Nummer 9, 4. Juli 2020 Jørgen Johansen Die Normalisierung des Außergewöhnlichen als ernsthafte Bedrohung unserer Sicherheit

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Technik gegen die Angst

Die Intention meines Textes ist es, deutlich zu machen, dass eine “totale” Überwachung, wie sie jetzt schnell und vorbei an allen demokratischen Regularien installiert wird, um kurzfristg unsere Angst vor dem Virus in den Griff zu bekommen, eine dauerhafte “Normalisierung” dieser neuen Technologien und der mit ihnen vebundenen Einschränkungen zur Folge haben wird.

Ich nenne es “Angst vor dem Virus”, weil ich nicht glauben mag, dass diese neuen Technologien tatsächlich dafür nützlich sind, die Ausbreitung des Virus effizient zu stoppen. Diese hi-tech-Systeme, die unsere Eliten mit der Ausrede auf die Pandemie an uns ausprobieren, können dann umstandslos in den kommenden Jahren für andere Zwecke eingesetzt werden – ganz unabhängig von und jenseits der Eindämmung des Virus.

Der Terror der Ausnahme
In seinem Buch “Homo sacer/II/1: Ausnahmezustand” untersucht Giorgio Agamben die Folgen von Politiken und Regulierungen, die unter außergewöhnlichen Umständen eingeführt und die dann als “normal” institutionalisiert werden: der Ausnahmezustand wird zur Regel. Ein Beispiel dafür könnte der Patriot Act der USA von 2001 sein, der nach dem Angriff vom 11. September 2001 erlassen wurde und zu einer massiven Ausweitung der staatlichen Überwachung führte. Ähnlich verhält es sich mit dem 2002 im Rahmen von George W. Bushs „Krieg gegen den Terror“ eingerichteten Gefangenenlager Guantanamo Bay, in dem Gefangene auf unbestimmte Zeit ohne Gerichtsverfahren festgehalten und gefoltert wurden.

Die Befürworter solcher ausserordentlichen Massnahmen rechtfertigten diese mit dem aussergewöhnlichen Kontext, in dem sie eingeführt wurden – sie wurden als notwendig erachtet, um das Leben von Zehntausenden unschuldiger Menschen auf der ganzen Welt zu retten. Aber im Laufe der Zeit haben sie die Ausserordentlichkeit “normalisiert”, sie hat einen gewissen Grad an Akzeptanz gewonnen, da der Ausnahmezustand, in dem sie eingeführt wurde, sich beständig verlängert. Darüber hinaus wurden solche Praktiken auf andere Bedrohungen “ausgedehnt”. So haben wir von den vielen Geheimgefängnissen erfahren, die von der CIA im Rahmen des Krieges gegen den Terror an schwarzen Orten rund um den Globus eingerichtet wurden, in denen Gefangene Folterregimen ausgesetzt sind, die gegen alle Normen und Vorschriften des Völkerrechts verstoßen.

Wir haben gesehen, wie sich die Definition von Terrorakten im Laufe der Zeit erweitert hat und bis heute den “Wirtschaftsterrorismus” einschließt – Handlungen transnationaler oder nichtstaatlicher Akteure, die die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität eines Staates stören, wie sie bei einem Runden Tisch im Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik im Jahr 2005 definiert wurde. Eine solch weit gefasste Definition trägt natürlich dazu bei, die Versuche der israelischen Regierung zu legitimieren, die globale Bewegung für Boykott, Entzug und Sanktionen (BDS) zu untergraben, indem sie solche Aktionen als eine Form des Terrorismus brandmarkt. Wenn eine Kampagne, die uns auffordert, keine Produkte aus illegalen Siedlungen zu kaufen, als Terrorakt definiert wird, wissen wir, dass wir uns in anormalen “normalen Zeiten” befinden.

Covid-19 und staatliche Überwachung
Eine ähnliche “Normalisierung des Außergewöhnlichen” zeigt sich jetzt in den extremen Mitteln, die zur Verfolgung von Personen eingesetzt werden, die mit dem Virus infiziert sind, das zu Covid-19 führt. Neue, von den Staaten und der Überwachungsindustrie entwickelte Instrumente wurden von Gesetzgebern, Angehörigen der Gesundheitsberufe, wissenschaftlichen Gremien und Polizeikräften auf der ganzen Welt gebilligt und für notwendig und legitim gehalten.

