Nummer 27.1 Franco Berardi Resigniert massenhaft!

Massendefätismus, Desertion und Sabotage als gesellschaftverändernde Kräfte

Eine paradoxe Strategie der gesellschaftlichen Totalverweigerung, die wir anwenden können, um das CAOS (Comunità Autonome Operative per la Sopravvivenza) auf den Weg zu bringen: die Operativen Autonomen Überlebens-Gemeinschaften, vorgeschlagen von Franco “Bifo” Berardi

Abteilung 1 / 1. Dezember 2021

Long-Covid des sozialen Geistes

Auf den letzten Seiten seines Romanes “Die Pest” berichtet Camus von der feierlichen Rückkehr der Stadt Oran ins Leben – nach dem Abklingen der Epidemie.

Heute, im Winter 2021, ist kein Zeichen einer Feier am Horizont zu erkennen. Ganz im Gegenteil, es sieht aus, als verstärke sich das psychosoziale Unbehagen beständig. Wer wagt, in Ermangelung von Treffpunkten eine Rave-Party zu veranstalten, läuft Gefahr, als pestverbreitender Giftsalber attackiert zu werden. 

Zu Beginn der Geißelung (durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, Anm. des Übers.) hieß es in der schwachsinnigen Reklame: “Wir werden besser abschneiden”.

Doch zweifelsohne ist das Gegenteil der Fall. Es herrscht allgemeine Nervosität, grassierender Rassismus. Großunternehmen rauben uns mit Gewalt aus. Die Ungleichheit prescht im Galopp voran. Die Profitgier von Big Pharma hat die lokale Produktion von Impfstoffen verhindert und das Ergebnis ist Omicron. Alte weiße Männer haben sich die dritte Dosis gespritzt, die eigentlich an andere hätte gehen sollen. Aber das Virus ist schlauer und bereitet sich darauf vor, ein paar Millionen mehr zu töten, vielleicht sogar mich.

Aber was mich interessiert, ist nicht das Fortbestehen des Virus, sondern eine Art Long-Covid des sozialen Geistes

Long-Covid wird definiert als längeres Fortbestehen von Symptomen verschiedener Art nach Infektion und Genesung. Eine Freundin, die darunter litt, erzählte mir, dass ihre Hauptsymptome ständige Erschöpfung, ein fundamentaler Mangel an Energie und sogar geistige Verwirrung waren.

In der Tat prägen derzeit Erschöpfung und geistige Verwirrung das Bild des Alltags. Das wirtschaftliche, geopolitische und psychische Chaos, das das Virus ausgelöst hat, hat sich trotz der positiven Auswirkungen der Massenimpfung nicht nur fortgesetzt, sondern sogar verstärkt. Proteste auf der Straße, Widerstand gegen das Impfen, die zunehmende Rebellion gegen den Gesundheits-Pass schüren – was auch immer im Einzelnen die Gründe sein mögen ­– insgesamt ein Gefühl der Panik.

Das Virus wirkt als Katalysator für sonst verfeindete Fantasmen: es vereint den paranoiden Geist der Verschwörung mit dem hypochondrischen Geist der Angst, dringt in die Person ein und paralysiert ihre Subjektivität.

Der öffentliche Diskurs ist durchdrungen von widersprüchlichen Alternativen und Doppelbotschaften, mithin von dysfunktionaler paradoxer Kommunikation. Die Gesundheitsverordnungen lösen Gegenreaktionen aus, die sich zunächst in Verweigerung, dann als Phobie äußern (Zuschreibung böser Mächte an den Impfstoff, sowie Verschwörungswahn).

Die Reaktion der Regierenden und der Mehrheit der Öffentlichkeit auf Impfgegner hat autoritären, paternalistischen und aggressiven Charakter: Entlassung, polizeiliche Anzeigen, öffentliche Stigmatisierung, Zensur. Dies führt zu einer massenhaften Viktimisierung, und auf lange Sicht erfüllt sich damit von selbst die paranoide Prophezeiung, die Impfkampagne sei ein Komplott zur Durchsetzung einer totalitären Regierungsform.

Wenn wir der Meinung sind, dass der Widerstand gegen den Impfstoff unvernünftig ist (ich kann dies weder bestätigen noch leugnen, denn ich habe nicht die Absicht, mich mit Fragen zu befassen, die nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fallen), müssen wir ihn als Symptom einer Störung verstehen. Es ist jedoch absurd, den Träger des Symptoms zu kriminalisieren, ebenso wie es nutzlos ist, ihn über seine Verantwortung zu belehren. Der Symptomträger muss behandelt werden. Aber es ist die gesamte Gesellschaft, die von psychotischen Symptomen durchdrungen ist.

