwortlichen in der Regierung weniger als zweitrangig zu sein. Alle sollen nur nach der Pfeife des Bolsonaro-Clans tanzen.

Die Gouverneure und Präfekten müssen daher im regionalen und lokalen Kontext damit fertig werden, dass ihnen die Zentralregierung in der Gesundheitspolitik nur Inkohärenz und Inkompetenz anbietet. In der Hauptstadt Pernambucos wie auch in anderen Großstädten kam es in der Zwischenzeit so weit, dass die Kapazitäten der öffentlichen und privaten Krankenhäuser vor allem auf den Intensivstationen so stark ausgelastet wurden, dass einem selbst die teuersten Krankenversicherungen keinen Bettenplatz mehr garantieren. In der zweiten Maihälfte verstärkte die Regierung Pernambucos die Präventivmaßnahmen und führte ein „rodízio“ für Privatfahrzeuge ein, also ein abwechselndes Fahrverbot je nach gerader oder ungerader Endziffer der Kennzeichen. Das wurde Anfang Juni wieder aufgehoben und inzwischen wurde auch ein Stufenplan zur Rückkehr zum „normalen“ Leben verkündet, obwohl in Recife die „Normalität“ manchmal heftig an den Wahnsinn grenzen kann.

Black Friday?

Als in diesen Tagen eine Reihe Geschäfte und Märkte wieder öffnete, wurden diese sofort von Kunden überschwemmt, so als ob es trotz Entlassungen und Lohnkürzungen einen Konsumstau gegeben hätte. Trotz der Kontrollen an den Eingängen von Supermärkten, wo die Kundschaft ständig daran erinnert wird, dass nur Einzelpersonen eintreten dürfen, wird dies häufig ignoriert, und drinnen treffen sich dann die Paare oder Familien. Die Gefahr scheint ignoriert zu werden, während gleichzeitig die Gesamtzahl der Todesfälle in Brasilien vom 3. auf den 4. Juni 2020 mit 1473 einen neuen Rekord erzielt hat.

Was man in diesen Tagen nun auch in den Vierteln der Mittelschicht beobachten kann, war allerdings die ganze Zeit über bereits eine erschreckende Wirklichkeit an der Peripherie und im Landesinneren. Es kursiert sogar der Witz, dass es wohl besser gewesen wäre, das Wort lockdown für das gewöhnliche Volk zu übersetzen, weil es scheinbar als Synonym für Black Friday verstanden worden sei.

Überhaupt ist der scheinbar unerschöpfliche Humor der Brasilianer eines der besten Mittel, um den Alltag unter Covid-19 zu bewältigen. José Simão: „Hoffentlich machen die Bars bald wieder auf, damit ich mich nicht mehr so viel betrinke.“

Man kann sogar über den Kotzbrocken Bolsonaro lachen, allerdings nur in der Rolle des Presidente Tomsonaro, die vom Humoristen und Stimmenimitator Tom Cavalcanti gespielt wird. Hier eine Kostprobe.

Worauf kann es hinauslaufen?

Das sich in der brasilianischen Gesundheitspolitik ausbreitende Chaos ist nicht vom aggressiven Dilettantismus der Gesamtregierung trennbar. Der Bolsonaro-Clan und seine Helfershelfer greifen tagtäglich die verfassungsmäßig garantierten Institutionen zumindest verbal an. Die Militärs in Regierungskreisen und die Streitkräfte in den Kasernen betonen zwar ständig ihre Verfassungstreue, zeigen gegenüber Bolsonaro aber Nibelungentreue. Schließlich haben sie seit Anfang vergangenen Jahres sehr viele Posten im Regierungsapparat erhalten. Im Gegensatz zu 1964 müssten die Militärs nun gegen eine Regierung putschen, zu der sie teilweise selbst gehören.

Währenddessen zog am 31. Mai eine Horde von Anhängern, die sich in Anspielung an den Film von Zack Snyder „300“ nennt, mit Fackeln und Ku-Klux-Klan-Masken vor dem Palácio do Planalto und dem STF auf. Provokationen dieser oder ähnlicher Art werden fast jede Woche inszeniert, häufig mit persönlicher Teilnahme des Präsidenten. Inzwischen gibt es aber trotz aller Gefahren der Ansteckung auch Gegendemonstrationen zur Verteidigung der Demokratie. Für Bolsonaro scheint Covid-19 sowohl Pech als auch Glück im Unglück zu bedeuten, denn einerseits offenbarte die Pandemie die groteske Unfähigkeit seiner Regierung, konstruktiv zu regieren (oder überhaupt zu regieren, wie viele sagen), während die Gefahren, die vom Virus ausgehen, ihn – zumindest vorläufig – vor Massenprotesten für seinen Rücktritt bewahren.