Nummer 18 Hanna Mittelstädt Autonomie

Das Buch des Humanökologen Andreas Malm, Wie man eine Pipeline in die Luft jagt, ist 2020 bei Matthes & Seitz auf Deutsch erschienen – Zeit, sich zum Thema Autonomie, politische Aktion und Militanz in aller Ruhe und Freiheit ein paar tiefere Gedanken zu machen. Denn die Klimakatastrophe, die aktuelle Auflösung rechtsstaalicher und zivilisatorischer Prinzipien, der fortgesetzte Ausnahmezustand, das fortgesetzte Sterbenlassen im Mittelmeer und der exklusive Schutz von Privilegien und Reichtum fordern eine klare Haltung – und einen kühlen Kopf.

Kontrollierte politische Gewalt?

“Wir müssen unsere Freiheit dadurch herstellen, dass wir Löcher in das Gewebe dieser Realität schneiden, indem wir neue Realitäten schaffen, die ihrerseits uns formen werden. Sich unentwegt in neue Situationen zu begeben, ist der einzige Weg, um sicherzugehen, dass die eigenen Entscheidungen unbelastet durch die Trägheit der Gewohnheit, von Gesetz oder Vorurteil fallen … “ CrimethInc 2003

Um es gleich eingangs festzuhalten: Die mögliche Schlussfolgerung aus der Lektüre von Andreas Malms Buch, nämlich: Es sei jetzt Zeit für eine kontrollierte politische Gewalt, halte ich für rückwärts gewandt. Inwiefern könnte eine politische Gewalt kontrolliert sein? Wer kontrolliert? Begriff und Vorstellung einer (wie definierten?) Kontrolle sollten in den neuen sozialen Bewegungen nicht mehr eingesetzt werden. Auch politische Gewalt klingt eher nach bestehender oder angestrebter Staatlichkeit, bzw. staatlichen oder staatszugewandten Vorstellungen.

Ebenso könnte man schlussfolgern, dass die Zeit des reinen Redens vorbei sei, jetzt gehe es um Aktionen: Diese Art druckerzeugende und ausschließende Haltung kenne ich persönlich seit den militanten Aktionen der RAF, die mit den gleichen Worten „legitimiert“ wurden. Solcherart „robuste Haltung“ sollten wir hinter uns lassen. Es wird so lange geredet, wie es nötig ist, und vor (oder nach oder während) dem Reden kommt noch das Denken und der vor-politische, sogar der vor-bewusste Raum der Vorstellungen, Wünsche, Träume: das Imaginäre, das für „das Neue“ unerlässlich ist.

Nie ist etwas vorbei, immer beginnt alles von neuem. Keine Wiederholungen, sondern Verschleifungen, Abschleifungen, Abschweifungen, Anreicherungen. Wenn sich doch reine Wiederholungen, Erstarrungen einstellen, ist ein Bruch notwendig. Ein Bruch, der die Freiheit zum Neubeginn eröffnet. Desertation, neue Initiative.

Sabotage – die Ströme des giftigen Kreislaufs unterbrechen

Was ich Andreas Malm hoch anrechne und warum ich sein Buch in der Debatte als sinnvoll und anregend ansehe, ist seine Rechtfertigung der militanten Aktionen, der militanten Sabotage, des Angriffs auf das Eigentum, die Aktualisierung der Klassenfrage Süd-Nord bzw. Nord-Nord und Süd-Süd innerhalb der globalen Klimabewegung. Das finde ich gut lanciert und wichtig. Niemand ist moralisch oder ethisch verpflichtet, die Institutionen des Kapitals, der Welt der Gierigen, zu schonen, weder die staatlichen noch die der Wirtschaft.

Natürlich: Autos kennen keinen Schmerz, SUVs schon gar nicht. Eine gesprengte Pipeline unterbricht unmittelbar die Ströme des giftigen Kreislaufs des Kapitals. Das gerät in der hiesigen Nord-Gesellschaft zu leicht in Vergessenheit.

Das Problem liegt für mich eher in der konventionellen Vorstellung von „Zweigleisigkeit“ (militant und gewaltlos). Die direkte Aktion nur mit militanter Aktion oder Sabotage gleichzusetzen, missachtet den reichen Erfahrungsschatz der globalen Gerechtigkeits-Bewegung : von den Zapatisten , die eine nicht-hierarchische, horizontale, global vernetzte Bewegung durch den Aufstand in Chiapas mit einer neuen Sprache und Vorstellungswelt akzentuierten, über die weltweiten Platzbesetzungen, all die autonomen, mit den Kämpfen gegen die kapitalistische Globalisierung und den Einfluss des IWF zusammenhängenden Bewegungen (militanter oder zivilgesellschaftlicher Art) , bis hin zu den Gelbwesten in Frankreich und der Klimabewegung der Jetztzeit.