Wer heilt wen?

Während die Regierungen absoluten Gehorsam gegenüber den Befehlen des industriell-gesundheitlichen Komplexes verlangen, nutzen sie den Ausnahmezustand als perfekte Voraussetzung für ihre rigorose Privatisierungs- und Prekarisierungspolitik. Der Notstand darf also niemals enden und die Medien müssen die Panikkampagne, die seit fast zwei Jahren den kollektiven Diskurs überflutet, immer weiterführen.

Jeden Tag werden wir stundenlang mit sich wiederholenden Fernsehbildern gefüttert, die einzig und allein dazu dienen, uns zu terrorisieren. Krankenschwestern in grünen Kitteln, Masken und Schutzanzügen, fahrende Krankenwagen und Ampullen, Fläschchen, Spritzen, Injektionen, Dutzende von Injektionen, Hunderte von Injektionen. 

Die Wirkung dieser Offensive, die das gesamte Mediensystem in einer kontinuierlichen Terrorkampagne mobilisiert, ist längst sichtbar. Der soziale Körper schrumpft in der Krise einer uferlosen Hypochondrie, als hätte er Angst, die Angst aufzugeben.

Die Lähmung der Vorstellungskraft und die Schrumpfung des sozialen Körpers sind keine Auswirkung des Virus, sondern die Folge der anhaltenden Ohnmacht der Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, der Verarmung, der Verwüstung der physischen und psychischen Umwelt, Einhalt zu gebieten. Ohnmächtige Wut ist ein höchst pathogener Zustand.

Doch therapeutische Techniken, die eine psychische Epidemie heilen können, welche durch Impotenz, Wut und Einsamkeit entsteht, können nur paradox sein.

Marasmus und Panik

Der Flughafen Kabul als globale Metapher

Bei dem amerikanischen Debakel, das uns in den Augustwochen beschäftigte, hat mich eines besonders beeindruckt: der Marasmus, ein über Jahre ablaufender Auszehrungs- und Entkräftungsprozess.

Biden hatte einige Zeit zuvor versprochen: “Sie werden Szenen wie die in Saigon nicht wieder erleben”, bei denen das Botschaftspersonal vom Dach stürzte. Die Szenen der Evakuierung des Flughafens von Kabul, die verängstigten Menschenmassen, die Gewalt und die Bombardierung, die die ganze Welt miterlebte, waren in der Tat viel schlimmer als Saigon 1975.

1975 hatten die Amerikaner die Evakuierung gut vorbereitet, nur das Botschaftspersonal saß am Ende in der Falle, als der Vietcong in die Stadt eindrang. Doch diesmal war nichts vorbereitet worden, denn die Amerikaner dachten, sie hätten noch sechs mehr oder weniger sichere Monate Zeit. Stattdessen brach innerhalb weniger Tage alles zusammen, und Zehntausende von Mitarbeitern waren dem Schicksal ausgeliefert. Sie hatten geglaubt, dass die Westler allmächtig seien. Sie wussten nicht, dass Westler Feiglinge, Stümper und Verräter sind.

Deshalb glaube ich, dass der Westen politisch am Ende ist: nicht wegen der Gräuel, die seine Herrschaft zu verantworten hat, sondern wegen seiner Inkompetenz, Unwissenheit und Feigheit.

In Wirklichkeit handelt es sich nicht um Inkompetenz, sondern um etwas Tieferes und Beunruhigenderes: Es ist Marasmus, geistiges Chaos. Marasmus ist die Bezeichnung für den Zustand geistiger Verwirrung, in den ein Mensch gerät, der unfähig ist, die Ereignisse seines Lebens zu steuern. 

Als ich die Rede des armen Biden nach dem Anschlag sah, bei dem zweihundert Afghanen, dreizehn amerikanische Soldaten und drei britische Staatsbürger getötet wurden, hatte ich den Eindruck, dass er Unsinn redet.

Marasmus: Ist es nicht das, was mit dem Westen im Allgemeinen geschieht?

Panik entsteht, wenn man einer nicht mehr zu verarbeitenden Komplexität ausgesetzt ist, einer Abfolge von Alternativen jenseits der Entscheidbarkeit: Chaos.