Eine Pandemie ist per Definition eine globale Bedrohung. Als solche wird sie alle Arten von Medien beherrschen. Da der Nachrichtenkonsum von Medien ohne die traditionelle redaktionelle Verantwortung (so in den “sozialen Medien”) zunimmt und ernsthaftere Kanäle ein kleineres Publikum bekommen, können die Informationen über die Bedrohungen oft ein unrealistisches Bild der damit verbundenen Gefahren vermitteln. Verschwörungstheorien kursieren frei im Netz und werden regelmäßig durch Re-Tweets von Staatsoberhäuptern und anderen Personen in einflussreichen Positionen untermauert. Das Ergebnis ist eine Angst, die im Vergleich zu anderen Todesursachen als unverhältnismäßig empfunden werden könnte. Und natürlich, wenn Menschen Angst haben, nehmen sie, wenn nötig, wahrscheinlich immer mehr Verletzungen ihrer bürgerlichen Freiheiten in Kauf, um die Bedrohungen in vernünftigen Grenzen zu halten.

Politische Panik
Wir sehen Politiker auf der ganzen Welt, die eine Reihe von Vorschlägen für neue Gesetze unterstützen, die offene und demokratische Gesellschaften direkt bedrohen. Was sie in diesen Zeiten der politischen Panik gebilligt bekommen haben, wird in Zukunft sicherlich für ganz andere Zwecke verwendet werden.

In vielen Ländern setzen Geheimdienste und Sonderpolizeikräfte riesige Programme zur mobilen Datenerfassung, Apps zur Aufzeichnung persönlicher Kontakte mit anderen, mit Gesichtserkennung ausgestattete Videoüberwachungsnetze, Formulare, die ausgefüllt werden müssen, bevor man aus seiner Wohnung nach draußen gehen darf, und Drohnen zur Durchsetzung sozialer Isolationssysteme ein.

Solche Methoden sind sowohl von autoritären Staaten als auch von Demokratien übernommen worden und haben Unternehmen, die private Daten extrahieren, verkaufen und analysieren, lukrative neue Märkte eröffnet. Einige prahlen sogar damit. In einem Leitartikel der Washington Post (20. April 2020) verwies Mark Zuckerberg auf eine von Facebook gestartete Opt-in-Umfrage (bei der die Nutzer aktiv mitmachen durch Anklicken von Check-Boxen) zum Thema “Infektionsymptome”, die Forschern der Carnegie Mellon University helfen könnte, Covid-19-Fälle ortsabhängig zu prognostizieren. Im Erfolgsfall würde das Projekt Landkreis für Landkreis Einblicke in Infektionsketten bieten und für Beamte des öffentlichen Gesundheitswesens und der Krankenhäuser, die sich auf größere Wellen von Patienten vorbereiten müssen, von großem Nutzen sein. Sicherlich ist eine solche außerordentliche Überwachung gerechtfertigt, wenn sie dazu beiträgt, das Virus unter Kontrolle zu halten und zu verwalten.

Exzeptionalismus als politische Technologie der Neuen Rechten
Exzeptionalismus ist die Strategie der stillschweigenden Perpetuierung des Außerordentlichen. Die Geschichte ist voll von Fällen, in denen außergewöhnliche Situationen die Türen für den Einsatz außergewöhnlicher Mittel geöffnet haben, und diese Mittel neigen dazu, sich auf lange Zeit in unseren Gesellschaften festzusetzen. Neue Kontrollmittel normalisieren sich leicht und kommen in Situationen und Umständen zum Einsatz, die weit von denen entfernt sind, die zum Zeitpunkt ihrer Einführung erwartet wurden.

Das Problem der Normalisierung des Außergewöhnlichen entsteht insbesondere dann, wenn die Technologie und die damit verbundenen Anwendungsregeln auf die politische Überwachung angewandt werden. Dann wird es zu einer Bedrohung für alle Arten von sozialen Bewegungen, politischen Kampagnen und gewaltlosen Aktionen.