Direkte Aktion

Malm lobt zwar die „Autonomie“ der Klimabewegung, besonders in Deutschland. Frankreich wäre unbedingt hinzuzufügen (ZAD). Aber es gab und gibt international sehr ähnliche Bewegungen, für die direkte Aktion mehr ist als autonom entschiedene Militanz. Direkte Aktion bedeutet viel mehr: freie Diskussion, keine Führer, keine funktionstragenden Delegierten oder Affinitätsgruppen, Vollversammlungen, Aktionsformenreichtum, Aktionsformenautonomie, regionale, überregionale, globale Assoziationen – um nur einige Merkmale zu nennen.

Diese Bewegungen bauen auf den Erfahrungen seit den Zapatisten auf und auf den Räteströmungen und der Vielschichtigkeit und Militanz der großen Streiks von 1968.

Die direkte Aktion umfasst alle direkten Interventionen vom Nachbarschaftskomitee oder dem Gesprächskreis, der individuellen Plakat-Aktion bis hin zur militanten Sabotage. Einfach alles, was eine Welt, die repressiv ist, auf direkte, nicht vermittelte Art in Frage stellt.

Direkte Aktion umfasst auch die Vorstellung: das Ziel ist der Zweck, der Weg ist das Ziel oder wie auch immer, das, was die Zapatisten „fragend schreiten wir voran“ nannten. Wir sind auf dem Weg, und: Weg und Ziel sind eins. Weg und Ziel stehen nicht von vornherein fest. Es gibt allerdings Grundregeln der Herrschaftslosigkeit, auch der Gewaltlosigkeit untereinander, der Toleranz, des Zuhörens, des gegenseitigen Respekts.

In dieser Hinsicht finde ich Malm merkwürdig fixiert auf die großen, doch weitgehend institutionalisierten Bewegungen der Suffragetten, des ANC und der Bürgerrechtsbewegung in den USA mit ihren zwei Flügeln: zivilgesellschaftlich und militant. Das bringt uns heute nicht mehr wirklich weiter. Die Zweigleisigkeit kann eine strategische Etappe sein, geht aber nicht an die Wurzeln einer emanzipatorischen Praxis.

Die zentralen Fragen scheinen mir heute eher die zu sein: Wie kommen wir aus dem Überdruss und dem „Totlaufen“ der politischen Routinen und Denkmuster heraus, aus der immer wiederkehrenden „Forderungshaltung“, auch aus dieser merkwürdigen aktuellen Äußerungsangst und Kritiklosigkeit angesichts der staatlichen Maßnahmen des Ausnahmezustands gegenüber der Virusepedemie?

Wie lässt sich verhindern, dass aus der freien, kreativen, basisdemokratischen Energie des Anfangs immer wieder Tendenzen der Kontrolle und der institutionellen Verfestigung entstehen? Hängt diese fast wie ein Automatismus auftretende Entwicklung mit unserer tief sitzenden Angst davor zusammen, dem Zustand des Chaos zu vertrauen? Also lieber einen Schritt zurück in die bekannten Muster zu tun, als sich dem Neuen auch nach der Anfangseuphorie weiter anzuvertrauen? An dem Punkt, wo die Frustration einsetzt, die Ermüdung … tauchen die alten Muster auf: Kontrolle, bekannte Strukturen, Machtpolitik …

Wir sollten uns vertrauen

Wie nehmen wir bei jeder Kritik an der Verfasstheit der Gesellschaft und der Kritik unserer eigenen revolutionären, widerständigen Aktivitäten stets in den Blick, dass es uns um eine „andere Welt“ geht? Dass diese andere Welt ein anderes Leben bedeutet? Ein anderes individuelles und soziales Leben. Dass wir dieses andere Leben jeden Tag neu schaffen? Dass es ein Prozess ist, der nie aufhört, der aber Schritt für Schritt, Moment für Moment vor sich geht.

Wir sollten nicht Forderungen an ein vermeintlich seine Rechte überschreitendes Gegenüber stellen – den Staat, die großen ökonomischen Player, den Anderen -, sondern unmittelbar mit der Schaffung einer neuen Welt beginnen, die alten Muster verlassen, neue, autonome, fluide Strukturen schaffen.