Geschwindigkeit, Komplexität und die Verbreitung sozialer, militärischer und gesundheitlicher Prozesse (die Verbreitung von Viren und deren Mutationen) machen den kollektiven Verstand unfähig, die Welt um ihn herum vernünftig zu verarbeiten und zu steuern.

Panik ist der psychische und verhaltensmäßige Krankheitserscheinung eines Organismus, der von einer Flut unkontrollierbarer Ereignisse überwältigt wird. Der Ursprung der Panik liegt in der Diskrepanz zwischen der Fähigkeit zur bewussten Verarbeitung von Reizen und der Intensität und Geschwindigkeit der Informations- und Nervenreize.

Wir steuern auf eine Situation zu, in der durch Zerstörung der Umwelt, Vermehrung von Konflikten und Beschleunigung von Informations- und Nervenreizen umfassendes Wissen und damit rationale Entscheidungen unmöglich sind. Je mehr wir wissen, desto weniger wissen wir, denn je mehr Informationen wir erhalten, desto schwieriger ist es, eine Entscheidung zu treffen.

Gibt es ein politisches Mittel gegen Panik?

Ich fürchte: Nein! Denn Panik schaltet den politischen Verstand ab. Gibt es ein psychoanalytisches Mittel gegen kollektive Panik? Das ist die einzige Frage, die im Moment zählt. Alles andere ist Marasmus.

Die Situation am Flughafen von Kabul ist eine Metapher für den Zustand der Welt. Drei Monate später in Glasgow wurde die Panik derer, die erkennen, dass die Zeit abgelaufen ist, in noch größerem Ausmaß sichtbar. Der Marasmus der weißen Rasse überwältigt den Planeten und die Zivilisation selbst.

Das Aussterben ist nicht die einzige Aussicht, die uns bleibt, aber es ist die am wenigsten erschreckende.

Störung des integrierten Wirtschaftskreislaufs

Während das Virus ein Versteckspiel treibt und auf unterschiedliche Weise verschwindet und wieder auftaucht, scheinen Anzeichen einer Wirtschaftskrise auf, die kaum noch Ähnlichkeit mit den Krisen des vergangenen Jahrhunderts hat.

Unterbrechungen des Produktions- und Versorgungskreislaufs haben Mangel an elektronischen Bauteilen zur Folge, was wiederum den Auto- und Computerproduktionskreislauf stoppt; ein Mangel an Benzin ist Folge eines Mangels an LKW-Fahrern in Großbritannien; Schiffe, die sich in Häfen drängen, enorme Verzögerungen bei der Abfertigung des Warenverkehrs, unzählige Diskonnektionen, die die Versorgungskette fast überall unterbrechen. Energieknappheit im frühen Winter.

Diese Bilder erinnern weder an die Überproduktionskrisen des letzten Jahrhunderts, noch an die Finanzkrisen. Im Gegenteil, die Aktienmärkte befinden sich sogar in einem triumphalen Aufwärtstrend.

Was ist es dann?

Es ist eine Auswirkung des Chaos, das sich in automatisierten Produktionsketten und somit im täglichen Leben der Bevölkerung auswirkt, die mit einer beharrlichen Panikkampagne bombardiert wird. Es handelt sich also hier um ein Überlastungs-Chaos, das sich zunächst einmal auf die Pandemie zurückführen lässt. Es handelt sich aber auch um eine Auswirkung der Nationalismen, die sich auf wirtschaftlicher Ebene durchsetzen und die Globalisierung zum Bröckeln bringen. 

In der Welt der Pandemie herrscht Chaos. Der technische Automat, der die Warenströme steuert, spielt verrückt, und die Koordinierung der Produktionsfunktionen ist lahm gelegt. Andererseits wissen wir: je integrierter und komplexer ein System, desto komplexer die Auswirkungen von Diskontinuität. Und um so schwieriger wird es, die Automatismen wiederherzustellen.

Im vor uns liegenden Winter werden wir sehen, wie tiefgreifend und weitreichend die Folgen der großen Unterbrechung der Versorgungskette sind: einfache lokale Unterbrechungen, großflächige Hungersnöte, ganze Regionen ohne Heizung, großflächiger Zusammenbruch des zivilen Lebens?

Wir können es nicht wissen, denn die Komplexität des gestörten Systems lässt keine realistischen Vorhersagen zu.  