Wenn wir in die Geschichte zurückblicken, können wir uns die Folgen dieser mächtigen Überwachungsinstrumente in den Händen von Hitler, Mussolini, Mao, Stalin oder des Apartheidregimes in Südafrika nur vorstellen. Wer weiß, wie sich die politische Landkarte der Welt in den nächsten Jahrzehnten verändern wird? In ganz Europa und darüber hinaus sind neofaschistische, ultranationalistische politische Bewegungen im Entstehen begriffen – Jobbik in Ungarn, National Revival in Polen, die Lega in Italien, Vox in Spanien und ähnliche Parteien, die in viel zu vielen Ländern der Welt auf den Straßen marschieren. Parlamente voller Politiker des Typs „Alternative für Deutschland“ wollen die Überwachungssysteme, die entwickelt wurden, um Covid-19-Fälle aufzuspüren und zu verfolgen, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Mittel gegen ihre politischen Gegner und Kritiker einzusetzen.

Die Rückverfolgung von Kontakten könnte bei der Kartierung ansteckender Krankheiten hilfreich sein. Aber wie sieht es aus, wenn sie zur Kartierung von Aktivistennetzwerken von heute und morgen eingesetzt wird? Da rechtspopulistische Politiker aufmarschieren und in so viele Parlamente in der Welt einziehen, ist es eine schwierige Aufgabe, zu verhindern, dass dieselben Instrumente zur Identifizierung von “Unruhestiftern” eingesetzt werden, die ihre Ansichten darüber, wie die Gesellschaft organisiert werden sollte, nicht teilen. Es ist theoretisch unmöglich, ein Instrument nicht zu erfinden oder zu verhindern, dass es für einen anderen als den ursprünglich beabsichtigten Zweck eingesetzt wird.

Biopolitik und Freiheit
Die Keime für einen Aufschwung des anhaltenden Konflikts zwischen “effektiver Polizeiarbeit” und dem Schutz der Bürgerrechte, der individuellen Integrität und der politischen Freiheit werden von wohlmeinenden liberalen und demokratisch gesinnten Politikern gelegt, die neue Gesetze und damit verbundene Technologien, die leicht missbraucht werden können, unkritisch befürworten.

Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, wie wir diese Instrumente weniger anfällig für Missbrauch machen können. Bei diesem Bemühen sollten wir die Einsicht des deutschen Soziologen Max Weber in Bezug auf die kulturellen Folgen der Säkularisierung und den Fortschritt der wissenschaftlichen Rationalität im Auge behalten. Seine Sorge war, dass mit der Befreiung von traditionellen Weltanschauungen und dem damit verbundenen Hokuspokus eine Verarmung unserer Welt einherging – der Verlust dieses Gefühls des Staunens über übernatürliche Kräfte, die sich unserer Kontrolle entziehen, der Verlust der Magie. Mit anderen Worten, je mehr wir unsere Fähigkeit, unsere Umwelt zu kontrollieren, weiterentwickelten, desto mehr wird der eiserne Käfig der Rationalität (Max Weber) immer enger und einschränkender. Mögen wir die Kraft entwickeln und erkennen, dass im Moment ein vergleichbarer Prozess am Werk ist – es könnte nämlich passieren, dass in dem Maß, in dem wir uns mittels Technologie von der Angst vor dem Virus befreien, wir den eisernen Käfig der Überwachung und die Kontrolle durch die Eliten stärken.

Wir müssen eine offene Diskussion darüber führen, wie wir diese Instrumente weniger anfällig für Missbrauch machen können. Es mag schwierig sein, die Kontroll-Systeme nach der Pandemie zurückzuschrauben, aber es könnten einige Schritte unternommen werden:

– Notstandsgesetze dürfen nur für einen kurzen Zeitraum in Kraft sein und müssen dann zwangsläufig beendet werden.
– die gesammelten und gespeicherten Daten müssen anonymisiert und später vollständig gelöscht werden.
– unabhängige Kommissionen müssen vollen Zugang zu dem laufenden Prozess haben und sicherstellen, dass die Regeln so transparent wie möglich befolgt werden.

Wenn nicht einige ernsthafte Maßnahmen ergriffen werden, um eine hemmungslose Ausnutzung derjenigen Entscheidungen zu verhindern, die in diesem Frühjahr übereilt und in Panik getroffen wurden, wird die erste Hälfte des Jahres 2020 in künftigen Geschichtsbüchern nicht für eine Pandemie, sondern für die Entstehung neuer Überwachungsmechanismen weltweit in Erinnerung bleiben.