Nummer 33 Hanna Mittelstädt Polyfone Gefüge

Im Süden

22. Juli 2022. Ich bin zurück von einer kurzen, aber recht weiten Reise. Sitze auf meinem Dach. Ein riesiger Mond steht am Himmel, oder sagen wir ein großer Mond, fast Vollmond, ein frühabendlicher Mond. Ein gelber Mond, oder eher ein weißer, das späte Sonnenlicht reflektierender Mond, ein strahlender Mond an einem strahlenden, hellblauen, blassblauen Sommerhimmel. Der helle große Mond leuchtet, er wird immer intensiver strahlen, er verliert sein Gelb und wird ganz weiß, reines Leuchten, während der Himmel an Farbe verliert und dunkler wird.

Auf der Reise habe ich viel gesehen, aber so einen großen Mond kann ich nicht erinnern. Die Reise ist schon ein wenig her, gerät in Vergessenheit. Einen solchen Mond sah ich nicht, aber den strahlend hellen Sternenhimmel, übervoll mit Lichtpunkten und Milchstraßen, überquellend. Ich schaute ihn vier Abende an, diese Lichter auf dem komplett schwarzen Himmel, immer nur ganz kurz aus dem Fenster eines verlassenen Bauernhauses in den Bergen Aragons. Es war so kalt nachts, dass ich nicht mehr hinausgehen mochte. Nur ein Blick aus dem Fenster vor meinem Bett, ein kleiner Schritt auf einen schmalen Balkon direkt vor dem schmalen Bett.

Das Ende eines Tals, eines langen und weiten Tals, durch das eine Schotterpiste auf 800 m Höhe über Normalnull zu zwei Bauernhäusern führt, eins diesseits, eins jenseits der Piste. In dem höhergelegenen schaute ich aus dem Fenster auf den schattenhaften Gebirgszug gegenüber und auf das als Schafstall genutzte Haus unter mir. Hier war ich am südlichsten Punkt meiner Reise.

Heute komme ich aus dem Kino. Ich sah einen Dok-Film über die Subkulturfilmer der sechziger Jahre in Hamburg. Als Thema und Kulisse fungiert im Hintergrund das damalige Hamburg, an das ich mich kaum noch erinnere. Der Aufbruch gegen das “Establishment” in Kunst und Gesellschaft, kurz vor und kurz nach 1968. Die Freiheit der Filmkünstler, ihr Suchen, Ausprobieren, ihre Naivität, aber auch ihre Beschränktheit, ihre Weigerung zu reflektieren, ihre Kunst in das explosive soziale Gefüge einzubetten. Trotzdem ein beschwingender Film, ich sah gern in die Gesichter der Frauen und Männer, wie sie probierten und sich durchschlugen, und wie alles dann ohne echte Gründe endete. Ihre Experimentierfreude wurde in keine Institution gepresst und ihr kollektiver Aufbruch blieb eine Episode, aber auch fünfzig Jahre später noch eine anregende. Als ich aus dem tiefen Keller des Kinos emporstieg (das originale Kino wurde in guter sozialdemokratischer Hamburger Tradition zugunsten einer Immobilienspekulation abgerissen: oberirdisch jetzt mehretagiger Gewerberaum in zentraler Lage, aber unterirdisch wurde die cineastische Perle komplett neu wieder aufgebaut, quasi ein kulturelles Feigenblatt im 2.Untergeschoss der Tiefgarage), als ich die vielen Treppen emporgestiegen war und abends um halb zehn in das restliche Tageslicht blickte, sah ich den Mond.

Ich sah den Mond, und erinnerte, wie Etel Adnan die Sonne sah. Sie sah eine gelbe Sonne, eine grüne Sonne, eine rote Sonne, sie sah apokalyptische Sonnen, die den Krieg im Libanon beschienen, unbarmherzige Sonnen schienen über einem endlosen, unbarmherzigen Krieg und beleuchteten auch das Massaker in dem palästinensischen Flüchtlingslager Tel al Zataar 1976, das der Anlass für Etel Adnans Gedichtzyklus Arabische Apokalypse ist. Der Mond hingegen, an diesem Abend, beschien eine kleine Welt neben dem Krieg, eine kleine Ecke der Welt, in der der Krieg, der anderswo stattfindet, nicht zu sehen ist. Eine kleine Hamburger Episode, ein Sommerabend, durch den ich zügig mit meinem Fahrrad fuhr. Ich traf eine Freundin im Gespräch mit einer anderen Frau vor einer Bar sitzend, umarmte sie kurz, fuhr weiter, unter dem hellen Mond auf dem sich eindunkelnden Himmel.

