Nummer 38 Hanna Mittelstädt Überall muss das Unglück zurückgeschlagen werden

Der nachfolgende Text ist das Vorwort zur Wiederveröffentlichung von René Viénets Buch Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen. Viénet ist französischer Situationist, Autor, Sinologe und Filmemacher. Das Buch (korrigierte, erstmals vollständige und mit vielen Anmerkungen versehene Neuausgabe) erscheint im Mai 2023 in der Edition AV. Die deutsche Erstausgabe erschien 1977 bei Edition bei Nautilus Hamburg. Der Titel des Textes ist ein Zitat (Situationistische Internationale 1959)

Schnell!

war eine der Parolen, die im Pariser Mai 1968 auf den Mauern auftauchten. Schnell ist auch dieses Buch erschienen. Das Manuskript wurde schon Ende Juli 1968 an den Verlag Gallimard übergeben. Es umfasst eine genaue Schilderung der Ereignisse mit Schwerpunkt auf Paris und Umgebung (die Universitäten, die Fabriken und Unternehmen) und im Anhang Flugblätter und andere Dokumente. Es ist eine parteiliche Zusammenstellung, keine ausgewogene oder wissenschaftliche Darstellung. Die Texte geben die Unbedingtheit der Forderungen, die Direktheit der Gesten wieder und atmen die empfundene Dringlichkeit des Projektes, seine ganze Heftigkeit aus.

Etwas weniger schnell erschien die erste Übersetzung in deutscher Sprache, immerhin aber schon 1977 in einer einmaligen Auflage in der Edition Nautilus (Übersetzung vom Mitgründer des Verlags Pierre Gallissaires und Barbara Merkel). Die Übersetzung war wie viele der damaligen Zeit roh und unprofessionell, was uns aber nicht störte. Hauptsache: Sie war da! Mit dieser Ausgabe kann nun erstmalig eine lesefreundlichere Version studiert werden, die durch die Beibehaltung des damaligen Sprachduktus noch sperrig genug ist.

Schnell wurden auch in jenem Mai die Erfahrungen aus dem historischen Gedächtnis hervorgeholt: die Pariser Commune von 1871, die Räterevolution in Russland 1905, die anarchistische Machnowtschina 1917–1921 im Gebiet der heutigen Ukraine, der Aufstand der Matrosen von Kronstadt 1921, die Selbstverwaltung in Spanien 1936, die Ungarische Revolution von 1956. Das war der Resonanzraum, in dem die Revoltierenden, so wie sie hier geschildert werden, mit der Waffe ihrer subjektiven Empörung loslegten.

Allerdings hatte die Situationistische Internationale, deren Mitglied René Viénet seit 1966 war, schon seit ihrer Gründung Mitte der fünfziger Jahre an einer “Neudefinition der Revolution” gearbeitet und diese Art einer autonomen Eruption außerhalb der üblichen Institutionen der Arbeiterbewegung vorhergesehen. Sie war also in gewisser Hinsicht vorbereitet und hatte ein Verständnis von dem, was sich abspielte. Sie hatte ein begriffliches Instrumentarium und konnte so in die Unruhe, die sich ausbreitete, praktisch intervenieren.

Dass sich in Frankreich, anders als z.B. in Deutschland, diese Art des Denkens so lebhaft entfalten konnte, lag unter anderem auch an den unterschiedlichen Auswirkungen des gerade beendeten faschistischen Regimes. Während in Deutschland die revolutionären Erfahrungen der Klassenkämpfe durch die extreme Zäsur des Nationalsozialismus, den Angriffskrieg und die rassistische Vernichtungsmaschine abgewürgt waren und die Nachkriegsgeneration mit der Einhegung der grauenbeladenen Schuld beschäftigt war, hatte sich der antifaschistische Widerstand Frankreichs in den hegemonialen Vorstellungen der Résistance kondensiert. Diese Kommandovorstellungen der KPF mit ihrem Heldenpathos galt es zu demontieren und statt dessen die Bezüge zur Pariser Commune und zur Räteorganisation aufzufrischen und zu beleben, um zu neuen Aktionsformen und einer neuen Sicht auf die Gesellschaft und ihre Veränderung zu gelangen.

