Nummer 24 Hanna Mittelstädt An welchem Punkt stehen wir?

Unverdächtig

Unter dem Titel „An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik“, veröffentlichte Giorgio Agamben kürzlich eine Folge von kurzen Essays und Betrachtungen.

Völlig unverdächtig einer rechten Gesinnung, einer manipulatorischen Dummheit, eines aufgeregten Populismus, eigener Machtinteressen etc. versucht Agamben, die Grundlagen dessen zu ergründen, wie die “Epidemie als Politik“ die Gesellschaft verändert, wie sie im Schnelltempo Entwicklungen vorantreibt, die schon vorher angelegt waren. Es sind Texte, die Agamben im Laufe des Jahres 2020 auf dem Blog seines italienischen Verlags veröffentlicht hat, also kleine, unprätentiöse Texte, die in aller Gelassenheit sprechend voranschreiten.

Im Namen der gesamtgesellschaftlichen Gesundheit

Einige Stichpunkte aus Agambens Essays mögen fruchtbar für eine breitere Diskussion sein:

Im Namen der “gesamtgesellschaftlichen Gesundheit” wird eine „Große Transformation“ vorangetrieben, die nicht auf einer rechtlichen Ordnung gründet, sondern aus dem Ausnahmezustand, d.h. der Aufhebung verfassungsrechtlicher Garantien hervorgeht.

In diesem aufgeregten Prozess der Notverordnungen und Panikerzeugung wird nicht der Begriff oder auch der Inhalt des Begriffs “Gesundheit” diskutiert, sondern es werden lediglich Inzidenzzahlen betrachtet, die durch begrenzt aussagekräftige Tests auf ein bestimmtes Virus errechnet werden. Positiv getestete Personen werden als krank bezeichnet, obwohl nur ein kleiner Teil dieser Menschen Krankheitssymptome hat.

Die Frage der “gesamtgesellschaftlichen Gesundheit” zu erörtern, hieße vielmehr, alle Krankheiten in die Diskussion mit einzubeziehen, die eine gesamtgesellschaftlich relevante Todesrate mit sich bringen.

Darüber hinaus hieße die Erörterung der Frage der Gesundheit, diejenige nach der Lebensweise und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit (ökologisch, mental, sozial etc.) zu stellen.

Die Sorge um die Gesundheit der Bevölkerungen vorort und weltweit hieße auch, dass Medizin, medizinische Forschung und medizinische Hilfsmittel keine Ware sein können.

Hieße, die Praxis des Public-Private-Partnership im Medizinbereich zugunsten einer öffentlichen Gesundheitsinfrastruktur, einer weltweiten, lokal organisierten Basisgesundheitsfürsorge aufzulösen. Gesundheitsvorsorge zu kommunalisieren.

Eine neo-koloniale Geste

Hieße, die Patentrechte auf den Impfstoff freizugeben und sie weltweit für medizinische Betreuung zur Verfügung zu stellen. Was für eine neo-koloniale Geste, in den “westlichen Ländern” hergestellte Impfdosen an die “ärmeren Länder” zu verschenken! Übrigens sind Deutschland und die EU die maßgeblichen Verhinderer der Patentrechtfreigabe.

Hieße auch, die einseitige Ausrichtung auf die Impfstoffproduktion aufzugeben zugunsten einer diversen Forschung für Heilmittel.*

Der gesellschaftliche Schock, den die Verbreitung der Panik vor einem unbekannten Virus hervorgerufen hat, ließ die Gesellschaften, ihre Verwalter und ihre einzelnen Mitglieder, weltweit kurz innehalten, bevor jetzt seitens der Verwalter dieser Welt wieder alles getan wird, um nichts Grundsätzliches an der gesellschaftlichen Produktions- und Lebensweise zu verändern. Sie werden digital aufgefrischt und längst veraltete Produktionskonzepte mit Steuergeldern modernisiert, um die Gesellschaft, den großen Lümmel, genauer zu kontrollieren und zu lenken.