Meine Reise endete in Marseille, wo ich die Wohnung einer Freundin für mich allein hatte, und ich erinnere den Mond an meinem letzten Abend. Ich war so endlos viel herumgelaufen. Marseille ist dort, wo ich schlief, staubig und laut, die Busse fahren nur bis neun Uhr abends regelmäßig. Also ging ich zu Fuß. Die Menschen, die hier leben, sollen abends nicht mehr in die Innenstadt und sich vergnügen, sie sind als Arbeitsmaterial vorgesehen. So traf ich nachts, wenn ich zurück kehrte, auch kaum jemanden auf der Straße. Ein paar Autos bretterten vorbei, und ich schlich mich in die Wohnanlage, ein frühes Gentrifizierungsprojekt, auch sechziger Jahre, als die innenstadtnahen Fabriken geschlossen wurden und auf deren Gelände die ersten langen Hochhausblocks in die ansonsten vorstädtischen, kleinteilig bebauten Flächen implantiert wurden. Das Gewimmel der früheren Fabrikarbeiterhäuser ist stehen geblieben, aber unvermittelt ragen dazwischen diese Hochhausriegel empor, die durch Zäune abgesichert sind. Hier zog eine neue soziale Schicht ein. Ich also, sechzig Jahre nach der Errichtung, war nun auch Teil der Nutznießer einer in die Jahre gekommenen Moderne, die aber, das muss man sagen, an dieser Stelle recht schöne, lichtdurchflutete Räume erdacht hatte, aus denen man weit entfernt sogar das Meer sehen kann. Vom urbanen Gefüge aus betrachtet ist das allerdings ein krasser Eingriff. Auf diesen in gewisser Hinsicht gewalttätigen urbanen Eingriff schien ein kleiner Mond, zaghaft, schmal, blass, aber mein Freund, ein bisschen mein Beschützer, als ich so allein und erschöpft nach Hause ging.

Das Gentrifizierungsprojekt von damals hatte übrigens auch den Grund, dass dringend Wohnraum für die Emigranten aus Algerien geschaffen werden musste. 1962, als nach einem langen, monströsen Kolonialkrieg die algerische Unabhängigkeit verkündet wurde, flüchteten Franzosen wie Algerier, die mit den Franzosen zusammen gearbeitet hatten, nach Frankreich, viele nach Marseille. Marseille als Stadt der Emigration ist immer noch stark spürbar: der Bauch von Marseille, der Markt von Noailles, ist, trotz weiterer, fortgesetzter Gentrifizierungsmaßnahmen und durch den langjährigen Bürgermeister gedeckter verschärfter Immobilienspekulation noch in der Hand von Migranten. Man spürt in der Stadt, in der städtischen Kultur, im neu gebauten MUCEM-Museum, dass hier nicht die Metropolen-Elite von Paris am Werk ist. Es ist weniger Geld vorhanden, aber es wird auch stärker auf die Bewohner geschaut, auf die sozialen Brennpunkte. Als vor zwei Jahren die Ansteckung mit dem neuen Corona-Virus mit breiten Lockdowns bekämpft werden sollte, hieß es aus Marseille: das gravierendste Problem sei nicht das Virus, es sei der Hunger. Die Schließung der Schulen hatte bewirkt, dass für massenhaft Kinder die überlebenswichtigen Schulspeisungen ausblieben. Dem musste zivilgesellschaftlich entgegengewirkt werden, denn die staatlichen Stellen waren dazu nicht in der Lage.