So hatte diese Situationistische Internationale im November 1966 eine “vorbereitende” Aktion unternommen, indem sie mit einigen Studenten der Universität Straßburg eine Broschüre in großer Auflage publiziert und verteilt hatte, welche die Zurichtung der studentischen Ausbildung auf die kapitalistischen Verwertungsinteressen und das damit einhergehende Elend im Studentenmilieu offenlegte, das schnell etliche Störmanöver an den Universitäten ausgelöst hatte. Die Eskalation dieser Störungen führte von der Universität Nanterre aus zur Besetzung der Sorbonne, zur Öffnung der Universität für alle, zu Straßenkämpfen im Quartier Latin mit Errichtung von bis zu sechzig Barrikaden, zu Fabrikbesetzungen in ganz Frankreich. Die Chronologie ist in diesem Buch aufgezeichnet.

Schnell griff der Impuls des Widerstands auf alle möglichen Bereiche der Gesellschaft über, von den Student*innen und Arbeiter*innen zu den Fußballern, die ihren Sport von den Bossen zurückverlangten, zu den jungen Ärzten, die die Funktion der medizinischen Ausbildung und Versorgung der Menschen zu Diensten des kapitalistischen Funktionierens denunzierten, die Werbeleute, die die Abschaffung der Werbung forderten, die Angestellten des Medienkaufhauses FNAC, die ohne eigene Forderungen in den Streik traten, um ihre Solidarität kundzutun, die Menschen, die in den umkämpften Vierteln wohnten und freigiebig Essen, Wasser gegen das Tränengas und kurzzeitiges Asyl vor polizeilichen Verfolgungen boten.

Der Beginn einer Epoche

Was die Situationisten in ihren Diskussionen und Publikationen seit den fünfziger Jahren ausleuchteten, war eine aufbegehrende kollektive Subjektivität ohne Leitlinien von Parteien und Gewerkschaften. Eine wichtige Revolte dieser neuen Art waren die Aufstände von Watts, einem größtenteils von Schwarzen Menschen bewohnten Bezirk im südlichen Los Angeles im August 1965. In der Nr. 10 der Zeitschrift der S.I. erschien im März 1966 der sympathisierende und analysierende Artikel mit dem Titel “Niedergang und Fall der spektakulären Warengesellschaft” (Nachdruck auf deutsch in: Situationistische Internationale, Der Beginn einer Epoche). Straßenkämpfe, Plünderungen, Brandstiftungen, der Einsatz von Soldaten und Panzern zur Unterstützung der überforderten Polizei, 34 zumeist Schwarze Todesopfer, über 1000 Verletzte, 3000 Festnahmen – das ist die kurzgefasste Bilanz. Aber worum ging es? Während die verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen auch der Schwarzen und der Linken die Unverantwortlichkeit und Unordnung eines “führerlosen” Aufstands denunzierten, der mit aller Gewalt niedergeschlagen werden müsse, machten sich die Situationisten an eine Erklärung, die die tiefen sozio-ökonomischen Widersprüche untersuchte. Für sie hatte “kein Rassen-, sondern ein Klassenaufruhr” stattgefunden, und zwar eine Revolte gegen die Welt der Ware, der die “Arbeiter-Konsumenten” hierarchisch unterworfen sind. Während die Spektakuläre Warengesellschaft ständig den Überfluss der Warenwelt vorgaukelt, haben die von diesem Überfluss Ausgeschlossenen sich die Waren unautorisiert und ohne den gesellschaftlich üblichen Tauschwert des Geldes durch Plünderungen angeeignet. Sie haben genommen, was sie wollten, und zerstört, was sie nicht brauchten. Außerhalb der Rationalität der Ware wird die Aneignung zum Spiel. Die Ware, deren “magischer Wille” es ist, gekauft zu werden und nicht einfach ein nützlicher Gegenstand zu sein, der von Menschen produziert wurde, erhält die Konsumenten in aktiver Dienerschaft. Die Unwürde dieser Abhängigkeit haben die revoltierenden Schwarzen Menschen zurückgewiesen. Sie haben Einspruch gegen die vorgesehene Art der Verteilung, an der sie nicht teilhatten, erhoben und eine neue, kostenlose Verteilung in ihrem Viertel praktiziert.

