Nummer 36.1 Bert Papenfuss Schlaffzahn

Empörung und Entrüstung oder Zerstörung und Verwüstung. Freie Assoziationen über Probleme des anarchistischen Pazifismus.

1982/83 leistete ich 18 lange Monate meinen Dienst als „Bausoldat“ in „anderen Organen“ der Nationalen Volksarmee ab, wozu man den Arsch in der Hose haben mußte: Wir „Waffendienstverweigerer“1 waren im Widerstand gegen die Vereinnahmung durch den Staat die „Harten“; man mußte sich schon trauen, dem Wehrkreiskommandanten ins Gesicht zu sagen: „Ich verteidige die DDR nicht mit der Waffe in der Hand.“ Was während des Zusammenbruchs der DDR übrigens auch niemand von den Angehörigen der bewaffneten Organe getan hat. All unser idealistischer Heldenmut war also so umsonst, wie ideologischer Heldenmut insgesamt, zumeist jedenfalls, und auf längere Sicht. Nichtsdestotrotz bin ich immer noch Reservist, denn ich gelobte: „Der Deutschen Demokratischen Republik, meinem Vaterland, allzeit treu zu dienen und meine Kraft für die Erhöhung ihrer Verteidigungsbereitschaft einzusetzen.“2 – Wie bindend ist ein „Gelöbnis“ auf einen untergangenen Staat? Das sollten sich vorab schon mal die Patrioten noch existierender Staaten fragen.

Ein gut Teil meiner nonkonformistischen Selbstbehauptung gegenüber staatlichen Behörden war damals natürlich der juvenilen Eitelkeit geschuldet: Entweder war man Poseur und sein eigener Frisör, meist ohne Geschick und Gewähr; oder aber im Widerstand, für den man kaum Mitstreiter fand, geschweige denn handgreifliche. Und erst recht keine „Sympathisanten“, die an staatsfeindlichen Handlungen wenigstens „klammheimliche Freude“ empfunden hätten. Maulhelden entpuppten sich später als informelle Mitarbeiter. – Immerhin hat die DDR in meinem Namen keinen Krieg geführt, außer gegen sich selbst. Und noch dazu verloren – fast ohne mein Zutun –, was will ein Anarchist mehr? Der Wunschzettel ist natürlich lang, aber jetzt nicht Thema dieser Erörterung.

Zurück in den Muff der Asche: Ich war ein Stück südlich von Berlin in Storkow kaserniert, also im Empfangsradius der UKW-Feindsender. Der mittlerweile selige DJ John Peel spendete mit seinem über den englischen Soldatensender BFBS ausgestrahlten zweistündigen Independent-Programm den Trotz der Woche. Im Herbst 1982 spielte er die Single How Does It Feel? (to Be the Mother of a Thousand Dead)3 der englischen Anarcho-Punk-Band Crass. Das sperrige Stück Agitprop gegen den Falkland-Krieg kam damals bei meinen zumeist christlich-bürgerlichen „Kameraden“ nicht gut an; einerseits aus ästhetischen Gründen – damals herrschte Neue Deutsche Welle –, andererseits ist eine als kakophonischer Turbopunk daherkommende anarchopazifistische Agitation auch aus politischen Gründen nicht Jedermanns Sache, leider.

Außerdem war der Krieg mittlerweile vorbei: Großbritannien beklagte 258 Gefallene und 777 Verwundete, Argentinien 649 Gefallene und 1.068 Verwundete. Body count: 907 Tote und 1845 Verwundete, dazu kommen Tausende Veteranen, also Krüppel und Pflegefälle mit großem sozialen Konfliktpotential. Von der DDR aus gesehen ein kleiner militärischer Konflikt zwischen zwei kapitalistischen Ländern in einer weitabgelegenen Region, der uns speziell nichts anging, aber prinzipiell, so viel Mitgefühl hatten wir jedenfalls.

