In Sonoma, unweit der legendären Farm vom Jack London, liegt Spring Lake Village. Hier ist Kalifornien, wie es sein soll, hier lebt der Kalifornier, wie man es sich idealerweise vorstellt: ruhig, gepflegt, gesichert und rundum versorgt. In der Seniorengemeinschaft wohnt meine Brieffreundin Marge – zusammen mit ihrem Mann.
Marge wurde 1941 in Santa Monica geboren. Die Leidenschaft ihres Lebens – die uns etwa 2002 zusammen gebracht hat, als ich über den tahitianischen Musiker Augie Goupil forschte – ist die “Bewahrung der Familiengeschichte durch Restaurierung von Fotos, Briefen und anderen Familienerinnerungen für zukünftige Generationen.” Solche Erinnerungen empfindet sie nicht als Privateigentum, sondern möchte sie mit Gleichgesinnten auf der ganzen Welt teilen.
Für ein Leben in der Senioren-Wohnanlage haben sie sich – kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie – an dem Punkt in ihrem Leben entschieden, als sie und ihr Mann “beschlossen hatten, dass wir an einen Ort ziehen möchten, an dem wir leben können, ohne unserem Sohn, unserer Tochter und unseren Enkeln zur Last zu fallen. Spring Lake bot fortlaufende Pflege in einer schönen Umgebung mit vielen wunderbaren Aktivitäten, die wir genießen konnten. Wir hätten unser vorheriges Haus aufwändig umbauen müssen, was die Treppen betraf, die für mich nur noch schwer zu überwinden waren. Wir wollten einfach nicht länger für die ständige Instandhaltung eines eigenen Hauses Sorge tragen.”
Rückblickend sind sie froh über diese Entscheidung, denn “wenn wir in unserem vorherigen Haus geblieben wären, wäre es viel schwieriger gewesen, mit Covid zurechtzukommen. Die Mitarbeiter von Spring Lake haben den Großteil der Recherche übernommen und uns mit den neuesten Informationen über Covid versorgt. Wir hatten ZOOM-Gespräche über den Umgang mit dem Virus, darüber, was die Experten bis jetzt herausgefunden hatten. Es wurden Vorkehrungen getroffen, um Lebensmittel, Medikamente und unsere Covid-Impfstoffe zu bekommen. Wir hatten auch medizinisches Personal, das dafür gesorgt hätte, dass wir in ein Krankenhaus gehen, wenn wir Covid bekommen hätten, und sie hätten den Kontakt zu unserer Familie gehalten. Meine eigenen Geschwister, die alle etwa in meinem Alter sind, mussten mit all dem alleine fertig werden.”
Seit dem 11. März 2020 waren Marge und ihr Mann von jedem Kontakt zur Außenwelt abgeschlossen. Die Vorstellung, ein Leben wie zuvor nur wieder führen zu können, wenn sie geimpft sind, hat sie nie geschreckt. “Wir haben immer jegliche Impfungen in Anspruch genommen, die von unseren Ärzten empfohlen wurden. Da auch diese Impfung als sehr wichtig empfohlen wurde, waren wir nicht abgeneigt, auch diese in Anspruch zu nehmen. Unsere medizinischen Unterlagen waren bereits hier in Spring Lake Village, so dass das medizinische Personal wusste, ob wir in der Vergangenheit irgendwelche Probleme hatten. Wir waren über die Gefahren von Covid und die Gründe zur Besorgnis informiert worden. Nachdem wir den Impfstoff erhalten haben, fühlen wir uns nun sehr wohl, wenn wir wieder mit der Außenwelt in Kontakt treten.”
Ich habe Marge gebeten, ihre Erfahrungen mit dem Impfen, ihre Erfahrungen mit mehr als einem Jahr “in Abschottung” in einem kleinen Text zusammenzufassen, den ich nachstehend veröffentliche.
geschrieben Ende Mai, 2021
Lieber Olaf,
entschuldige bitte, dass ich Dir nicht schon früher geantwortet habe. Aber wir waren sehr damit beschäftigt, unsere kleine Wohnung etwas lebenswerter zu gestalten und dringend nötige Dinge einzukaufen, die aufgrund des COVID-Problems schwierig zu bekommen waren.
