Die französischen „brigades de solidarité populaire“ als Antidote gegen das Virus der sozialen Ungleichheit
Jagd auf die Armen
Es war zunächst nichts Neues, was wir in ersten Tagen der Ausgangssperre erlebten. Vor allem polizeiliche Maßnahmen. Vor allem in den ärmeren Vierteln, in der Banlieue. Wie gewohnt: Jagd auf die Armen, die es wagen, ohne präzise Angabe von Gründen vor die Tür ihrer häufig extrem engen, überbelegten Wohnungen zu treten, um eine zu rauchen, um (mit dem vorgeschriebenen Abstand) ein bisschen miteinander zu reden, sich zu sehen.
Die Polizei, der Staat konnte in wenigen Tagen beträchtliche Summen durch die Ahndung dieser Ordnungswidrigkeiten einnehmen. In der Banlieue werden wieder mal Menschen – jetzt unter einem neuen Vorwand – verprügelt und verletzt. Wie gehabt.
Und doch war da etwas Neues. Von meinem Fenster aus konnte ich beobachten, wie sich die Polizei erstmals seit Menschengedenken freundlich mit AnwohnerInnen unterhielt. Ich war fasziniert.
Markttag wie jeden Dienstag und Freitag. Der billige Markt mit miesen Produkten für die Armen, die von ihren armen Cousins verkauft und ihren noch ärmeren und rechtlosen Verwandten in Andalusien oder sonst wo produziert werden. Immer ein totales Geschiebe und Gedränge. Hatte mich schon fast gewundert, dass ausgerechnet diese Massenansammlung weiterhin zugelassen war.
Dann stellte ich fest, dass eine Gruppe Flics an einem Ausgang des Marktgedränges Aufstellung nahm, um einzelne Familienmütter oder -väter mit ihren gefüllten Einkaufswagen abzufangen – aber, wie gesagt, freundlich wie nie. Man steckte sogar über der Kühlerhaube des Polizeiwagens die Köpfe über irgendwelchen Dokumenten zusammen, reichte sie sich hin und her, beriet, beratschlagte, was zu tun sei, kam sich nah, plauderte, verabschiedete sich. Was für ein Idyll! Und alle Beteiligten ohne Maske.
Wenige Tage später waren alle Märkte unter offenem Himmel verboten. Man sollte sich statt unter freiem Himmel lieber in den engen Supermärkten drängeln. Wer viele Mäuler möglichst billig stopfen muss … egal … jedenfalls, war die Polizei, die wegen der zusätzlichen Einsätze und des fehlenden Schutzes gemurrt hatte, wieder distanziert wie gewöhnlich, trug hochwertige Masken, wonach unterdessen das Krankenhaus- und Pflegepersonal vergeblich verlangen mochte, und bellte die BürgerInnen an, wenn sie sie sich nicht gleich mit Tränengas vom Leibe hielt.
Kurz: In Frankreich traf und treffen die Pandemie und die Maßnahmen, die mit ihr begründet werden, auf eine Bevölkerung mit gänzlich anderen Alltags-Erfahrungen als in Deutschland.
Zwei Welten – Deutschland, Frankreich und ihr Corona-Krisen-Management
In den vergangenen acht Wochen seit Mitte März 2020 hatte ich die Gelegenheit, auf allen möglichen Ebenen die frappierend unterschiedliche Art zu erleben, wie in zwei benachbarten europäischen Ländern, Frankreich und Deutschland, auf die Covid 19-Pandemie reagiert wurde und wird: sowohl von den RepräsentantInnen, an die in unseren Demokratien die Verantwortung weitgehend delegiert ist, als auch von den Mitgliedern der Gesellschaften, die nicht in Regierungsverantwortung stehen. Im einen Fall, wie inzwischen nicht anders zu erwarten, ausschließlich autoritär, inkompetent, die Bevölkerung verhöhnend und weit außerhalb des Rechtsstaats: in Frankreich. Im anderen Fall – Deutschland – rechtsstaatliche Normen bewahrend, kompetent durch Offenheit, auch für Kritik, und transparent in der Begründung der laufend an neue Einsichten angepassten behördlichen Vorgaben, die überwiegend als Empfehlungen, nicht als Verordnungen ausgesprochen werden.