Schon im Frühjahr 1982 brachten Crass den unanständigen Song Sheep Farming in the Falklands4 heraus, und zwar in Form einer anonymen durchsichtigen Flexi, deren Auflage von 20.000 Expl. von dem Vertrieb Rough Trade entweder in Alben als Gratis-Beilage plaziert oder in den Rough-Trade-Läden auf Anfrage kostenlos abgegeben wurde. Der verdienstvolle Crass-Mitbegründer Penny Rimbaud erinnert sich: „Wir wollten ein lustiges Lied rausbringen. Ich schrieb es, bevor die Belgrano5 unterging. Als es noch wie ein Witz schien, weil bis zu dem Punkt noch niemand verletzt worden war. Ich erinnere mich, wenn wir Sheep Farming auf Tour spielten, hatten wir ein riesiges Banner mit dem gesamten Text drauf. Eve6 ging mit einem Zeigestock rum, die Idee war, daß alle mitsingen – es war ein Riesenspaß. Wir waren auf Tour, als die Belgrano unterging, und das Ganze war nicht mehr lustig … es wurde zu etwas, das Leben kostete. Wir hatten wirklich ein großes Problem – spielen wir den Song weiterhin? Machten wir, aber die ganze Färbung hatte sich geändert. Es gab einen Bezug zur Versenkung der Sheffield7 – an dem Punkt waren wir noch zu unsicher, ein klares öffentliches Statement abzugeben. Wir beschlossen für den Fall, daß uns jemand ankreiden sollte, zu behaupten, es sei ein Bootleg – jemand muß ihn bei einem Gig aufgenommen haben – ‚hat nichts mit uns zu tun, Alter‘. Rough Trade willigte ein, die Flexi in jedes alte Album zu stecken – so brachten wir sie raus.“8

Crass kann man viel vorwerfen, oder auch nichts – was fast meiner Meinung entspricht –; jedenfalls kaum etwas, was sie nicht selbst bis zum Äußersten des damaligen Kenntnisstandes in endlosen Plenen diskutiert hätten – und trotzdem mußten sie mit Widersprüchen leben. Ging schon mit dem Namen los: Die Crass-Urgesteine Steve Ignorant und Penny Rimbaud berufen sich auf den Song Ziggy Stardust von David Bowie, in dem es heißt: „The kids was just crass.“ In dem Lied geht es um einen Rockstar, den Gitarristen und SängerZiggy Stardust, der aus mehreren realen Personen (Jimi Hendrix, Lou Reed, Iggy Pop, Mick Ronson usw.) kollagiert ist; Bowies lyrischer Senf ist die eigentliche Würze des Songs: Er war ein Nazarener mit einem gottgegebenem Arsch („he was the nazz with God given ass“), aber die Kids waren richtig krass; wobei unklar bleibt, ob die „kids“ das Publikum oder Bandmitglieder von Ziggy Stardust sind. Er hat es zu weit getrieben, aber Gitarre konnte er spielen („he took it all too far but boy could he play guitar“). Ja, ja, is’ ja gut.

Abschwiff 1: Schnitzel und Eisbein

Wo steckte eigentlich Bowie, als Rimbaud und Ignorant sich die Seele aus dem Leib trommelten und schrien?9 – Richtig, in Westberlin. Seine Kollegen Edgar Froese (Tangerine Dream) und Roland „Rolli“ Paulick (Ex-Tangerine Dream) hatten ihn zu einem Entzugsurlaub eingeladen. Sie besorgten ihm eine proletarische Freundin und eine spartanische Unterkunft in Neukölln. Rolli, der damals schon strammer Kommunist war, brachte ihm Schnitzel- und Eisbeinessen bei. Bowie trug damals karierte Hemden und einen Schnurrbart. Irgendwann – und zwar ziemlich umgehend – wurde es ihm zu langweilig in Neukölln10, was jeder heutige Berliner Nicht-Neuköllner – es sei denn, er sei aus Friedrichshain-Kreuzberg und auf Penunse erpicht – wohl nachvollziehen kann, und er rief Iggy Pop an. Hier setzt dann die Rockgeschichte wieder an, die jeder nachlesen kann.

Die Crass-Gitarristen Andrew „Andy“ Palmer (N. A. Palmer) und Phil Free spielten keine Akkorde, auch keine von den berühmten drei, die man braucht, um eine Punkband zu gründen, sondern schöpften aus dem gesamten Tonschatz, heute nennt man sowas „Sludge“. Die Crassisten spielten jedoch nicht auf Schmutz getrimmt, sondern in klarer Atonalität „chopper style“ wie Terry Stamp (Third World War) oder Wilko Johnson (Dr. Feelgood), aber – der Tempo aufnehmenden neoliberalen Katastrophe angemessen – etwas hastiger. Die Rhythmussektion Penny Rimbaud und Pete Wright (auch „Wrong“ genannt) trieb voran. Die Sängerinnen Eve Libertine und Joy De Vivre hatten eine Vorbildfunktion für alle DDR-Punksängerinnen (der ersten Generation), also für Jana Schloßer (* 1964) in der Band Namenlos …