Ein Teil dieser großen Störung ist der Energieschock, der unter anderem durch zaghafte Dekarbonisierungsmaßnahmen verursacht wurde. Mit dem nahenden Winter müssen sich die Menschen in einigen Teilen der Welt entscheiden, ob sie auf das Heizen verzichten oder Kohleminen wieder in Betrieb nehmen, die zur Einhaltung des Pariser Klimaabkommens geschlossen wurden. Natürlich werden die Kohlebergwerke wieder geöffnet.

Technisch gesehen gibt es keinen Ausweg mehr aus dem Kreislauf der Verwüstung.

Den Winden ausgeliefert

Das Katastrophenszenario, das sich aus der globalen Erwärmung ergibt, hat unerwartet die Kolonialfrage wieder aufgeworfen. Die Länder, die in den letzten zwei Jahrhunderten unter der europäischen Gewalt gelitten haben (vor allem China und Indien), haben deutlich gemacht, dass für sie die industrielle Entwicklung weiterhin Vorrang vor der Temperaturkontrolle hat.

Der Anteil der westlichen Ländern an der in letzten zwei Jahrhunderten verursachten Umweltverschmutzung ist weitaus größer als der Anteil der vom Westen beherrschten Länder. Der Westen müsste also für die Schadensbegrenzung aufkommen. Aber der Westen hat nicht die Absicht, zu bezahlen.

Es ist an der Zeit, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Die gegenwärtige Klimaapokalypse wird sich unweigerlich beschleunigen. Die Erwärmung hat bereits den Punkt überschritten, an dem es kein Zurück mehr gibt. Ganze Landstriche des Planeten werden unbewohnbar. Migrationen sind unvermeidlich und führen überall zu Krieg und Faschismus, weil die weißen Kolonialisten nicht dulden, dass die Kolonisierten ihren Garten beschmutzen.

In Glasgow posaunten die Politiker wieder einmal das übliche Versprechen aus: “Im Jahr 2050 wird alles gut sein.”

Bei dem gegenwärtigen Tempo wird es im Jahr 2050 niemanden mehr geben, der das kontrolliert.

Die 1,5-Grenze für den Temperaturanstieg ist längst nicht mehr realistisch. Indien hat angekündigt, ihr Null-Emissions-Ziel auf das Jahr 2070 zu verschieben.

Die Politik ist auch gar nicht in der Lage, über Proklamationen hinauszugehen, weil die Politiker auf der Gehaltsliste der Umweltverschmutzer stehen. Und vor allem, weil die Politik tatsächlich gar nicht mehr die Macht hat, Entscheidungen zu treffen, noch sonst wirksam gegen das Unumkehrbare vorzugehen, da das politische Gehirn sich im Zustand des Marasmus befindet. Das Einzige, was die politischen Entscheidungsträger tun können, ist daher, die Last des wachsenden Elends auf die Schwächsten abzuwälzen, und das tun sie mit Eifer und Geschäftssinn.

In Italien hat die Regierung Draghi (mit Unterstützung der Fünf Sterne Bewegung und der PD) das vierte Jahr in Folge die Einführung einer Plastiksteuer verhindert. Jeder weiß, dass der unnötige Gebrauch von Plastik die Gewässer des Planeten erstickt. Aber die Wirtschaft steht an erster Stelle, so dass die Plastikproduktion nicht angetastet werden darf. Das ist keine Entscheidung der Politiker, sondern ein Automatismus, aus dem die Gesellschaft nicht herauskommt.

Technisch gesehen gibt es keinen Ausweg mehr aus dem Kreislauf der Verwüstung, da die Zahl der Bewohner des Planeten weiter zunimmt – trotz des vorhersehbaren Rückgangs männlicher Fruchtbarkeit im Norden der Welt –, während der bewohnbare Raum schnell schrumpft und die großen Wanderungsbewegungen, die daraus resultieren, Kriege, Nationalismus und Gewalt verursachen.

Nach Glasgow sind die Messen gesungen und wir tun gut daran, das zur Kenntnis zu nehmen. Katastrophenphänomene werden sich häufen. Wir sollten uns an sie gewöhnen – bis sie uns umbringen.

Unter den sich häufenden katastrophalen Phänomenen gibt es ein einziges, das Voraussetzungen für eine erfolgreiche alternative Strategie für einen Wandel zu enthalten scheint:

Lasst uns massenhaft abtreten!

Aus – zumindest für Ökonomen ­– unerklärlichen Gründen haben seit Beginn der Pandemie viereinhalb Millionen amerikanische Arbeitnehmer ihre Arbeit aufgegeben oder nicht wieder aufgenommen.