Wie kommt der Unterschied zustande?
Manche deutsche Intellektuelle, die sich als radikal system- oder kapitalismuskritisch begreifen, sind ratlos und frustriert. Das kann ich irgendwie nachfühlen. Denn es gibt so wenig zu meckern über das deutsche Corona-Management. Und was man allenfalls kritisch anmerken könnte, wird eh in den Mainstream-Diskursen berücksichtigt. Wir erleben also parlamentarische Demokratie, Föderalismus, Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit at it´s best.
Meine These: Das ist so, weil man, also Merkel-Deutschland, es sich leisten kann, weil man in der internationalen Konkurrenz obenauf ist, die neoliberalen Reformen, die anderswo brachial durchgepaukt werden, längst und unter viel günstigeren Bedingungen (für „die deutsche Wirtschaft“) sehr viel softer für alle Beteiligten über die Bühne bringen konnte. Und übrigens zeichnet sich auch jetzt schon ab, dass das derzeitige vorbildliche Krisenmanagement für Deutschland als dominante Macht in Europa und der Welt ein weiterer Trumpf in der internationalen kapitalistischen Konkurrenz ist. Die autoritär-neoliberalen Staaten China und Russland haben ebenfalls versucht, auf diese Weise zu punkten. Das ging voll daneben, wie sich bald herausgestellt hat.
Manche unter uns können das verdammt vernünftige Krisen-Management der Kanzlerin kaum ertragen und müssen zu „irrationalen Ausblendungen“ Zuflucht nehmen, um die „phantasmagorischen Grundlagen“ unseres politischen Bewusstseins oder politischen Engagements aufrecht zu erhalten (Dominik Finkelde, in: Phantaschismus, Von der totalitären Versuchung unserer Demokratie; Berlin 2016). Wir wollen uns offenbar nicht um den Genuss eines „Wir“ der imaginierten Elite überlegener KritikerInnen bringen. Um diesen Genuss aufrecht zu erhalten, erklärt man es plötzlich zur Zumutung, mit unterschiedlichen Hypothesen, Erklärungsversuchen, Strategien etc. angesichts eines erst in der Erforschung begriffenen Phänomens konfrontiert zu werden. Dieses „Wirrwarr“ erzeuge Angst, und diese solle die Bevölkerung in die kopflose Unterwerfung treiben, phantasiert man sich eine angebliche Strategie der Herrschenden zurecht.
Und – (auto)manipulativ – gehen manche sogar so weit, die klugen und schönen Analysen des Wu Ming Kollektivs so einzuleiten, dass der diffuse Eindruck evoziert wird, hier handle es sich um die Pandemie in irgendeinem Land und die Politik, die irgendwo und überall zur Anwendung komme.
In Italien, worauf sich die Texte des Kollektivs beziehen, wütete das Virus ganz anders (u.a. aufgrund der verantwortungslosen Leugnung durch die Politik) und traf auf eine in vieler Hinsicht andere Situation als in Deutschland. Tatsächlich war nicht nur die italienische Bevölkerung durch eine berechtigte Angst vor einer nicht zu leugnenden Gefahr gelähmt. Sie wurde von der Regierung diffus zum „Feind“ erklärt, der sowohl auf der diskursiven Ebene, wie auf der Ebene der Maßnahmen, vor allem bestehend in Überwachungsterror, in einem irren Scheingefecht bekämpft und dennoch offensichtlich nicht unschädlich gemacht werden konnte. Einer solchen Situation sind wir in Deutschland nicht ausgesetzt. So zu tun als ob, ist fahrlässig.