Das Bewusstsein, dass sie keine Macht über ihre Tätigkeiten und ihr Leben hatten, teilten sie mit anderen Teilen des weltweiten Proletariats, der Klasse der Ausgeschlossenen, auch mit den gegen den Krieg in Vietnam revoltierenden Studenten in Berkeley oder Europa, wo sich “unreine” Widerstandsformen entwickelten, die sich den gewohnten ideologischen Zuschreibungen entzogen. Die Revoltierenden von Watts forderten die egalitäre Teilhabe an der Welt des Spektakels, welche aber nicht realisierbar ist, da diese Welt wesentlich hierarchisch ist, egal welcher Hautfarbe die Konsumenten sind. Die universelle Hierarchie der Ware entwickelt unterschiedliche und immer neue Formen der Unterdrückung, des Rassismus, des Ausschlusses etc. Die Logik der Ware ist die Rationalität der gegenwärtigen Gesellschaften, die Grundlage ihrer totalitären Selbstregulierung. Die Ablehnung des Warenverhältnisses, welches auf dem Klassenverhältnis beruht, d.h. der entfremdeten Lebensweise der modernen Gesellschaft, kann nur radikal und universell erfolgen und muss die Ablehnung des Staates mit einschließen.

In der Auseinandersetzung mit dem französischen Kolonialkrieg in Algerien konstatierten die Situationisten in derselben Ausgabe ihrer Zeitschrift (“Adresse an die Revolutionäre Algeriens und aller Länder”, Abdruck auf deutsch ebenfalls in Der Beginn einer Epoche) den Zusammenbruch des am Schema der leninistischen Machtübernahme ausgerichteten Revolutionsbildes, welches die sogenannten Kommunistischen Parteien immer weiter verbreiteten, eine Ideologie, die verschleiert, dass im “Osten” wie im “Westen”, im “Süden” wie im “Norden” dieselbe Gesellschaft der Entfremdung herrscht (das konzentrierte Spektakuläre im bürokratischen Staatskapitalismus oder Pseudosozialismus einerseits, das diffuse Spektakuläre der “Marktwirtschaft” oder “Konsumgesellschaft” andererseits).

Das revolutionäre Projekt wurde überall auf der Welt, wo es aufgetaucht war, von den Spezialisten der Macht übernommen und zum Schweigen gebracht. Die Bewahrung der Passivität, die Kontrolle des Lebendigen ist das oberste Ziel der Gegenrevolution. Das Spektakel als irdisches Erbe der Religion vergiftet das gesamte soziale Leben bis hin zum Bild der Revolution, seinem eigentlichen Gegenpol. Die universelle Unterdrückung geht von direkter Kriegsführung bis zur Fälschung und Lüge, und diese globale Enteignung muss in ihrer Totalität angegriffen werden, wenn sie überwunden werden soll.

Die kommenden Revolutionen müssen “sich selbst” verstehen, ihre eigene Sprache finden und sich international oder transnational gegen die Versuche der Vereinnahmung und Verfälschung, der “Rekuperation”, zur Wehr setzen. Die weltweiten unterschiedlichen Protestformen müssen sich miteinander in Verbindung setzen, neue Modelle der Zusammenarbeit, der tätigen Solidarität und dabei eine “kohärente Basis” finden. Die neuen Kampfformen werden neben und in sich auch die “unreduzierbaren Augenblicke” der uneingelöst gebliebenen revolutionären Geschichte aufnehmen.