Ganz nah vor dem Hafen Marseilles liegen die Frioul-Inseln. Auf das offene Meer hin ein altes, verfallenes Fort, wie überhaupt die gesamte Inselgruppe lange Zeit eine militärische Anlage war, und eine Quarantäneanlage zu Zeiten der Pest und des Gelbfiebers. Man entdeckt überall auf und zwischen den Kalksteinfelsen Reste von Bunkern und Betonmauern, auch Bombenkrater aus dem Beschuss der deutschen Faschisten. Jetzt liegt ein Yachthafen an dem Verbindungsdamm zweier Inseln, eine Aquazucht in einer kleinen Bucht. Erst Mitte der siebziger Jahre wurden die Inseln für die zivile Öffentlichkeit freigegeben und sind ein Stadtteil von Marseille geworden, vorn am Hafen eine Touristenzeile mit Restaurants und Souvenirläden und dahinter ein paar Ferienwohnungen. Nur wenige Menschen leben hier ganzjährig. Bei meinem diesjährigen Besuch nahm ich das Schiff an einem Sonntag bei strahlendem Sonnenschein, das Boot war fast ausgebucht, ich erwischte den letzten Platz. Die Insel voller Menschen, Ausflügler, Sonnenhungrige, in jeder der kleinen Calanquen dümpelten Segelboote. Ganz Marseille war offenbar zum Picknick und zum Abhängen hergekommen … Das war ungewohnt für mich, ich war noch nie im Sommer hier gewesen.

Es war auch das genaue Kontrastprogramm zu den vorherigen Stationen meiner Reise: Vor Marseille war ich in den Cevennen gewesen, in einem spröden, leer und ärmlich wirkenden Bergort hatten meine Freunde und ich uns, nach einem heiteren Abend und einer ersten Übernachtung im frisch renovierten Gästezimmer ihres gerade erworbenen Hauses, auf der von Bäumen beschatteten Terrasse eines einfachen Cafés verabschiedet. Ich stellte mich zu den wartenden Reisenden an der Hauptstraße, die Sonne brannte erbärmlich auf uns herab, und wartete auf den Bus. Der kam pünktlich, war wohlklimatisiert und fuhr uns alle durch die immer grüner und sanfter werdenden Berge bis hinunter nach Montpellier. Allerdings nicht in die Innenstadt oder zum Bahnhof, sondern zu einer Straßenbahnstation im Nirgendwo der Vorstädte, man musste eine Tram nehmen, um ins Zentrum zu gelangen. Am Tag vorher hatten meine Freunde mich am Bahnhof von Montpellier abgeholt, weil der Bus zu ihnen nur zweimal am Tag fährt. Sie hatten nicht mit dem Verkehrsinfarkt der Stadt gerechnet. Trotz der Versuche der Stadtverwaltung, die Autos aus der Altstadt herauszuhalten, wegen der Baustellen und wegen unzureichender Konsequenz der Autofreiheit, waren sie stundenlang herumgeirrt, und als wir uns endlich trafen und zurückfahren wollten, ging die Irrfahrt wieder los, nur in die andere Richtung. Diese Probleme hatte ich mit Bus und Tram nicht.

Der Bus, der die Cevennentäler mit Montpellier verbindet, war groß und komfortabel, wie übrigens auch die modernen Trams im Montpellier, die scheinbar ununterbrochen verkehren. Anders die Busse in Marseille, von denen viel zu wenige fahren und die mit viel zu wenig Sitzplätzen ausgestattet sind. Als ich an der Endstation einer U-Bahn mit einem Freund in einen Bus stieg, um noch weiter aus der Stadt hinauszufahren, erwischten wir zwei Sitzplätze gegenüber, ich hatte den breiteren, wo Mütter mit einem Kind sitzen können oder ein sehr breiter Mensch. An der nächsten Station quetschte sich zielstrebig ein Mann neben mich, der offenbar von der Arbeit kam, ein alter, ärmlich gekleideter Mann mit einer Plastiktüte, die er in seinen Händen hielt und knetete. Er drückte sich an meinen Schenkel und genoss es augenscheinlich, ein leichtes Lächeln zog über sein Gesicht. Wie lange hatte er nicht mehr an einer Frau gelegen, und jetzt immerhin der Schenkel. Ich rückte so weit wie möglich ans andere Ende des Sitzes, aber er rückte gleich nach. Er roch nach Alkohol und Essen, er grinste zufrieden, und ich entschied, ihm die Annehmlichkeit zu lassen. Unter den Augen des Freundes gegenüber würde ja nichts passieren. Und Sitzplätze gab es in diesem unbequemen, rumpeligen Bus wirklich zu wenig.