Tatsächlich kritisch zu fragen wäre, wie die eklatanten Unterschiede innerhalb ein und derselben globalen neoliberalen Monstrosität zu erklären sind.
Corona und die Gelbwesten in Paris
Als die Pandemie, auch offiziell, in Frankreich ausbrach, war ich in Paris, genauer in einem „quartier populaire“ im Pariser Nordosten.
Bei Treffen, z.B. der Gelbwesten (Gilet Jaunes, weiterhin kurz GJ genannt), hatten wir noch wenige Tage zuvor Witze gemacht: „Cool, dieses Virus, es schafft das, was wir die ganze Zeit versuchen – das Fließen auszubremsen, zu blockieren … Das Fließen, das das Ganze aufrechterhält…“
In unserer GJs-Gruppe sind mehrere ItalienerInnen. Sie nahmen früher als wir Übrigen, bereits vor der Ausgangssperre, die Sache ernst. Sie hatten Nachrichten von FreundInnen und Angehörigen im italienischen Norden.
Bereits etwa zwei Wochen davor trugen alle ChinesInnen – und nur sie – in jenem Pariser Viertel Masken. Wir grinsten innerlich: „Die Chinesen …“
Die Menschen, meine Pariser Umgebung, auf die dann die wie auch immer einzuschätzende Neuigkeit traf, dass das Virus nunmehr wohl auch bei uns angekommen war, jeden von uns (angeblich) potentiell bedrohte, reagierten nicht besonders panisch oder aufgeregt. Es ging wie überall auf der Welt darum, sich darauf einzustellen, welche Maßnahmen von den Regierenden/Zuständigen/ Verantwortlichen wohl ergriffen würden, um der Pandemie Herr zu werden, die Bevölkerung zu schützen oder was auch immer.
Ich glaube, es hat niemanden mehr gewundert, dass die Maßnahmen der französischen Regierung ausschließlich in Richtung „was auch immer“ gingen, jedenfalls nicht in Richtung: „die Bevölkerung zu schützen“ oder möglichst pragmatisch die Pandemie einzudämmen.
Sehr viele, sehr unterschiedliche Französinnen und Franzosen haben seit eineinhalb Jahren am eigenen Leib gemeinsame Erfahrungen gemacht und kapiert, wie die Dinge zusammenhängen und dass die Regierung und das Gesamte, wofür sie steht, nicht darauf aus ist, so etwas wie ein Gemeinwohl zu gewährleisten, nicht mal wenigstens neben dem Wohl der großen Unternehmen.
Französinnen und Franzosen quer durch alle Gesellschaftsschichten haben keine Illusionen mehr: Es wird ausschließlich gegen unser Wohl regiert (übrigens auch schon durch die Vorgängerregierungen).
Also: Nichts Neues, keine Überraschung, kein Schock, als die Regierung Macron die Pandemie nutzte, um an einem Samstag, den 29. Februar 2020, „wegen Corona“ MinisterInnen und Parlament zu einer Sondersitzung zusammenzutrommeln – bei der sie die nicht nur umstrittene, sondern eindeutig von einer großen Mehrheit der BürgerInnen abgelehnte Rentenreform per Verordnung durchdrückte. Das, nachdem die längste und umfassendste Streikbewegung dagegen aufgestanden war, tatkräftig verstärkt von den Gelbwesten.
Bei den Gelbwesten hatte sich längst Klarheit darüber entwickelt: Es ist das System, es ist das Ganze, es ist der Kapitalismus. Daher auch: keine Verhandlungen mit der Regierung. Die muss weg. Und die ganze Rentenreform muss weg. Und der ganze Rest auch.
Nichts Neues: es wird bereits seit Hollande per Verordnung regiert. Der Ausnahmezustand (nach den Attentaten von 2015) wurde immer wieder verlängert, bzw. dessen Ermächtigungsmöglichkeiten für die Regierung unter Macron ins Gesetz übernommen.