Wir sollten Bindungen der Freundschaft trainieren, Begegnungen, Reibungen zwischen verschiedenen Lebensformen, Wahrnehmungen und Welten, und ein tiefes Verständnis der menschlichen Pluralität, die Heterogenität der Lebensweisen zu akzeptieren lernen. Sich nicht angleichen wollen. Formen schaffen, nicht Institutionen, das Entstehen dieser vielfältigen Formen zulassen, ihre Verwandlung begleiten.

„Wir sollten uns vertrauen“ als Basis jedes politischen Aktivismus – so wie es der Titel von Luisa Michaels Buch über die Gelbwesten nahelegt.

Nicht: Wir sollten uns gegenseitig kontrollieren und auf die Finger hauen, d.h. einschränken und lähmen, begrenzen, regulieren, zähmen …

Im Resonanzraum der Autonomie

Müssen wir nicht verstehen lernen, ganz tief an der Basis unserer Vorstellungen und Aktionen, dass alle Materie ein Schwingungsfeld, und auch ein individuelles und subjektives Gewebe ein Schwingungsfeld ist? Reaktion und Resonanz in Permanenz? Aufeinander Bezogenheit?

Die Autonomie, auch die in einem klassenkämpferisch-politischenVerständnis, sollten wir neu und radikaler verstehen lernen: nicht nur als Selbstermächtigung, sondern als Resonanzraum, als Einheit der Menschen mit der Natur, den Tieren, der Welt. Das zeigt uns ja der aktuelle Virus im Brennglas!

Ich meine, dass man nur über diese Vorstellung des gesamtmateriellen, gesamt-gesellschaftlichen, gesamtweltlichen Resonanzraums wirklich weiter kommt: über die Angst hinaus, die Kontrolle fordert, hinein in das Vertrauen gegenüber der Autonomie anderer oder unserer Umgebung, die meiner nicht wirklich schaden kann, weil wir gleichberechtigt und gleichwertig sind.

Nur dieses ständig erneuerte Vertrauen – wie es ja zu Beginn der Platzbesetzungen, zu Beginn der Gelbwestenversammlungen, zu Beginn der Geländebesetzungen immer wieder praktiziert wurde – wird die Räume in die neuen Vorstellungsweisen öffnen, wird uns aus den Routinen entlassen, wird uns die Lust bescheren, uns gegenseitig zu bereichern und zu erneuern, statt zu kontrollieren, zu be- oder verurteilen. Nur das ständig erneuerte Vertrauen wird uns die Angst vor der Verunsicherung nehmen, hingegen jede Verunsicherung als Neuanfang sehen lassen.

Dieses Verständnis von Autonomie kann nicht nur auf der Ebene einzelner Aktionen gelten, sondern in einem allgemeinen Verständnis der Welt: als ein aufeinander Bezogensein aller Wesen. Ich denke, Nur wenn dieses tiefe Vertrauen den Aktionen auf der praktischen Ebene unterliegt, können wir Misstrauen und Kontrollbedürfnisse sein lassen.

In den Nischen der autonomen Aktion wird eine andere Welt ausprobiert. Diese Nischen wachsen aber nicht über ausgehandelte Verträge, sondern – wie gesagt – über eine tiefgreifende verallgemeinerte, auf Respekt basierende Grundierung des Vertrauens!

Werdet fluid!

Es gibt keine „Planungssicherheit“. Das ist nur eine bürokratische Phrase.

Zu den Phrasen gehört auch die „Zielgerichtetheit“. Ziele sind eine strategische Etappe, die morgen neu zu bestimmen ist. Wirklich verstehen, dass alles immer in Resonanz ist. Veränderlich, fluide. „Be water“! – wie die poetische Beschreibung jener Strategie lautet, mit der Black Lifes Matter die Entblockierung kreativer Prozesse in ihren Demos umsetzen. Sehr einfach, sehr weise.

Sprache, Gesten, Aktionen sind nicht Instrumente, „Mittel zum Zweck“, sie sind Mittel und Zweck zugleich, sie sind auf sich selbst bezogen, autonom – wie die Kunst! Als Mittel und Zweck setzen sie, revolutionär eingesetzt, also im Sinne einer globalen Freiheit, Gleichheit und Solidarität, die Kräfte der Unterdrückung, Ausbeutung, Ausgrenzung außer Kraft – auch die herrschende Vorstellung von Recht und Gewalt-, indem sie radikal unabhängig sind, unabhängig auch von zugewiesenen oder selbst definierten Zwecken, autonom in der Gesamtheit aller autonomen Initiativen. Jedes Mittel, jeder Zweck, jedes Instrument, jede Aktion, jeder Gedanke ein – autonomer – Schritt „ins Offene“.