Verkehrsprobleme gab es auch beim Durchqueren der Pyrenäen von Barcelona nach Frankreich. Da fuhren tatsächlich nur zwei durchgehende Züge pro Tag. Ich hatte den zweiten gebucht, 9 Uhr morgens, und fand ihn bis kurz vor der Abfahrtszeit nicht auf der Anzeigetafel. Dann die Auskunft: der TGV sei gecancelt, auf Nachfrage die Erklärung: technische Probleme auf der Strecke. Der nächste TGV in meine Richtung war einen Tag später vorgesehen. Ich entdeckte, dass es einen Regionalzug bis zur Grenze gab, er fuhr in wenigen Minuten an einem anderen Teil des Bahnhofs ab: andere Zuggesellschaft, andere Sicherheitsstufe, anderer Service. Also hinein, ein völlig überfüllter Zug, offenbar war in einem Ort auf dem Weg zur Grenze ein Großereignis. Aber ich hatte noch einen Sitzplatz erwischt und erfreute mich an der langsamen Fahrt von Ort zu Ort durch das Pyrenäenvorland und dann durch die Pyrenäen, gemächlich durch das Grün, die laut schwatzenden Leute um mich herum. Am Grenzbahnhof stand ich etwas verloren herum, nachdem ich vom spanischen in den französischen Teil des Bahnhofs gewechselt hatte, aber irgendwann tauchte ein französischer Regionalzug auf, und ich gelangte an mein Ziel, vier Stunden später als geplant.

Ostseeküste

Zwischenzeitlich habe ich einen Kurzbesuch bei mehreren Freunden an der nordostdeutschen Ostseeküste gemacht. Ich schlief in einem schlichten, holzverkleideten Bauwagen und in einem ehemaligen Werkstattschuppen einfacher Nachkriegshäuser. Der Schuppen war aber nach ästhetischen Maßstäben renoviert worden, mit neuen Fenstern, einem schönen Holzfußboden, freigelegten Dachstreben und so manchem Fundstück alter Handwerkskunst als Einrichtungsgegenstand ausgestattet. Ich besuchte ein großzügig renoviertes Gutshaus in der letzten Bauphase, gedacht als Ort der Kunst und kultivierten Begegnung, mit großartig angelegtem Park, die alten Bäume in erhabener Pracht, und eine Art Gegenstück, einen ehemaligen LPG-Lagerraum, zwischen einer Durchgangsstraße und einem Teppichcenter gelegen, dahinter ein Getreidesilo, auf einem mit Betonplatten versiegelten Gelände. Auch dieser Lagerraum wird für menschliche Nutzung umgestaltet, ein kleiner Garten mit Hochbeet wurde schon angelegt. Er wird Schutz geben für Menschen, die aus der gesellschaftlichen Norm und Routine herausgefallen sind, aus den Ruinen des Kapitalismus. Diesen banalen Raum zu gestalten ist eine Krisenintervention. Er gibt Obdach für Menschen und Platz für Vorräte. Er gibt auch Platz, um sich andere Welten vorstellen zu können, von denen wir ja wissen, dass es sie gab und dass sie immer wieder möglich sind. Lebensoptionen, Ausgestaltungen der Prekarität. Auf dem Weg hierher, inmitten eines dank des 9-Euro-Tickets vollbesetzten Regionalzuges, hatte ich Anna Tsings Buch Der Pilz am Ende der Welt gelesen, aus dem ich den Titel dieser Geschichte entlieh und das mich mit ihrer Wissenspraxis durch Erzählungen und ihrer Analysetechnik der unbestimmten Begegnungen beeindruckte. Eine Forscherin und Wahrnehmungskünstlerin.

Die Orte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sind hier, nahe an der Küste, hübsch renoviert, trotzdem strahlen sie eine merkwürdige Leblosigkeit aus. Busse verkehren selten und sind zudem jetzt, in der Schulferienzeit, fast komplett leer. Autos überall, fahrend, stehend, stop and go, Parkplätze, Campingplätze und der schmale Sandstrand berstend voll. Bescheidene Kulissen für ein Urlaubsvergnügen, dem das Vergnügen abhanden gekommen zu sein scheint. Alles ist zum Bild erstarrt. Krieg und Krise, die in Dauerschleife durch die Medien hereinrieseln, lassen die Freude gefrieren.