In einem dritten wichtigen Artikel der Nr. 10 der Internationale Situationniste wird in dem Beitrag “Die gefesselten Worte” (auf deutsch in Der Beginn einer Epoche) an dieser “eigenen Sprache” gearbeitet. Hier finden sich so auf den Punkt gebrachte Erkenntnisse wie “Jeder Dialog mit der Macht ist Gewalt, erlittene oder provozierte”; “die Disziplinierung der Worte bringt eine tiefergehende Militarisierung der Gesellschaft zum Ausdruck”; “die Macht schafft nichts, sie rekuperiert”; die “Wachhunde des herrschenden Spektakels, die Ideologen jeder Art” nehmen die subversiven Konzepte, die kreativen Energien in Dienst, indem sie sie ihrer Geschichte berauben und in die Denkmaschinen der Macht integrieren. Für die “Befreiung der Worte” ist es wichtig, sie jeder Autorität zu entreißen und ihren Sinn mit dem “wirklichen Leben” zu verknüpfen, gegen jede ideologische Sprache der Macht. Die Worte sind dann Agenten der Befreiung, sie werden den ideologischen Schleier zerreißen, der die Wirklichkeit verdeckt.

Diese zwischen 1955 und 1966 von den Situationisten erarbeiteten Thesen sollten wir zur Kenntnis nehmen, wenn wir uns in René Viénets Bericht über den Mai 1968 begeben.

Wir sind nichts, wir werden alles!

ist die Parole, die eine “jugoslawische Genossin, die viel weiß”, ihrem Text in diesem Buch voranstellte. Sie fordert “Gesten, die keine Bezahlung verlangen; die spontane Organisation in den Händen der Produzenten; die leidenschaftliche Organisation und die Großzügigkeit als Komplizin …”. Das versteht sie unter der Macht der Arbeiterräte. Die “theoretische Rechtschaffenheit”, die ihre Praxis findet. Die Macht zerstören, ohne sie zu ergreifen, nennt sie “erlebte Poesie”. Auch: die Internationalisierung des Erlebten. “Das Minimalprogramm ist der Akt der Zerstörung … Dafür keine Kontrolle, keine Regel” – das setzt an den Erfahrungen aus Watts an und transportiert sie in die europäische Gegenwart. “Die Revolution kann nur alltäglich sein, wenn man gegen die Faszination der Macht kämpfen will. Der Wunsch zu beherrschen, bleibt noch das Gesetz des Augenblicks, die Mentalität des befreiten Sklaven, der Schwindel des Gehorsams … die Mystik der Institutionen und die Religion der Ordnung. … Wir sind alle Herren oder wir sind nichts. Unter dieser Bedingung wird die Arbeit ein großer Lachanfall oder alles. Es lebe die Macht der Arbeiterräte. Nieder mit der jugoslawischen Selbstverwaltung.”

Es versteht sich von selbst, dass der neue Begriff von “Selbstverwaltung” nicht bedeutete, das Vorhandene oder hierarchisch Bestimmte selbst zu verwalten, sondern autonom zu entscheiden, was und wie gemeinsam verwaltet, oder eher organisiert, produziert, gelebt werden soll. Die generalisierte Selbstverwaltung bedeutete im Sprachgebrauch der Situationisten nichts weniger als die bewusste Bestimmung des gesamten Lebens durch alle, d.h. die geschichtliche Konstruktion der freien individuellen Beziehungen, in der die Räte die einheitliche und permanente individuelle und kollektive Emanzipation ermöglichen, indem sie das Imaginäre der Geschichte verwirklichen. Jeder revolutionäre Moment führt zur sofortigen Steigerung der Lebenslust, und aus jeder praktischen Aktion filtert sich die theoretische Verbesserung (und umgekehrt). Die Selbstverwaltung ist Mittel und Zweck des Kampfes, Form und Inhalt, “sie ist die Materie, die sich selbst bearbeitet … (Zum Weiterlesen empfehle ich die Texte aus der letzten Ausgabe der Internationale Situationniste aus dem September 1969, abgedruckt in Der Beginn einer Epoche.)