Auch nichts Neues: Dass Macron seine erste großspurige Rede zur Pandemie an sein Volk als pathetische Kriegserklärung an das Virus und gleich in einem Atemzug auch als Kriegserklärung an das Volk formulierte, das er glaubte, vor allem zur Disziplin ermahnen zu müssen. Zu den von ihm angemahnten Vorsichtsmaßnahmen, gehörten auch die Masken, die wir uns gefälligst überstülpen sollen und die er und seine Mannschaft bei „öffentlichen“ Auftritten seither gerne aufsetzen. Sie würden selbstverständlich in den nächsten Tagen wieder erhältlich sein.
Auch das, niemanden wundert es, leere Versprechen. Es gibt erst seit Ende April Masken in den Apotheken zu kaufen, für die Mehrheit der Haushalte mit annähernd 4 bis fast 10 Euro pro Stück viel zu teuer. Wegen einer früheren Verordnung „von oben“ wissen die ApothekerInnen nicht, ob sie ohne hausärztliches Rezept die Dinger überhaupt rausrücken dürfen. Chaos und Widersinn, wohin das Auge reicht.
Die „Maske runter!“-Bewegung
Daher verwundert es auch nicht, dass sich überall bereits während der harten Ausgangssperre Widerstand regt. Und der geht aufs Ganze. Die in den Pflegeberufen Tätigen rufen „Bas les masques“ – wörtlich: „Runter mit den Masken“, übertragend: „Schluss mit Lügen und Verstellung“.
Sie fordern nicht etwa dazu auf, dass die Masken abgenommen werden sollen. Sondern sie rufen zu einer breiten Widerstandsbewegung aller gegen „die Heuchelei und den Zynismus der Regierung“ auf. Mit diesem Aufruf wenden sie sich an ihre KollegInnen im Gesundheitssektor, aber auch an all die ArbeiterInnen, die in vorderster Linie der Gefahr ausgesetzt sind und „dafür sorgen, dass der Laden läuft“. Und sie wenden sich an all diejenigen, „die genug haben von diesem gefährlichen Krisenmanagement, von all dem, was sie schon seit Jahren von einem verheerenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen System ertragen müssen.“
Der Appell warnt vor der Illusion einer Besserung nach der Krise. Denn die Verschuldung der Staaten heute werde als Rechtfertigung für Austeritätspolitiken morgen herhalten. Schlussfolgerung des Aufrufs: „Bereiten wir also bereits heute zusammen die glücklichen Tage von morgen vor. Die Zukunft wird so sein, wie wir beschließen, dass sie sein soll! Die ‚Welt danach‘, wie wir sie uns wünschen, ist eine gerechte, in der es um die Interessen der Mehrheit geht und nicht um den Profit einiger Weniger.“ Und auch hier wieder wie seit über einem Jahr in allen sozialen Kämpfen: „Bas les masques!“ ist mit keiner Partei, keiner Gewerkschaft, keiner Organisation verbunden.
Die Polizei und die Eingeborenen der Republik
Seit dem 8. April wurden sechs Menschen bei den polizeilichen Maßnahmen unter dem Vorwand des Seuchenschutzes getötet. Alle in den Vierteln, wo die Armen (über)leben und alle „persons of color“, die „Eingeborenen der Republik“.
Drei weitere wurden schwer verletzt und sieben haben gegen die Polizeigewalt geklagt, deren Opfer sie wurden. In Seine-Saint-Dénis, einem der ärmsten Départements, vor den Toren von Paris gelegen, hat die Polizei alle Hände voll zu tun, um 41 000 Vorladungen zu bearbeiten, womit ihr Eifer um das Dreifache über dem nationalen Durchschnitt liegt.
Nachdem in der Nacht des 19. April in Villeneuve-la-Garenne ein junger Mann bei einer polizeilichen Kontrolle schwer verletzt worden war, explodierten für mehrere Tage die Revolten in einigen Vorstädten im Land. Dazu erschien eine Erklärung, die u.a. von attac Frankreich, von Gewerkschaften und anderen unterschrieben wurde und in der es heißt, diese Aufstände seien legitim.