Jenseits der Pyrenäen

Ein ganz anderes Zeit- und Raumgeflecht zuvor auf der Reise nach Aragon ins Haus meiner Freunde: Die nächste Bahnstation war 100 km entfernt, nur ein direkter Zug aus Barcelona pro Tag. Die nächste Busstation 35 km entfernt, zwei Busse täglich aus Barcelona. Die Freunde, die das verlassene Bauernhaus übernommen haben, holten mich an der Bahnstation ab. Ein Haltepunkt im Freien, außerhalb des Ortes gelegen, ein kleines Gebäude davor, ein Parkplatz. Dann EU-genormte Schnellstraßen, eine relativ flache Karstlandschaft, irgendwo der Ebro, der immer wieder gestaut und als Bewässerungsreservoir genutzt wird. Lidl, Autowerkstätten, Supermärkte jeder Art, unwirtliche Straßendörfer, dann eine Abzweigung. Eine Regionalstraße, hier wird es schöner. Wir machten Rast in einem hellen, frisch restaurierten, sehr kleinen Bergdorf, am Platz eine Kirche aus der Maurenzeit. Wir saßen draußen vor einer Bar und aßen, was es gab. Außer uns waren noch ein paar Handwerker da, ein paar Freunde des Hauses, aber die blieben drinnen. An der Hauswand ein großes Banner gegen die Aufstellung von Windkraftanlagen. Auch hier soziale Konflikte, ausgelöst durch die EU-normierten Fortschrittsideen (Energieproduktion von Konzernen, Warenversorgung durch die globalen Ketten, Fleischindustrie, industrielle Landwirtschaft).

Weiter auf der Regionalstraße Richtung Auswilderung. In Aragon hat Spanien die Einwohnerdichte Lapplands: 1 Mensch pro Quadratkilometer. Verlassene Dörfer, verlassene Bauernhäuser, verlassene Terrassenwirtschaft. Im Ort, wo die Schotterpiste beginnt, wohnen noch dreißig Personen, es gibt eine winzige Bar mit wenigen Lebensmitteln. Im Ort, der dem Bauernhaus meiner Freunde am nächsten liegt, wohnen zur Zeit drei Personen: zwei Schäfer, die neben den Kühen und Schafen, die sie versorgen, auch einen gut gefüllten Hühnerstall haben, und eine alte Dame, die uns bei unserem ersten gemeinsamen Besuch im Ort perfekt frisiert und geschminkt in einem eng anliegenden dunkelroten Kleid entgegen kam und mit uns plauderte.

Wir besuchten die Schäfer, bekamen die Hühner gezeigt, und wir zwei Frauen durften dann auf dem Dorfplatz sitzen. Ein Tisch, ein paar Stühle mitten auf dem Platz. Der Freund war bester Freund der Schäfer. In deren Küche bereitete er uns das späte Frühstück zu: Omelette, gebratene Würste, Brot, Oliven, Peperoni und Wein. Als Nachtisch Kaffee. Während wir da saßen, kamen auch andere Männer vorbei, setzten sich dazu, tranken ein Bier, der Förster, ein Handwerker … Man kennt sich hier, schaut vorbei, tauscht sich aus. Neben der bescheidenen Dorfkirche ist eine kleine Bar, mit Tresen, ein paar Tischen und Stühlen eingerichtet. Da lagerten ein paar Flaschen Bier, die die Männer sich holten. Die Bar wird zum Tag des Kirchheiligen geöffnet, denn dann wird hier gefeiert. Und dann kommen ein paar von denen zurück, die von hier weggegangen sind, weggehen mussten, weil hier nichts ist, wovon man leben kann. In der Bar hängt ein einziges Bild, ein gerahmtes Gemälde, es zeigt in realistischer Malweise einen Tisch mit einem Teller und einem Laib Brot darauf. Das ist alles.

Das Dorf liegt an einem Fluss, einem reißenden Fluss. Hier unten ist alles grün, üppig und saftig grün. Das Karstgestein lässt das Wasser herabstürzen, in Wasserfällen, Rinnsalen, es stürzt hier herunter in den Fluss, und der Fluss stürzt weiter durch das Tal. Die Reste eines Wasserkraftwerks sind zu sehen, es wird nicht mehr genutzt, denn etwas weiter weg wird das Wasser nun zu einem See für die Landwirtschaft gestaut. Das Bauernhaus meiner Freunde hat eine eigene Quelle oberhalb des Hauses. Sie ergießt sich in ein gemauertes Bassin, ein eiskalter Pool, und der Überlauf wird in endlos vielen Schläuchen weitergeleitet: ins Haus, in den Garten, auf die Terrassen mit Mandelbäumen …