Der radikale Aufruf zur Selbstermächtigung der jugoslawischen Genossin hatte mich schon bei der deutschen Veröffentlichung 1977 fasziniert, so direkt, so impulsiv, so weitsichtig, so weise, trotz oder vielleicht wegen der Kürze der assoziativen Gedanken! Und dieser Text ist tatsächlich für mein Empfinden eine direkte Vorwegnahme des neuen Tons der Proteste nach der großen Repressionswelle, die die siebziger Jahre prägte und die weltweit das Gespenst der Revolution ausmerzen sollte. Er drückt eine Freiheit aus, die sich in den folgenden Aufständen, Platzbesetzungen, Aktionen gegen die forcierte Marktglobalisierung vielfältige Formen schuf: ihre Basisdemokratie, ihre gleichzeitige Dezentralität, Lokalität und Internationalität, ihre Vernetzung, ihr Autonomieverständnis, ihre Einbeziehung des unmittelbaren Glücks, ihre Poesie und Kreativität, ihr Widerstand gegen staatliche Repression und immer wieder der Versuch, Macht aufzubauen, ohne sie zu ergreifen. (Für den Reichtum an Aktionen sei das Handbuch Wir sind überall der Gruppe Notes from Nowhere von 2003 über die Basisbewegungen in aller Welt ans Herz gelegt.)

Natürlich gibt es auch andere Quellen, insbesondere die langjährigen anarchistischen Traditionen, aus denen sich die weltweiten Bewegungen gegen den globalen Kapitalismus heute speisen. Aber die Situationisten scheinen mir mit ihrer Klarheit und ihrer praktischen Intervention in den französischen Mai 68 von besonderer Bedeutung. Ihre fundamentale Kritik an der Warengesellschaft und die gleichzeitige Ablehnung der damals noch herrschenden Revolutionsvorstellungen und -formen durch ihre tiefgehende Neubestimmung scheinen mir wesentlich. Und der Debatte in Deutschland, in der die situationistischen Ideen immer sehr marginal waren, fehlt eine bestimmte Freiheit und Radikalität.

Lauf schneller, Genosse, die alte Welt ist hinter dir her!

Im französischen Mai 68 war die Bewegung der Besetzungen (mit 11 Millionen wild, d.h. spontan und ohne das Einverständnis und die Struktur von Gewerkschaften und linken Parteien streikenden Arbeiter*innen) das größte revolutionäre Ereignis seit der Pariser Kommune. Es war der erste wilde Generalstreik der Geschichte, und in diesem Monat Mai bildeten sich erneut Strukturen der direkten Demokratie heraus (Vollversammlungen, jederzeit abrufbare Delegierte, Aktionskomitees, Besetzungskomitees). Die Staatsmacht wich in einem heute kaum mehr vorstellbaren Maß zurück. Dieser Nullpunkt der Macht dauerte nur einen kurzen Moment, dann vereinigten sich die Führungskräfte der Alten Welt zum Gegenschlag, und die Besetzungen wurden mit allen Mitteln aufgelöst: Versprechungen, Lügen, militär-polizeiliche Gewalt. Seit den weltweiten sozialen Infragestellungen der “Alten Welt” der späten sechziger Jahre verschärfte diese ihre Verteidigungslinien in Form von Kriegsmaschinen, die keinen Nullpunkt mehr zulassen sollen und die dabei sind, ihre Herrschaft auf den gesamten Menschen (physisch und mental) auszudehnen.

Die “Alte Welt”, das war damals die Welt der Familie, der Religion, der Konventionen, die Identifizierung mit der gesellschaftlichen Rolle, die vorhandenen und verknöcherten Institutionen des Klassenkampfes. All das wurde im Moment des Aufstands über den Haufen geschmissen, mit großer Wucht und wenig praktischen Erfahrungen, was sicher die Schwäche dieses Aufstands wie vieler anderen gescheiterten Aufstände ausmacht.