Du hast mich gebeten zu beschreiben, wie das Leben hier in der Senioren-Anlage sich verändert hat seit März letzten Jahres.
Sicherheit
Mit dem Ausbruch von COVID wurde im Februar 2020 das Grundstück von Spring Lake Village von der Außenwelt abgeschottet. Besuche waren nicht erlaubt. Ein Sicherheitsposten wurde am Haupteingang eingerichtet. Alle Personen, die lebenswichtige Güter anlieferten, wurden an der Pforte angehalten, ihre Temperatur wurde gemessen und sie mussten außerdem einen Gesundheitsfragebogen ausfüllen, der zu den Akten genommen wurde. Diese Überprüfung galt für die Post, alle Lebensmittellieferungen, Arbeitswerkzeuge aller Hausmeister, Gärtner und sämtlicher Mitarbeiter, die hier arbeiten.
Der entscheidende Einschnitt war dann nach knapp einem Jahr, dass am 24. Januar 2021 der COVID-Impfstoff (in unserem Fall von Pfizer) jeder Person, die in Spring Lake Village lebt und/oder arbeitet, verabreicht wurde. Die zweite Dosis wurde am 14. Februar verimpft. So musste keine Person, die hier lebt oder arbeitet, selbständig nach einem Ort suchen, um die Impfstoffe zu erhalten. Das Vertrauen in unsere Mitarbeiter in Spring Lake Village war ein Schlüssel zum Erfolg.
Wegen COVID durchlebte unsere Gemeinschaft von ca. 450 Bewohnern, sowie das hier angestellte Personal eine äußerst schwierige Zeit. Die Kosten, jeden Mitarbeiter immer wieder zu testen, waren extrem hoch, die Prozedur zeitaufwendig. Aber aufgrund von sorgfältigem Testen und Desinfizieren wurde nicht einer der älteren Bewohner positiv auf COVID getestet, was wir höchst erstaunlich finden. Die Kosten und der Zeitaufwand für die Desinfektion aller Oberflächen in den verschiedenen Gebäuden waren extrem. Einige Mitarbeiter bekamen dennoch COVID, kamen aber zurück, wenn sie wieder gesund waren. Die Besetzung unseres Personals war daher stets unvorhersehbar.
Einsamkeit
Das Küchenpersonal musste frisches Gemüse, Fleisch und andere notwendige Dinge besorgen, die knapp und damit teurer waren. Alle Mitarbeiter mussten die ganze Zeit Masken und Handschuhe tragen, was die Kosten noch weiter in die Höhe trieb, da sie diese immer wieder wechseln mussten. Der Versuch, sich beim Tragen dieser Masken zu verständigen, war schrecklich frustrierend und zwang beide Seiten, ständig Sätze zu wiederholen, zum Beispiel was sie essen wollten. Wir durften nicht gemeinsam in unseren geräumigen Speisesälen essen. Da wir alle in “Lockdown” waren, mussten wir unsere Mahlzeiten, die in wiederverwendbaren Behältern abgefüllt waren, abholen und zurück in unsere individuellen “Häuser” tragen, um zu essen. In manchen Fällen bedeutete dies, dass ein einzelner Mann oder eine einzelne Frau ein Jahr lang alleine essen musste, ohne jegliche Kommunikation mit Freunden. Eine sehr einsame Erfahrung für viele der älteren Menschen. Dies erschwerte auch zu erfahren, was in unserer Umgebung geschah, denn denn solche Neuigkeiten wurden normalerweise im Gespräch ausgetauscht.