Könnte dies der größte Streik aller Zeiten werden?

In einem Artikel mit dem Titel The Revolt of the American Worker schreibt Paul Krugman, dass die amerikanischen Arbeiter erkannt haben, dass es sich nicht lohnt, ihre Zeit für so niedrige Löhne und so miserable Bedingungen zu verschwenden, wie sie in diesem schrecklichen Land herrschen, in dem Urlaub ein inakzeptabler Luxus ist.

Die Unternehmen haben Schwierigkeiten, Arbeitskräfte zu finden, nicht weil die Arbeitslosigkeit verschwunden ist, sondern weil immer mehr Menschen beschlossen haben, dass Arbeit Selbstmord ist, ein Verzicht auf das Leben, eine ewige Demütigung. In Anbetracht der stagnierenden Löhne und der prekären Lebensverhältnisse ist die Arbeitsverweigerung die einzig vernünftige Entscheidung.

Gleichzeitig häufen sich die Disruptionen im Produktionszyklus und in der globalen Lieferkette:

Great Supply Chain Disruption & Great Resignation, das sind zwei Seiten derselben Medaille: der Zerfall der physischen, psychologischen und sprachlichen Voraussetzungen der Energie, die das Kapital antreibt.

Seit Beginn der Pandemie dient mir das Konzept der Psychodeflation dazu, diesen Energieabfall, diesen Zusammenbruch der sozialen Ordnung und die Ausbreitung des Chaos zu verstehen.

Weit davon entfernt, sie als Krankheit zu betrachten, schlage ich vor, die Psychodeflation als Hebel zu benutzen, um den kapitalistischen Automaten zu zerstören und endlich aus dem infizierten Leichnam des Kapitals herauszukommen.

In einem Artikel in der Washington Post schreiben Ishaan Tharoor und Claire Parker: “The Great Resignation goes global“.

Als ich das Wort “Resignation” las, wurde mir etwas klar. Dieses Wort bedeutet im Englischen sowohl “Rücktritt vom Arbeitsplatz” als auch “Resignation”. Ich möchte eine weitere mögliche Interpretation dieses Wortes hinzufügen: Re-Signifikation. Die Resignation ist eine Umstrukturierung des imaginären Feldes. Sie zeigt Perspektiven auf, die durch überkommene kulturelle Haltungen verborgen blieben.

Darüber hinaus ermöglicht die Resignation eine Entspannung der Spannung, die Panik erzeugt, und erlaubt es, sich endlich auf die Zukunft vorzubereiten, ohne weitere pathogene Hoffnung.

Die Zeichen der Resignation mehren sich: 75 % der Befragten sagen, dass sie Angst vor der Zukunft haben, und 39 % gaben in einer kürzlich durchgeführten internationalen Umfrage an, dass sie keine Kinder haben wollen.

Es zeichnet sich eine Art Resignation vor dem Aussterben ab, fast eine Strategie der Selbstauslöschung, die sich paradoxerweise als einziger Ausweg aus dem Aussterben erweisen könnte: die provisorische massenhafte Verweigerung von Fortpflanzung, Arbeit, Konsum und Partizipation.

Die Menschen beschließen, das Spiel, oder besser gesagt die Spiele, aufzugeben.

Ist das ein Problem?

Nein, meiner Meinung nach ist das sogar die Lösung.

In vielen Ländern beteiligen sich die Wähler nicht mehr an den Wahlen. Wir haben uns endgültig mit der Ohnmacht der repräsentativen Demokratie abgefunden.

Sich mit dem Ende des Wachstums abzufinden, ist wiederum die einzige Möglichkeit, den Energieverbrauch zu senken: sich vom alles vergiftenden Konsumzwang zu befreien, sich zur Genügsamkeit zu erziehen.

Das ist die einzige Möglichkeit, dem Stress und der Erpressung zu entkommen, die uns zwingen, Sklavenarbeit zu akzeptieren.

Schließlich ist die Resignation die einzige Möglichkeit, den demografischen Druck zu verringern, der zu Überbevölkerung, Gewalt und Krieg führt.

Ich schlage eine Strategie des Rücktritts in vier Schritten vor:

Erstens

Beteiligen Sie sich nicht an der demokratischen Fiktion, die zum Glauben führt, das Unumkehrbare könne durch die Wahl eines anderen umkehrbar werden.