Große Transformation

Der Ausnahmezustand fungiert dabei als juristisch-politisches, die Wissenschaft als religiöses Dispositiv der “Großen Transformation”. Seit dem zum weltweiten Hauptfeind erklärten “Terrorismus” nach dem 11. September 2001 gelten nicht wieder zurückgenommene Ausnahmezustände und Notverordnungen als normale staatliche Vorgehensweisen, die die Freiheitsrechte ohne verfassungsrechtliche Grundlagen einschränken und die Gesellschaften damit grundlegend verändern. Jeder Notstand ist im übrigen ein Labor, in dem neue politische und soziale Ordnungen und Kontrolltechniken ausprobiert werden.

Im aktuellen Fall des Ausnahmezustands, in dem nicht nur die Angst vor Anschlägen geschürt wird, die, so das staatliche Narrativ, aus Nestern des religiös geprägten Hasses und Fanatismus gegen “die westlichen Werte” heraus organisiert werden, die es weltweit zu zerstören gelte, wird darüber hinaus die Angst vor einem unsichtbaren Etwas geschürt, vor einem winzigen tödlichen Feind. Die “Gesundheitssicherheit” oder “Biopolitik” (Foucault) schützt nicht – und das soll sie auch gar nicht – alle Menschen. Sie schützt vielmehr eine bestimmte Schicht und ihren Lebensstil. Das ist ein Sicherheitsbegriff, der genauso fragwürdig und kurzsichtig ist wie der des “Kriegs gegen den Terror”. Ein neoliberaler, die herrschenden Eliten stützender Begriff und seine Praxis.

Mantra der Angsterzeugung

In Fortsetzung und Weiterentwicklung der in Anspruch genommenen sog. “westlichen Werte” wird im aktuellen Gesundheitsdiskurs eine Wissenschaft postuliert, die gegen jeden Zweifel und gegen jede Infragestellung als Bollwerk dient: die tägliche Veröffentlichung von Zahlen (Inzidenz/Todesfälle), die jeder wissenschaftlichen Grundlage nach bisherigem Verständnis entbehren, da die Zahlen nicht analysiert werden, d.h. sie werden nicht zur jährlichen Sterberate und zu den ermittelten Todesursachen, nicht zu den sozialen Bedingungen und gesundheitlichen Zuständen der Einzelnen und der medizinischen Infrastruktur u.a.m. in Beziehung gesetzt. Die veröffentlichten Zahlen geben ein sehr ungenaues Bild der Infektionslage mit dem Covid19-Virus ab. Sie werden als Mantra der fortwährenden Angsterzeugung benutzt. Eine medizinische Wissenschaft mit Widersprüchen und Kontroversen wäre aber unbedingt notwendig, wenn die “Wissenschaft” nicht zur Religion werden soll, die jegliche Häresien unterdrückt.

Suspendierung des Lebens

Die seit Jahrzehnten fortschreitende Legitimationskrise der institutionellen Mächte soll durch die Schaffung eines dauerhaften Notstands und des daraus hervorgehenden Sicherheitsbedürfnisses eingedämmt werden. Angesichts des Terrorismus galt als wirksame Waffe, die Freiheit der Einzelnen, die möglicherweise Opfer von Terroranschlägen werden könnten (also aller Menschen, die keine Terroristen sind), zu kontrollieren und einzuschränken, um sie, so das staatliche Narrativ, besser verteidigen zu können. Angesichts der Virusepidemie geht es darum, “das Leben”, wie wir Einzelne es kannten, unser jeweils individuell ausgeprägtes und sozial vernetztes Leben, zu suspendieren, um es besser zu schützen. Unter der Vorgabe zeitlicher Begrenzung, aber als Testfall weltweit durchgezogen. Und als Möglichkeit ausprobiert und jederzeit wiederholbar. Lockdown, social distancing, Kontrolle durch digitale und polizeiliche, sowie engmaschige soziale Überwachung.

Durch das Sicherheitsparadigma wird die Staatsbürgerschaft zu einem passiven Zustand und zum Gegenstand der Überwachung.

Wie kann das heute in einem Umfang möglich sein, der bisher nicht einmal im Kriegsfall durchsetzbar war?