Abschwiff 2: Öffentliche Herabwürdigung

Nach „Abbüßung“ einer Haftstrafe von 18 langen Monaten (ab Sommer 1983 bzw. 121984) wegen „Öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung“ (§ 220, Strafgesetzbuch der DDR) trat Jana weiterhin als Sängerin von Namenlos auf, wozu man erst mal den Arsch haben mußte – und sie hatte ihn. Und noch dazu immer ein „Bierschen“ (sie ist in Halle aufgewachsen) im Kühlschrank. – 1983 hat sie ein paar Liedtexte für Namenlos geschrieben und geschrien, in denen sie sich über dieses und jenes beklagte; vor allem jedoch über aufkeimenden Neofaschismus in der DDR und faschistoide Tendenzen in der Regierung und den ausführenden Organen des sog. „Arbeiter- und Bauernstaates“, der die DDR nun mal nicht war, sondern die Diktatur einer Parteihierarchie, die keine breite Basis im Volk hatte. Mit diesen Liedern trat die Band Namenlos insgesamt drei Mal halböffentlich auf, dann wurde es der Staatssicherheit zu bunt, und vier junge Leute fuhren ein.

Jana wurde eine vorzeitige Haftentlassung angeboten, wenn sie sich mit ihren ebenfalls verhafteten Liebhaber – dem Urgründer und Gitarristen der Band, zeitlebens ein ehrenhafter Rock ’n’ Roller und Pubrocker reinsten Wassers – „A-Micha“ Horschig in den Westen verpissen würde. Beide lehnten ab. Sie wollten in der DDR was verändern; doch dazu ist es nicht gekommen, sie ist eléndiglich verendet, die meisten sagten: „Endlich!“ – Aber da war Jana schon in Westberlin, sie hatte es nicht mehr ausgehalten. Die ausge-„bürgerten“ Ostpunks waren die ersten, die nach Ostberlin zurückströmten, sie hatten Gründe; zumeist war es der gnadenlose Konsumismus der Durchschnittsbevölkerung, speziell der ehrenlose – als Lebenslust getarnte – Kompromißmus der Westpunks.

Da taten sich Welten auf. Janas Verständnis von Anarchie war grundlegend und einfach: „Jeder macht was er will und geht niemandem auf den Zünder.“11 So wurde sie dann später auch Erzieherin. – „Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung“12 ist doch wohl das mindeste, was man von einer aufgeklärten „Bürgerin“ erwartet, geschweige denn, von einem Literaten. Prost, Jana, kümmer dich um die Gören, die unter „staatlicher Ordnung“ leiden. Und halte sie bitte vom (narzisstisch-pseudokriminellen) rhythmischen Gedichteaufsagen ab; gegen Oktroyierung von Entwürdigung muß man anbrüllen, nicht rumrappen, und vor allen Dingen zurückschlagen … um sich selbst zu behaupten.

Das von Dave King – einem ehemaligen Mitstreiter von Vaucher und Rimbaud – gestaltete Crass-Logo ist eine Kombination aus einem sog. „Keltenkreuz“ und einer Schlange, die an Schwanzes statt einen zweiten Kopp hat. Es evoziert Assoziationen an ein gerundetes Hakenkreuz und die britische Flagge, sagen manche, ich denke; es war einfach nur bescheuert, zumal im Original in schwarz-weiß-rot konzipiert, meistens jedoch schwarz-weiß publiziert. Gee Vaucher setzte dann oft noch ein paar griffige Slogans dazu; „Anarchy & Peace“ zum Beispiel, und genau hier wird’s problematisch – denn „Frieden“ ist ein Problem. Penny Rimbaud selber weiß das besser als ich, wie übrigens viele andere Sachen auch, wenn man auf diesen ganzen Guru-Quatsch steht, den er selber vorgeblich nie wollte. – Niemals hätte sich der esoterische und vegane LSD-Freak Julian Cope, den ich schätze, mit dem Kettenraucher, Trinker und Speed freak Mark E. Smith, den ich ebenfalls schätze, unterhalten, und beide nicht mit dem abgehoben kreativen Pazifisten Penny Rimbaud, den ich auch schätze. Man kann Leute auch getrennt schätzen, sozusagen in Frieden, aber …

„Friede“ (ahd. fridu; mhd. vride, vrit; asächs. friðu usw.) bedeutet, daß jemand in einer „Einfriedung“ (Umzäunung, Abschottung, freies Geleit) „geschont“ wird.13 „Schonung“ jedoch bedeute leichtes Leben für Insassen, Abschottung vor Fremden und Knechtung für „Umsiedler“, Zugezogene und Immigranten. Das also ist der Friede, der „bewaffnet sein muß“ (DDR-Parole) bis zu Overkill und Super-GAU. – Nein danke, kein Frieden, nicht mal ein Waffenstillstand, solange autoritäre Deppen auf „robuste“ Einsätze und „definitive“ Lösungen bestehen; dann lieber „Krieg“ (mhd. kriec = Anstrengung, Streben, Widerstreben, Widerstand, Anfechtung, Disputation, Wettstreit, Zwist, Zwietracht, Streit, Kampf, Krieg).