Die „Brigaden der Solidarität“
Die Aufstände erinnern viele Menschen an die Banlieue-Unruhen von 2005. Einer von ihnen ist Youssef Brakni vom Komitée „Justice et vérité pour Adama“, das entstand, nachdem Adama Traoré vor dreieinhalb Jahren unter offiziell bisher ungeklärten, aber durchaus nicht rätselhaften Umständen in Polizeigewahrsam umkam.
Brakni stellt jedoch einen entscheidenden Unterschied zu 2005 fest: Während damals die Linke, die Gewerkschaften, die kritischen Intellektuellen weitgehend schwiegen, ist das jetzt – seit den GJs – anders. Denn die sind überall, so auch etwa in Vorstädten wie Montreuil oder Pantin, wo sie gemeinsam mit den „Brigaden der Solidarität“ das in die Hand nehmen, was vom Staat und seinen Institutionen nicht zu erwarten ist. Dabei machen sie nicht wie irgendeine nette NGO oder helfende Soli-Initiative mit freundlicher Unterstützung den Job des Staates. Sondern sie agieren unabhängig und als Teil des Widerstands ihres Viertels.
So wurden denn auch am 1. Mai eine Handvoll AktivistInnen der Brigaden in Montreuil, die dort ein paar Gemüsekisten mit Sellerie, Äpfeln und Kartoffeln verteilten, alles unter Wahrung der Abstandsregeln und mit Masken, von der Polizei auseinandergeprügelt und das Gemüse in den Müll geworfen.
Sellerie und Äpfel? Einer von den GJs de Belleville, er ist Uni-Dozent und hat einige Studierende, die aus der Banlieue kommen, erzählte uns neulich am Rande unserer Video-Konferenz, dass auch sie auf solche Essens-Verteilungen angewiesen sind, nachdem sie ihre Jobs verloren haben. Es geht ihnen wie vielen in den Vorstädten: sie hungern.
Als Studierende, mit denen ihre DozentInnen virtuell in Verbindung sind und so versuchen, den Fortgang des Studiums zu ermöglichen, haben sie zusätzliche Probleme. Sie leben mit Eltern und Geschwistern in engen Wohnungen und häufig besitzen sie nur ein Smartphone für ihre akademische Arbeit.
Die Brigaden der Solidarität, die es zuerst in Italien gab und jetzt auch in vielen französischen Städten, sind innerhalb weniger Wochen als Antwort auf die Bedrohung durch das Virus und die Regierung entstanden und sie werden bleiben.
Der funkelnde Widerstand
Das „Danach“, wenn, wie und wann es eintreten mag, wird weiterhin die widerständige Solidarität erforderlich machen. Denn es soll keine Rückkehr zur Normalität geben.
Der Widerstand funkelt überall im Land auf, auch unter den Bedingungen der Ausgangssperre, der verschärften sozialen Ungleichheit und Segregation, des staatlichen Terrors.
Auch an den Hauswänden, wo sich jüngst zwei hastig angeklebte Din A4 Blätter niedergelassen hatten, zwei „papillons“ (Schmetterlinge), in diesem Fall verfasst von den GJs de Belleville.
Darin heisst es:
1. Kaum war es geboren, das Kind von « Mineralölsteuer-runter » und von « Welche-partikulare-Forderung-auch-immer », als der kleine Schreihals mit der gelben Weste auch schon geschnallt hatte, dass er die Welt, in der er (über)lebt, rundrum ablehnt.
2. Wir wollen leben, nicht überleben – und das geht nicht in dieser Welt, deren grundlegendes Prinzip der Wahnwitz des Profits ist, die Eiseskälte des ökonomischen Kalküls. Leben wollen wir und werden wir, und das könnte wehtun, aber vor allem guttun.