Auf Dauer gestellter Unsicherheitszustand

Jeder Krieg wird mit fake news geführt, jeder Krieg verlangt das bedingungslose Mitmachen aller, arbeitet mit Opfern und Lügen. Und hier nun ein Virus-Ausbruch, der als Krieg kommuniziert wird, und der die gesellschaftliche Debatte auf Anpassungsdiskurse reduziert. “Das Leben”, das geschützt werden soll, wird auf eine rein biologische Funktion reduziert und geht damit seiner politischen und menschlichen Dimension verlustig. Es ist vom sozialen Leben abgespalten. Die Freiheit wird zugunsten der sogenannten Sicherheitsgründe geopfert, was bedeutet, in einem ständigen Angst- und Unsicherheitszustand zu leben. Der Feind, das Virus, ist immer präsent und muss unerbittlich und ununterbrochen bekämpft werden. Diese Reduzierung des Lebens, das geschützt werden soll, auf seine biologische Funktion, das “nackte Leben”, trennt die Menschen durch Isolation und Eingrenzung der Debatten. Die Furcht stellt das Gegenteil des Willens zur Macht dar: sie ist der Wille zur Ohnmacht, das Ohnmächtigseinwollen gegenüber dem Ding, das Furcht einflößt.

Bürgerkriegsgefahr?

“Epidemie/Pandemie” ist ein politischer Begriff, der weltweit zum bevorzugten Terrain der Politik (oder Nicht-Politik) zu werden droht. Das könnte zu einem tatsächlichen weltweiten Bürgerkrieg führen: alle Nationen und alle Völker befinden sich in einem dauerhaften inneren Konflikt, weil sich der unsichtbare und ungreifbare Feind, den sie bekämpfen, in ihrem Inneren versteckt.

Die “Biosicherheit” als Verbindung des Ausnahmezustands (juristisch-politisches Dispositiv) mit der Wissenschaft und den digitalen Technologien vermag es, die vollständige Einstellung jeder politischen Tätigkeit und sozialer Beziehung als höchste Form der Bürgerbeteiligung darzustellen.

Sie ist, als ein Instrument gegen die Angst um das nackte Leben ausgerufen, effizienter und durchdringender als alle bisherigen Regierungsformen. Die soziale Distanzierung stellt ein neues Paradigma und Organisationsprinzip der Gesellschaft dar. Epidemie und (Kontroll-)Technologie scheinen unlösbar miteinander verflochten.

Gesundheitspflicht

Der aktuelle gesellschaftliche Diskurs lässt das “Recht auf Gesundheit” umschlagen in eine juridisch-religiöse “Gesundheitspflicht”.

Dabei heißt “Gesundheitspflicht” keineswegs, im Einklang mit sich und der Umwelt, der Natur, den Mitwesen, zu leben, ein der Gesundheit zuträgliches Leben zu führen, sondern: sich impfen lassen.

Die Impfung ist der angebliche Garant der Gesundheit und unabdingbar für das Überleben aller. Das wäre ja eigentlich eine Lachnummer, wäre es nicht Ausdruck der bitteren Phantasielosigkeit und Korruptheit der Verwalter der Gesellschaften, die auf diese eine Karte setzen, weil diese dafür sorgen soll, ansonsten nichts zu ändern. Man sollte sich daran erinnern, dass das erste Beispiel einer Gesetzgebung, die sich programmatisch der Gesundheit der Bevölkerung annahm, die eugenischen Maßnahmen des NS-Regimes waren. Zu bedenken wäre außerdem, dass die Aufgabe der Medizin die Behandlung von Krankheiten jedes einzelnen Menschen ist, was ein Bündnis mit der Politik ausschließt.

Dabei kann gegen diese und mögliche neue Viren wie gegen andere Bedrohungen der Gesundheit nur ein echter Wechsel in den Vorstellungen helfen: das kapitalistische Wachstumsgebot verlassen, die globale Produktionsweise in Frage stellen.

Über das epidemologische Geschehen konstruktiv hinausdenken, heißt, eine breite Debatte über die Zukunft der Gesellschaft, soziale Gerechtigkeit und Enteignungen eröffnen. Das heißt, die bestehenden politischen Institutionen zerschlagen und eine kommunale Basispolitik in die Wege leiten. Ohne Rechts-Links-Blöcke, ohne Funktionäre, ohne Polit-Manager der Krisen. Die Panik, die seit Bekanntwerden des neuen Corona-Virus geschürt wird, hilft nur zur Aufrechterhaltung des Bestehenden.


*Siehe Rundschreiben 02/21 von medico international