Alle Aktivitäten hier kamen so ziemlich zum Erliegen, bis wir in der Lage waren, ZOOM und unseren “privaten” Fernsehsender von Spring Lake Village zu nutzen. Viele der Bewohner hier haben sehr wenig Erfahrung mit der heutigen Technik, was die Kommunikation noch schwierig macht. Nur sehr wenige Bewohner wussten überhaupt von der Existenz von Facebook oder ZOOM. Einige haben nicht einmal einen Fernseher in ihrem Zimmer oder besitzen keinen Computer oder Tablet. Jetzt versuchen viele zu lernen, Handys zu benutzen, aber selbst das kann entmutigend sein, da die Geräte für viele der Alten zu klein sind, insbesondere für diejenigen, die Sehprobleme haben. Ein wenig hilft, dass das Bildungsniveau von fast allen in Spring Lake Village ungewöhnlich hoch ist. Viele der Mitbewohner haben früher eigene Unternehmen geführt. Die Altersspanne hier reicht übrigens von 65 Jahren bis 104 Jahren.
Die erfolgreichste Methode der Kommunikation war unsere Spring-Lake-Village-Zeitung, die komplett von den Bewohnern von Spring Lake Village geschrieben wird. Wir waren in der Lage, die Zeitung jeden einzelnen Monat während der Pandemie herauszubringen. Die Zeitung war ein sehr wesentlicher Teil der Arneit, um die Bewohner hier auf dem Laufenden zu halten. Es gibt auch eine Literatur-Zeitung, die mehrmals im Jahr herausgegeben wird und Gedichte, Geschichten und Zeichnungen enthält, die sämtlich von hier lebenden Mitbewohnern geschrieben wurden. Das hilft uns, unseren Geist zu “trainieren” und einen Ausdruck – gegen die Einsamkeit – zu finden.
Alltag
Mehrere Monate lang wurden unsere Zimmer nicht gereinigt und wir bekamen nur einmal in der Woche saubere Bettwäsche und Handtücher, die dann vor unserer Tür abgestellt wurden. Wir mussten unsere Betten selbst machen und unsere Wohnungen selbst reinigen, was nicht immer einfach ist, wenn man in den 80ern oder älter oder in irgendeiner Weise behindert ist. Die meisten von uns hatten auch keinen Wischmop, Staubsauger oder anderen Reinigungsbedarf. Viele Bewohner mussten sich diese Sachen erst kaufen und dann einen Platz finden, um sie in ihren teils sehr kleinen Wohnungen aufzubewahren.
Da wir nicht mehr in der Lage waren, Lebensmittel oder Dige des täglichen Bedarfs einzukaufen, wendeten wir uns meist an InstaCart https://de.wikipedia.org/wiki/Instacart, um unsere Bestellungen aufzugeben, aber es war lange nicht vorhersehbar, welche Artikel auf Lager sein würden. Manchmal mussten wir eine andere Marke wählen oder konten bestimmte Artikel gar nicht kaufen. Es gab oft Engpässe bei vielen Artikeln aufgrund von Versandproblemen. Dieser Service war teuer und zudem wurde man gebeten, dem Mitarbeiter zusätzlich zur Grundgebühr ein Trinkgeld zu geben.
In Spring Lake Village haben wir eine fantastische Bibliothek mit Büchern, Filmen, Magazinen und Musikkassetten, von denen viele der Bibliothek von den hier lebenden Bewohnern geschenkt wurden. Die Bibliothek wird in Selbstverwaltung von Bewohnern von Spring Lake Village betrieben und war stets eine wunderbare Ressource für uns alle, die hier leben. Diese Bibliothek wurde glücklicherweise während der Pandemie ganz offen gelassen und sie hatte einen riesigen Zulauf. Es durfte zur gleichen Zeit immer nur eine Person in der Bibliothek etwas ausleihen. Die Leiterin der Bibliothek sagte, dass sie im letzten Jahr weit über 4.000 Medien ausgeliehen habe.