Was andererseits die Stärke dieses Aufstands (und vieler anderer ebenso) auszeichnet, ist das spontane Wissen, dass alle Entfremdungen zusammen und gemeinschaftlich abgelehnt werden müssen, dass keine Ideologie mehr Gültigkeit hat und dass alle alten Institutionen ausgedient haben. Das Verlangen nach direktem Dialog, nach dem freien Wort, nach echter Gemeinschaft schuf sich in den besetzten Gebäuden Raum, die verhasste entfremdete Arbeit wurde für wenige Wochen ersetzt durch das Spiel und das Fest und die praktische Solidarität. “Ein Hauch von Wahnsinn lag in der Luft”, beschrieb Le Monde die Atmosphäre. Frauen und Männer, Franzosen und Menschen aus anderen Ländern kämpften spontan und gemeinschaftlich. Sie waren nicht mehr getrennt nach Hierarchien, Funktionen oder Rollen, sie kommunizierten in einer gemeinsamen Raum-Zeit. Die kapitalisierte Zeit stand still.

Die hier versammelten Dokumente zeigen, wie die Gewerkschaften und die KP die Streiks ablehnten und bekämpften, bis sie sie nicht mehr verhindern konnten, und dann alles daran setzten, sie zu beherrschen und zu begrenzen. Sie unterbanden die Kommunikation und die Begegnung zwischen Arbeiter*innen und Student*innen, sperrten die Fabriktore gegen die Unterstützung von außen, während die Aufständischen ihre Bosse einsperrten. Deutlich wird auch das Bestreben der verschiedenen linken und linksradikalen Gruppierungen nach der Kontrolle über die in Bewegung geratenen Menschen. Die Funktion der Gewerkschaften als Regulierungssystem des Kapitalismus, die leninistisch-stalinistischen Ungeheuer in den linken und linksradikalen Organisationen, ihre Fixierung auf die Ergreifung der Macht mit der Heftigkeit zu denunzieren, wie es in diesem Buch an vielen Beispielen demonstriert wird, war wahrscheinlich damals unvermeidlich.

Ich nehme meine Wünsche für die Wirklichkeit, weil ich an die Wirklichkeit meiner Wünsche glaube!

Die Telegramme, die das Besetzungskomitee der Sorbonne am 17.Mai in die Welt geschickt hat und die man im Anhang nachlesen kann, sind Ausdruck des Kerns der situationistischen Aktionen: So verstanden die “Wütenden” und Situationisten das Spiel, die Zweckentfremdung, eine selbstbestimmte und selbstbewusste Aktion. Die Telegramme waren an die wichtigsten Archive der Sozialgeschichte in Amsterdam (IISG) und Lausanne (CIRA) gerichtet, an den Genossen Ivan Svitak, einen tschechoslowakischen Philosophen, vom Surrealismus beeinflussten Poeten und prominenten Kritiker des bürokratischen Sozialismus, an die kämpferische Organisation Zengakuren in Japan, an die Politbüros der Kommunistischen Parteien in Moskau und Peking. Die Telegramme an die letzten beiden begannen mit Verve: “Zittert Bürokraten stop die internationale Macht der Arbeiterräte wird euch bald vom Tisch fegen stop die Menschheit wird erst an dem Tag glücklich sein an dem der letzte Bürokrat mit den Gedärmen des letzten Kapitalisten aufgehängt worden ist stop …” Der letzte Satz war als Wandparole in der besetzten Sorbonne zu lesen und unter den Besetzern nicht unumstritten.