3. Logische Konsequenz : Revolution ! Nicht mehr, nicht weniger. Ganz sicher nicht weniger. Und sogar sehr viel mehr. Wie kann man sich noch die geringsten Illusionen über die Institutionen der Welt machen, in der wir (über)leben ? Wer braucht noch Beweise ?
4. Die Revolution in Gelb ist nicht dasselbe wie all die Revolutionen in Schwarz-Weiß, die es im Verlauf der Geschichte gegeben hat und die jedes Mal umgehend von selbsterklärten « fortschrittlichen » Eliten gekapert wurden, runtergestutzt auf dürftigstes Mittelmaß. Voller Verachtung für das Volk, in dessen Namen sie angeblich handelten. Von diesem strukturellen Problem haben wir uns endgültig verabschiedet : niemand repräsentiert mehr irgendwen. Jede und jeder spricht mit jeder und jedem. Wir haben keine Angst davor, das das Zeit braucht und auch nicht vor der Polyphonie und der Polyrhythmie. Polyphonie und Polyrhythmie sind es, die die Welt zusammenhalten und auseinander stieben lassen, immer neu.
5. Die Veränderung, die wir als Gilets Jaunes anstreben, kann nur die eines kollektiven Prozesses sein, zu dem jede und jeder auf ihre und seine schöne und ungestüme Art beitägt. Die Macht oder die Beteiligung an Institutionen, und seien sie auch noch so hübsch reformiert, interessiert uns nicht. So, wie die Dinge stehen, sind diese Institutionen nicht zu retten. Basta.
6. Wir wissen immer besser und immer genauer, in was für einer Welt und wie wir leben wollen, und diese Welt wird nie aufhören, uns zu überraschen.
7. Und wir haben bereits alles in der Hand. Es sind ja wir selber und Leute wie wir (und auch anderswo), schon jetzt, die dafür sorgen, dass Früchte und Gemüse wachsen ; wir, die versorgen und pflegen ; wir, die Züge und Laster fahren ; wir, die lehren (und lernen) ; wir, die die Brücken bauen und die Straßen, die zu den Häusern führen und die die Tische und die Stühle darin herstellen ; und wir sind es, die die Mülltonnen vor den Häusern leeren. Wir sind es, die die Masken nähen. Wir hier und unsere Schwestern und Brüder anderswo und unter unsäglich viel mieseren Bedingungen. Und wir sind es, wir und sie = wir, die versuchen und versuchen werden, gemeinsam zu verstehen und alles umzukrempeln.
8. Wir wissen immer noch nicht, wie wir von der Welt des nur Überlebens zu der kommen, in der wir leben wollen. Wir wissen immer noch nicht, wie’s geht, und das ist uns durchaus recht. So können wir diskutieren, überlegen, erfinden. Ohne Führung, ohne Modell, ohne Programm, das uns das Ende des Systems der Ausbeutung vorzeichnen und garantieren würde, des Systems, das den Planeten zugrunde richtet. Wie gelangen wir zum Ende der Ungleichheit, der Lohnsklaverei und der Welt der Arbeit und der Ware, auf der alles nach ihrem Bilde zugerichtet wird? Das fragen wir uns. Kein bisschen ratlos.
9. Von dieser beschissenen Welt zu der wunderbaren, natürlich nicht fertigen oder makellosen, die wir uns allen Ernstes, ja, als mögliche vorstellen, werden wir auf vier Wegen gelangen. Oder, falls erforderlich, auf tausend. Uns zu folgen, wird nicht einfach sein, aber jede und jeder kann mitkommen.
10. Bereit für die Reise? Eine echte Herausforderung, ganz schön viel Arbeit, so eine Revolution. Aber auch eine Odyssee. Müssen bereit sein, mit Vielem radikal zu brechen : unserer gewohnten Art, Sachen zu machen, zu leben, zu empfinden, zu denken, etc. Werden uns echt etwas ganz Neues einfallen lassen müssen, immer wieder. Es ist schon gut losgegangen, wenn auch ganz schön holprig.