Das altgriechische Wort αρχη (arché) bedeutet ursprünglich Anfang, Ursprung; dann aber – nach der neolithischen (für unsere akzelerierten Verhältnisse extrem langsamen) „Revolution“, die uns Zivilisation inklusive Privateigentum bescherte – im übertragenen Sinne Herrschaft, Regierung, Verwaltung bzw. das kontrollierte Areal, das „Reich“, oder wie auch immer die Scheiße heißt.14

„Frieden“ und „Archie“ sind Begrenzungen, „Anarchie“ jedoch plädiert für Entgrenzung. Die bürgerlichen Vertreter der Befürwortung von Unterdrückung und Ausbeutung, also das parteipolitische Spektrum repräsentativer Demokratien der westlichen Wertegemeinschaft, plädieren sämtlich für Sicherheit (= „Frieden“) und Ordnung (= „Archie“).

Unsere erste Begrenzung ist die ureigene Körperhülle, die Haut, aus der wir viel zu selten fahren; die zweite die Gruppe, zu der wir gehören, sei es eine Blutsbande oder selbstgewählte Familie oder ein Freundeskreis. Hier schmoren wir gemeiniglich im eigenen Saft und verbleiben in eine der zahlreichen gesellschaftlichen Schichtungen eingebunden, seien es Kasten, Klassen, Stände, Schichten, Milieus oder sonstige Begrenzungen in der gesellschaftlichen Hierarchie. Dann folgen Nationalstaaten, militärische und ökonomische Bündnisse, Wertegemeinschaften usw. – Blasen über Blasen, in denen wir uns schämen anstatt zu schäumen. Die schlimmste Begrenzung jedoch ist ein Stoppschild auf dem eigenen Tellerrand – mit Radius Null, also ein Standpunkt –, von dem aus es nicht weiter geht. Leider Staates gibt es Aufsteiger, Überflieger und Karrieristen, die nichts infrage stellen. Es geht aber nicht darum, gesellschaftliche Schranken aufzuweichen, gar zu nivellieren, sondern sie – „abzuschaffen“, hätte ich beinahe gesagt, ich meine natürlich – niederzureißen. Jeder Mensch ist so flach wie jeder Andere, und zwar analog; digital ist eben nicht egal. Die Domestikation hat uns tief reingeritten in die Zivilisation. Die Merkantilisierung menschlicher Emotionalität tut ein Übriges zur Nivellierung der ureigenen Empörung bei.

Die Parole „Anarchy & Peace“ ist mir zu widersprüchlich, Anarchie reicht völlig. Wenn pazifistische Empörung inklusive Entrüstung keinen aggressiven Pfiff hat, und nicht mit dem Angriff auf das Privateigentum einhergeht, verpufft die Intention ins Marginale. Ich habe mein Leben lang mit dem Pazifismus geliebäugelt, wurde jedoch verschmäht. Zivil ist mir zu bürgerlich, und steht mir außerdem nicht. Gegengewalt ist zudem eine apokryphe Sparte des Pazifismus, um die immer wieder gerne gestritten wird. Ich bin Heißduscher ohne abzuschrecken. Mit Gegnern muß man deren Sprache sprechen, mit Feinden nicht unbedingt. Gegengewalt ist unumgänglich … und konsequent: Möglichst bevor uns der Himmel – als selbstgebastelte „Klimakatastrophe“ – auf den Kopf fällt … und die Rache durch die Lappen geht.