In Marseille hat man zur Feier der Ankunft des städtischen Trinkwassers Mitte des 19.Jahrhunderts ein prächtiges Palais gebaut mit einem großen Park und einer pompösen Brunnenanlage mit rauschenden Wasserfällen und Fontänen. Auch hier in diesem Tal im verlassenen Aragon würdigt man das Wasser, am Flussufer sind Gärten und kleine landwirtschaftlich genutzte Flächen, wo immer das Tal es zulässt. Wanderwege sind ausgeschildert, schattige Rastplätze angelegt. Wir stiegen zu Fuß den Berg hinauf, um zurück ins Haus der Freunde zu gelangen. Auf dem Weg ein schon lange verfallener Weiler, der aus mehreren kleinen Gebäuden besteht. In den Gebäuden liegen noch völlig verstaubt und durcheinander diverse Haushaltsgerätschaften. Niemand holt das heraus, denn es gibt keine Straße hierher, man müsste die Sachen tragen … In ein Haus gingen wir hinein, über Schutt und Staub und die liegen gelassene Einrichtung gelangten wir in den ersten Stock: da hing das Foto an der Wand, ein gerahmtes Schwarz-weiß-Porträt. Der junge Mann, der älteste Sohn der Familie, die hier gelebt hat, ist einer der in Mauthausen umgebrachten Spanier. Als Kämpfer der Republik war er nach dem Sieg der Faschisten über die Pyrenäen geflohen – der Weg vieler Republikaner: Lager – Arbeitseinsatz an der Maginot-Linie – Fluchtversuch in die Schweiz mit Auslieferung durch die Grenzer an die kollaborierenden Franzosen bzw. Gestapo. Endstation Steinbruch und Gaskammer in Mauthausen 1941. Das hielt die Guardia Civil nicht davon ab, die Familie bis weit in die fünfziger Jahre hinein zu malträtieren, denn der Geist desjenigen, der schon längst umgebracht worden war, könnte sich hier ja noch herumtreiben.

Der Osten Aragons war in den Jahren 1936/37 Schauplatz eines großartigen Experiments. Hunderte Dörfer nahmen nach dem Putsch des Militärs gegen die Republik ihre Geschicke selbst in die Hand. Über nahezu anderthalb Jahre organisierte sich die Landbevölkerung kollektiv und föderativ, schaffte vielerorts das Geld ab. Sie lebte die Revolution bis zur zunächst stalinistischen, dann faschistischen militärischen Zerschlagung. Unter der Diktatur Francos herrschte in diesen Bergen die Repression, bis in den sechziger Jahren die letzten Widerständigen zur Strecke gebracht waren. Diese Bergregion war bereits zu Beginn des 14.Jahrhunderts die letzte Zufluchtstätte einiger versprengter Katharer aus Südfrankreich, die hierhin vor ihrer drohenden Vernichtung durch die Kreuzzüge der päpstlichen Kirche geflohen waren. Die Resonanz dieser Vergangenheit steckt noch in den Dörfern. In ihrer Verlassenheit und ihrer Armut, in den Augen und Gesten ihrer wenigen Bewohner.

Wir verließen dieses Tal der vergangenen und gegenwärtigen Hoffnung mit dem Van einer Französin, die einen Freund und mich in Barcelona absetzte. Während die Automobilität in Montpellier schon einen urbanen Infarkt darstellte, die Autobahnen, Straßenlabyrinthe, Baustellen, Sperrungen, so war die Anfahrt nach Barcelona das Ganze hochpotenziert. Unglaublich. Als passionierte Bahnfahrerin bin ich einfach raus aus den Zuständen des automobilen Wahns. Straßen in Etagen, sechs- oder achtspurige Autotrassen neben und übereinander, und alles verstopft. Die Französin steckte ihr Handy auf die Konsole und fuhr nach GPS, immer wieder neu gestartet. Wir landeten in seltsamen Vororten, aber entkamen den Staus. Und in der Metro, in die wir an irgendeiner Endstation stiegen, war es luftig klimatisiert und leer. Keine Verkehrsprobleme mehr.