Spring Lake Village hat auch einen Friseur und dieser war während der gesamten Zeit geschlossen. Männer und Frauen jeden Alters mussten sich über ein Jahr lang selbst die Haare schneiden. Es gab auch ein Nagelstudio. Seine Schließung war besonders schlimm für diejenigen, die ihre Zehennägel schneiden und pflegen lassen mussten. Wir konnten allerdings durchgehend mit allen Ärzten außerhalb des Campus Termine vereinbaren und so gingen einige zum Beispiel zu einem Podologen, nur um sich die Fußnägel schneiden zu lassen. Wir haben auch mehrere Ärzte, die nach Spring Lake kommen, aber auch sie waren nur für Notfälle verfügbar.
Neue Normalität
Jetzt gibt es wieder erste Versammlungen. Wir fangen auch wieder an, Filme zu zeigen, es gibt wieder Vernissagen von Kunstausstellungen auf dem Gelände. Unser riesiges Hallenbad war geschlossen, alle Versammlungsräume konnten nicht genutzt werden, der sehr beliebte Kunstraum blieb geschlossen, ein Billardtisch, Fitnessgeräte, ein Kino für Filme und andere Versammlungsorte: alles war dicht. Es wurde sehr viel gestrickt, Quilts genäht, Kunstwerke angefertigt und Memoiren geschrieben, was Geist und Hände beschäftigte.
Wir hatten in dieser Zeit viele Todesfälle, meist aufgrund von hohem Alter oder langer Krankheit. Der einzige Weg, auf dem wir erfuhren, dass jemand gestorben war, war ein Bild des Toten, das Sterbedatum und eine Vase mit frischen Blumen in der Nähe des Ortes, wo wir jeden Tag unser Essen abholten. Unsere Kirche hier war auch die meiste Zeit über geschlossen.
Ich habe das Gefühl, dass das Leben in dieser Seniorengemeinschaft allen geholfen hat, die Pandemie zu überstehen, und jetzt freuen sich alle darauf, endlich wieder zu dem zurückzukehren, was unser normales Leben sein sollte.
Freiheit
Was ich dir bis hierher erzählt habe, ist nicht alles, was unter dem Vorzeichen von COVID geschah. Seit dem Beginn der Pandemie brachen und brechen viele Leute, die hier am Spring Lake leben, alle Regeln und gehen einfach los, um frische Produkte zu kaufen, besuchen ihre Familien und weigern sich, den “Wächtern” an unserem Tor zu sagen, wohin sie hingehen wollen. Einige versammelten sich in Wohnungen, auch wenn sie gebeten wurden, dies nicht zu tun. Sie weigerten sich, ihre Masken aufzusetzen, wenn sie sich in den Hauptgebäuden aufhielten. Sie nahmen es jedem übel, der sich in ihre Freiheit (oder was sie dafür hielten) “einmischte”. Sie waren nicht bereit, irgendetwas zu opfern, selbst wenn es darum ging, uns alle hier zu schützen. Rechtlich gesehen konnte die Verwaltung sie nur höflich bitten, die Regeln zu befolgen, um die Sicherheit aller zu gewährleisten. Dass sie es nicht taten, hat den Stress im Umgang mit COVID noch vergrößert.
Nachtrag 18. Juni
Ich habe nach dem Verfassen des Textes für Dich mit einigen anderen Bewohnern von Spring Lake gesprochen. Vor allem die Frauen hatten es schwer, damit umzugehen, dass sie nicht ausdrücken konnten, was sie durchmachten und das Gefühl hatten, dass sie die Kontrolle über ihr tägliches Leben verloren hätten. Die Regeln, die hier in Spring Lake aufgestellt wurden, waren zu unserem Schutz. Sich daran zu erinnern, was wir dieses Mal getan haben, sollte uns helfen, ein anderes Mal damit umzugehen. Allerdings sind all die verpassten Familienereignisse, wie Geburtstage, Jubiläen, Abschlussfeiern usw. für immer verloren. Es ist wichtig, diese Meilensteine gemeinsam zu feiern. Ein Tag nach dem anderen…