Der leere Raum im Zentrum der Macht

Wie unschwer zu erkennen ist, las ich in diesem Zusammenhang noch einmal den „Ausnahmezustand“ (2003) von Giorgio Agamben, insbesondere ab S.73, wo er den Benjaminschen Begriff der „reinen Gewalt“ aufnimmt. Darin zitiert Agamben auch Foucault, der von dem „neuen Recht“ sprach, das von jeder Disziplin und von jedem Verhältnis zur Souveränität frei wäre.

Und Kafka, dessen Figuren laut Agamben dabei sind, die gespenstischen Formen des Rechts im Ausnahmezustand zu studieren und zu deaktivieren, mit ihnen zu spielen!

Sei ein Spiel!

„Eines Tages wird die Menschheit mit dem Recht (ebenso: mit den Vorstellungen von Autorität und Kontrolle, von Wissenschaften und Experten, mit der Verfasstheit von Staaten und Institutionen, Ergänzung von Mittelstädt) spielen wie Kinder mit ausgedienten Gegenständen, nicht um sie wieder ihrem angestammten Gebrauch zuzuführen, sondern um sie endgültig von ihm zu befreien. Was sich hinter dem Recht befindet, ist nicht ein in höherem Maße eigentlicher oder ursprünglicher Gebrauchswert, der dem Recht vorausgeht, sondern ein neuer Gebrauch, der erst nach ihm erwächst. … dieses Spiel ist die Bahn, die zu jener Gerechtigkeit Zugang zu finden erlaubt, die ein postumes Fragment Benjamins als den Zustand der Welt bezeichnet, in dem sie als Gut erscheint, das absolut nicht anzueignen und für das Recht unzugänglich ist.“ (Agamben S.77, Hervorhebung Mittelstädt)

Am Schluß seines Textes (S.102) fasst Agamben zusammen:

„Was der Schrein der Macht in seinem Zentrum enthält, ist der Ausnahmezustand – aber dieser ist wesentlich ein leerer Raum, in dem sich menschliches Handeln ohne Bezug zum Recht mit einer Norm ohne Bezug zum Leben konfrontiert sieht. … 

Ja, der Ausnahmezustand hat heute erst seine weltweit größte Ausbreitung erreicht. Der normative Aspekt des Rechts kann so ungestraft entwertet, ihm kann widersprochen werden von einer Regierungsgewalt, die im Ausland internationales Recht  ignoriert, im Inneren einen permanenten Ausnahmezustand schafft und dann vorgibt, immer noch Recht anzuwenden. (Agamben schrieb das nach 9/11, Anm. Mittelstädt)

Im Recht seine Nicht-Beziehung zum Leben und im Leben seine Nicht-Beziehung zum Recht offenbar werden zu lassen, heißt, zwischen ihnen einen Raum für menschliches Handeln zu eröffnen, der vormals den Namen des „Politischen“ für sich einforderte. …

Und nur von diesem Raum aus … werden wir uns einem „reinen“ Recht gegenüber sehen in dem Sinne, wie Benjamin von einer „reinen“ Sprache und von „reiner“ Gewalt spricht. Einem Wort, das nicht verpflichtet, nicht befiehlt noch etwas verbietet, sondern nur sich selbst spricht, entspräche ein Handeln als reines Mittel, das, ohne Bezug auf ein Ziel, nur sich selbst zeigt. Und, zwischen den beiden, kein verlorener Urzustand, sondern allein der Brauch und die menschliche Praxis, welche die Mächte des Rechts und des Mythos im Ausnahmezustand einzufangen versucht hatten.”

SEI EIN SPIEL!

Literatur:
Giorgio Agamben, Ausnahmezustand. Frankfurt a.M. 2004
Wir sind überall – weltweit, unwiderstehlich, antikapitalistisch. Hamburg 2007
Niels Boeing, Alles auf Null – Gebrauchsanweisung für die Wirklichkeit. Hamburg 2011
David Graeber, Direkte Aktion – Ein Handbuch. Hamburg 2013
Unsichtbares Komitee, Jetzt. Hamburg 2017
Luisa Michael, Wir sollten uns vertrauen – Der Aufstand in Gelben Westen. Hamburg 2019
Andreas Malm, Wie man eine Pipeline in die Luft jagt, Berlin 2020

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