Die Vielfalt der Begierden, der tiefen und wirklichen Begierden, die das Menschsein ausmachen, sofern es nicht von der Warenwelt konditioniert ist, waren in den Wandparolen der besetzten Gebäude und der umkämpften Straßen deutlich abzulesen. Die Fotos in diesem Buch dokumentieren sie. Die “Alte Welt” und die “Gesellschaft des Spektakels” haben sie in den Traumwahn der Werbung oder die Ideologie des Funktionierens als Programmierer*innen des eigenen Überlebens verbannt. In Momenten der Eruption kommen sie aus dem Unbewussten zurück. Sie sind Teil des (hoffentlich) unzerstörbaren Imaginären, das, “tief im Inneren” der Menschen aufgehoben, auf seine Chance wartet.

Die Gesellschaft des Spektakels, wie der Titel des grundlegenden Werkes über die moderne Ausbeutung von Guy Debord lautet, war neben dem ebenfalls 1967 erschienenen Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen von Raoul Vaneigem wichtiger Teil einer gesellschaftlichen Reflexion nach dem Zweiten Weltkrieg. Insbesondere das Handbuch der Lebenskunst öffnete die Revolutionsvorstellungen der zu befreienden Subjektivität (in ihrer körperlichen, geistigen, imaginären Vielheit). Die Spuren beider Bücher finden sich im französischen Mai 68, und ihre Autoren waren als Situationisten insbesondere bei der Besetzung der Sorbonne und im Rat für die Aufrechterhaltung der Besetzungen beteiligt. Die Situationisten prägten die Formen der Agitation wesentlich mit: die Parolen, Mauersprüche, Sprechblasen auf Werbeplakaten, zweckentfremdete Lieder, Plakate, Comics. Die Popularisierung der Kritik an der Welt der Ware ging in jenen Wochen weit.

Wütende aller Länder, vereinigt euch!

Der Text René Viénets und die Dokumente im Anhang, ihr Ton (großmäulig, zumeist männlich, heftig, ungezügelt etc.) und ihre Angriffslust mögen für viele eine Zumutung sein, damals wie heute. Sie zeigen uns heutigen Lesenden den Unterschied auf zum aktuellen Diskurs in einer “gezügelten” Sprache. Allein dafür finde ich sie bedeutsam. Sie öffnen einen geschichtlichen Raum: So fing es an, hier stehen wir heute. Wir haben an Sensibilität gewonnen, an Achtsamkeit, an Vorsicht, Rücksichtnahme, Respekt vor Schwächen, Blick auf Diversitäten. Aber wir haben auch verloren, die Wertschätzung des Negativen als Kraft der Aufhebung, d.h. der echten Veränderung, das Bewusstsein über die Notwendigkeit des Bruchs, die Verweigerung und die klare Sicht auf unsere Einbindung in die Gesellschaft des Spektakels, in die Logik der Ware, auf welcher Stufe ihrer Hierarchie auch immer.

Das, was die Situationisten die “totale Emanzipation” nannten, die universelle und einheitliche Befreiung ohne jede Trennungen, ist fast gänzlich aus der Debatte verschwunden. Seitdem die “Überflussgesellschaft” durch den kapitalistischen globalen und totalen Extraktivismus zu einer Gesellschaft des Ausnahmezustands geworden ist, die ständig im Modus von Katastrophe, Krieg und Kollaps operiert, fordert die ideologische Zurichtung ein verstärktes Zusammenstehen, um die permanente Krise zu bewältigen. Wir sollen nun die Welt, wie sie ist oder wie sie vermeintlich einmal war, durch Verzicht und ständige Anpassung an die weiterentwickelten Ausbeutungsformen gemeinsam retten. Und niemand stelle sich beiseite, niemand behaupte ein anderes Narrativ in Form einer fundamentalen Kritik. Die Einheitlichkeit ist heute das Gebot des Zusammenhalts in der Krisenbewältigung, nicht der Maßstab für einen Weg zur herrschaftsfreien klassenlosen Gesellschaft durch die “Aufhebung der Trennungen”.