In Paris, der ersten Station meiner Reise, umging ich die urbanen Verkehrsprobleme durch intensive Nutzung der kommunalen Leihfahrräder. Was für ein Vergnügen. Ich besuchte meinen Bruder, der hier lebt und die besten Wege kannte. Ich sauste ihm hinterher, nachts durch die leeren Straßen, tagsüber durch fahrradgeeignete Schneisen. Wir besuchten sogar die Champs Elysees, die voller Touristen und Schaulustiger waren. Wir stiegen in den ersten Stock des dänischen Konsulats und besichtigten eine Ausstellung junger, von den Situationisten beeinflusster Künstler. Was für ein Weltenwechsel: unten die spektakuläre Warengesellschaft in heißgelaufener Hochtourigkeit, oben die staatlich geförderte Kunst, deren revolutionärer Gestus kaum mehr spürbar war und niemanden interessierte, außer uns beiden.

Von Paris aus nahm ich den TGV nach Barcelona, wo ich zu Fuß vom Bahnhof Sants in die Altstadt zu meinem dort lebenden Freund ging. Gleich hinter dem Bahnhof, der in den siebziger Jahren wie ein Flughafen außerhalb der Innenstadt erbaut wurde und nun in verschiedenen Sektoren die verschiedenen Bahnkategorien beherbergt (Hochgeschwindigkeitszüge, Regionalzüge, Metro), durchquerte ich einen großen, staubigen Platz, dann etliche unwirtliche, viel befahrene, staubige Straßen, bis ich zufällig auf eine der neu eingerichteten “Superilles” traf: auf einigen Kreuzungen im Zentrum Barcelonas ist der Autoverkehr ausgeschlossen (bis auf den von Anwohnern und Lieferwagen), Bänke, Grünpflanzen, bunte Markierungen auf dem Straßenasphalt sollen für mehr urbane Qualität sorgen. Sozusagen eine städtisch geförderte Gentrifizierung, ein kleiner Veränderungsversuch im Meer der urbanen Probleme. Barcelona war heiß, der Tourismus in vollem Gange, wir blieben auf der improvisierten Dachterrasse meines Freundes und schauten auf die Gassen hinunter, die sich des sozialen Lebens immer weiter entleeren.

In Barcelona war es zu versmogt für einen großen Mond, in Paris hatten wir abends keine Gelegenheit zum Schauen. In Hamburg sah ich schon vor dem großen, strahlenden Mond einen kleinen. Eine Zweijährige, die ich erfreuen wollte, indem ich ihr ein Eis versprach, welches aber erst hinter einem großen Kreisverkehr, hinter einer lauten Baustelle, hinter einer weiteren Straße mit viel Verkehr zu haben war, schrie begeistert in all die urbanen Unwirtlichkeiten und Ablenkungen hinein und zeigte auf etwas, was ich zunächst gar nicht ausmachen konnte: es war ein kleiner Mond, ein Nachmittagsmond an einem sehr hellen Himmel. Er zeigte sich als eine dünne Sichel, eine zarte, fast transparente Sichel auf diesem hellblauen Himmel über all dem Verkehrschaos unten auf dem Planeten Erde. Aber die Zweijährige hatte sich nicht ablenken lassen. Sie hatte ihn in all dem Wirrwarr gefunden, ihr Leitgestirn: den Mond.

Auf der Schotterpiste, die in das aragonesische Tal führt, in der die Freunde von mir ein Haus für “den Geist” schaffen, einen Raum für Deprogrammierung und Auswilderung, wo die sozialen Ermattungserscheinungen einer Frischzellenkur unterzogen werden können, einen Raum für menschliche Begegnungen, für das Verlassen der Isolation, für eine echte Selbstfindung, auf dieser Piste war ich diejenige, die sich nicht ablenken ließ, als ich im Auto der Freunde das erste Mal hier längs fuhr, in das Tal hinein. Hinein in einen Raum der Konzentration, in dem kein Wirrwarr herrscht, sondern eine steinige Landschaft mit vielen Grünanteilen, ein geradezu irrwitzig langer, zerklüfteter, fantastisch geformter Bergrücken. Ich bat die Freunde anzuhalten und das Auto zu verlassen, als wir in das Tal einbogen. Dieses Panorama musste bestaunt werden, mit den Füßen auf der Erde. Respekt musste dem entgegengebracht werden, was wir da sahen, vielleicht sogar Verehrung. Ein paar Geier kreisten in der Luft. Und wir standen auf der Piste und schauten auf diese Landschaft, die in klarer Mittagsluft strahlte. Und die sich später mit einem strahlenden Himmelszelt bedecken würde. Das war der südlichste und der imposanteste Punkt meiner Reise.