Zweitens

Nicht arbeiten! Die Arbeit wird zunehmend unterbezahlt, immer weniger garantiert, immer ausbeuterischer, immer nutzloser für die Produktion des Notwendigen. Widmen wir unsere Energie der Pflege, der Weitergabe von Wissen, der Forschung und der Selbstversorgung mit Lebensmitteln. Lassen Sie uns jede Beziehung zur Wirtschaft abbrechen!

Drittens

Nichts mehr konsumieren, was nicht von den Selbstproduktionsgemeinschaften hergestellt wurde, die Warenzirkulation boykottieren.

Viertens

Vermehren Sie sich nicht! Fortpflanzung ist ein egoistischer und unverantwortlicher Akt, wenn die Chancen auf ein glückliches Leben gegen Null tendieren. Das ist ein gefährlicher Akt, denn die bewohnbaren Gebiete des Planeten schrumpfen und die Bevölkerung wächst.

In diesem vierfachen Akt des Rückzugs gibt es ein Prinzip der Autonomie: die Emanzipation vom Squid Game. Der Rücktritt von der Arbeit ist nicht einfach nur Resignation, sondern ein Akt der Selbstbehauptung denkender Individuen, die den Leichnam des Kapitalismus verlassen.

CAOS (Comunità Autonome Operative per la Sopravvivenza) ist dazu bestimmt zu wachsen, nur mit Autonomen Gemeinschaften für das Überleben können wir überleben und vielleicht sogar weiter ein Leben in Zukunft führen.

Paradoxe Therapie

Was als kollektiver Long-Covid erscheint, kann als Effekt der Psychodeflation uminterpretiert werden, etwas, das uns zwingt, oder besser gesagt, erlaubt, das Tempo zu drosseln, weil wir erst jetzt erkennen, dass es keinen Grund mehr gibt, das Tempo zu beschleunigen, Kapital zu akkumulieren, Konsum auszuweiten.

Psychodeflation kann sich als Müdigkeit und Depression äußern, bis man erkennt, dass sie die einzige therapeutische Antwort gegen Panik, gegen Gewalt, gegen Faschismus und gegen Selbstzerstörung ist.

Für Christen ist es eine Tugend, sich dem Willen Gottes zu fügen. Ich glaube nicht, dass Resignation eine Tugend ist, sondern eine Therapie und eine Neudefinition der weltlichen Erwartungen: die Entdeckung eines anderen Horizonts.

Die Resignation ist nicht nur ein Verzicht, sondern auch eine Resignifikation, denn sie gibt den Zeichen, aus denen sich das soziale Leben zusammensetzt, eine neue Bedeutung. Eine Bewegung des Verzichts (auf Arbeit, Konsum, Abhängigkeit) würde der Akkumulationsmaschine alle Energie entziehen.

Es ist illusorisch zu glauben, dass in der Zukunft nach der Pandemie eine Revolution, eine Art demokratischer Aufstand, stattfinden kann. Der kollektive Organismus ist physisch und psychisch geschwächt, Depressionen sind weit verbreitet.

Aber Schwäche kann eine unbesiegbare Waffe für diejenigen sein, die es verstehen, sie strategisch einzusetzen und in ein Massenbewusstsein zu verwandeln. Wir setzen die soziale Energie zurück, wir verzichten auf Arbeit und Konsum. Massiver Defätismus, Desertion und Sabotage.

Dies sollen unsere Waffen in der kommenden Zeit sein.

Es gibt keinen politischen Ausweg aus der Apokalypse. Die Linke ist seit dreißig Jahren das wichtigste politische Instrument der ultrakapitalistischen Offensive. Wer seine Hoffnungen in die Linke investiert, ist ein Schwachkopf, der es verdient, verraten zu werden, denn Verrat ist die einzige Tätigkeit, die die Linke kompetent ausführen kann.

Die (sozialen) Bewegungen sind durch ihre panisch-depressive Psychose zerflossen.

Die Subjektivität ist der Psychose ausgeliefert und für die Gemeinschaft zur Unbrauchbarkeit zerrüttet.

Psychodeflation ist die einzig mögliche paradoxe Strategie, die diesen gesellschaftlichen Zustand in eine Welle der Verlangsamung, der Blockade, des Stummschaltens, der Abschaltung der Maschine umwandelt.

Damit das Leben zurückkehren kann.

Übersetzt aus dem Italienischen von © Janneke Schönenbach und Olaf Arndt, Januar 2022