Der damals so heftig vollzogene Bruch mit der “Alten Welt” der hierarchischen Ausbeutung kann uns noch einmal vor Augen führen, wie total oder auch totalitär die aktuellen Klassenverhältnisse auf die Menschen zugegriffen haben, wie weit sich das “Spektakuläre” von einer äußerlichen Entfremdung in den Menschen hineingefressen hat. So dass es heute noch klarer als damals ist, dass alles zusammenhängt und alles “total” und einheitlich, d.h. universell verändert werden muss.

Alles wird immer wieder neu anzufangen sein

Im aktuellen Frankreich hat sicherlich das Unsichtbare Komitee (mit seinen Aktionen und Publikationen Der kommende Aufstand; An unsere Freunde; Jetzt) am deutlichsten das fortgeführt, was die Situationisten vor mehr als sechzig Jahren begonnen haben. Andererseits sind die Ideen tatsächlich in die “Köpfe aller” vorgedrungen, in die Köpfe der Revoltierenden weltweit: die Unabhängigkeit von staatlichen und para-staatlichen Institutionen, das Desinteresse an Gewerkschaften und Parteien, die Destitution aller gesellschaftlichen Organismen, die sich etablieren. Statt dessen Basis-Demokratie, jederzeit abrufbare Sprecherinnen und Sprecher, egalitäre Strukturen, spielerische Aktionsformen, wo immer der Protest Formen annimmt.

So ist es kein Wunder, dass die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich 2018, genau sechzig Jahre nach dem Mai 68 und mitten in einem sich seit Jahren im Ausnahmezustand befindlichen Land, die Spur der “wilden Streiks” und der “wilden Demokratie”, der wilden Organisations- und Aktionsformen wieder aufgenommen hat. Und dass sie wie ein Gespenst der Revolution wieder aufgetaucht ist, das die herrschende Klasse zu sofortiger und brutaler Bekämpfung durch ihre Anti-Aufstandseinheiten und durch permanente mediale Denunziation veranlasste. Die Schmach der staatlichen Schwäche im Mai 68 sollte sich nicht wiederholen. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass das, was im Mai 68 einen Monat angehalten hat, bei den Gelbwesten mehr als ein Jahr andauerte, und dass die Formen der Aktionen und Vernetzung erheblich weiterentwickelt wurden. So konnte in der Gegenwart die Vergangenheit verbessert und die Tür zum verdrängten Imaginären wieder einen Spalt geöffnet werden.

Da sich die Lebensverhältnisse im Modus von Krieg und Krise nicht verbessern lassen, sondern weiter verschlechtern werden, werden auch Verweigerung und Bruch wieder wichtige Impulse werden. Autonome Strukturen des Gemeinsamen zu finden, d.h. menschliche Sicherheit und Fürsorge, planetare Nachhaltigkeit, Gesundheit für alle, Freiheit der Vielen Verschiedenen, den globalen Schutz der menschlichen und ökologischen Singularitäten in einer Gesellschaft ohne Ausbeutung zu gestalten, das heißt, die “Bewegung des Kommunismus” als ein ständiges Werden anzugehen. Und vielleicht können die Unverschämtheit der Thesen dieses Buches, ihre Großmäuligkeit und Frechheit uns heute, mit dem Abstand von sechzig Jahren, ein großes Lachen schenken, das Lachen, von dem die jugoslawische Genossin, die viel weiß, sprach und das uns die Möglichkeiten einer Öffnung in eine gänzlich andere Welt aufzeigt, in unsere Autonomie und Selbstbestimmung jenseits der spektakulären Warengesellschaft.

Literatur:

Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels. Edition Nautilus, Hamburg 1978

Raoul Vaneigem, Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen. Edition Nautilus, Hamburg 1980/2008

Situationistische Internationale, Der Beginn einer Epoche. Edition Nautilus, Hamburg 1995

Notes from Nowhere, Wir sind überall. Edition Nautilus, Hamburg 2007

Unsichtbares Komitee, Der Kommende Aufstand; An unsere Freunde; Jetzt. Edition Nautilus, Hamburg 2010, 2014, 2017

Raúl Sánchez Cedillo, Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine, transversal texts, Wien 2023