Abschwiff 3: Wer nicht springt, der ist für Kapital

„Klimagerechtigkeit“ – was soll das sein? Ein Klima für alle? Das Klima von gestern? Die Umwelt in der Frühzeit der Industrialisierung, als das Klima – nach „Experten“-Meinung – noch okay war, wurde in den 30er/40er Jahren des 19. Jahrhunderts von kritischen Zeitgenossen folgendermaßen reflektiert: „Einen Augenblick lang scheint [unsere Kulturmethode ohne Methode] das Klima zu verbessern; bald jedoch bringt sie es wieder dahin, daß das Klima schlechter und unbeständiger wird als es im Zustande der ursprünglichen Wildheit war. Es ist leicht, ein Land durch Urbarmachung und Ausrottung der Wälder wohnlich zu machen; aber es ist sehr schwer, ein von seinen Waldungen und Quellen beraubtes, verwüstetes und ausgetrocknetes Land, wie das ehedem so fruchtbare Persien heute ist, zu restaurieren. Verwüstet und ausgetrocknet sind aber durch unsere Kultur schon die Provence, Languedoc, Kastilien, und wenn das so fortginge, würden in einigen Jahrhunderten alle Länder, welche heute noch auf einen gewissen Schein von klimatischer Verbesserung stolz sind (obgleich man schon die Verschlechterung des Klimas dieser Länder mit Riesenschritten sieht), ebenso verwüstet sein.

Bekanntermaßen würde alles fast zusehends wachsen, wenn eine Witterung nach Wunsch, eine regelmäßig abwechselnde Temperatur hätte, wo der Regen dem Sonnenschein und eine nicht allzugroße Hitze wiederum dem Regen auf dem Fuße folgen würde; man würde alsdann leichter drei Ernten erzielen als die einzige, welche man heutzutage so oft durch die Exzesse der Witterung geschmälert und zuweilen vernichtet sieht. Es ist aber schon mehr als bewiesen (daß das Klima wie die Erde vom menschlichen Kunstfleiß umgewandelt werden kann), daß die Kultur der Erde, wenn sie mit Einsicht betrieben wird, die Atmosphäre um zehn bis zwölf Grad zu mildern vermag, wie umgekehrt eine schlechte Kultur sie um ebenso viele Grade verderben kann.“15

Gut; die an dieser Textpassage beteiligten Gewährsleute – der Wärmetheoretiker und Treibhauseffekthypothetiker Joseph Fourier (1768-1830) und die Frühkommunisten Théodore Dézamy (1808-1850) und Moses Heß (1812-1875) – waren keine Wetterfrösche, kannten keine Auswertung systematisch erhobener klimatologischer Daten. Mitte des 19. Jahrhunderts galt – nach den Auswirkungen und in den letzten Zügen der Kleinen Eiszeit – noch der Grundsatz „Je wärmer, desto besser für die Menschheit“ bis zu einem gewissen Grade. Das ist bei unseren heutigen fragilen technologischen Infrastrukturen natürlich anders. Aber die müssen im Zuge der antikapitalistischen Umwälzung sowieso umstrukturiert werden: Nicht zu nah am Wasser bauen, keine Häuser mitten in den Wald, Flußbegradigungen beheben usw.; ansonsten drohende Konsequenzen kann man sich an einem Daumen ausrechnen, wenn man nicht ganz auf den profitgeilen, konkurrenzversessenen, wachstumsorientierten Kopf gefallen ist. Die Erde ist uns nicht Untertan, sondern Gastgeber … überlegt doch mal selber. Das Klima ist immer im Wandel, um nicht zu sagen: Das Klima ist der Wandel. Man muß nur wissen, damit umzugehen – und diesen Effekt zu Gunsten aller Menschentiere zu nutzen. Die Leute reden gern vom Wetter. Besser als Klatsch, Tratsch und sonstige emotionelle Pest. Also leckt mich mit „Klimagerechtigkeit“ am Arsch; Gerechtigkeit, die auf der Gleichheit aller flatulenten Flachwichser basiert, reicht völlig.

Über die Erneuerbarkeit von Energie müssen wir nicht reden. Selbst die Idiotie der Menschen ist nicht erneuerbar, sondern mutiert immer weiter. Sie wandelt sich um: Die Schrulle von gestern ist die Macke von heute. Normalerweise wird’s nicht besser, sondern eskaliert; wenn man will, kann man das kultürlich „Erneuerung“ nennen. Jede Energieumwandlung geht mit Schwund einher, unter irdischen Verhältnissen meist Abwärme. Aber ihr könnt ja mal versuchen, mit – durch perfide Entfremdung in Idiotie umgewandelte – autistischer Genialität zu heizen. An einem kühlen Sommerabend auf Usedom mitten in der Klimaerwärmung, vielleicht lockt das Insekten an. In den Sommern 2020 und ’21 wäre ich gerne mal gestochen worden; notfalls hätte es der Wahrheitsfindung gedient, statt der grassierenden industriellen Landwirtschaft. Die genauso viel Krach macht wie Touristen und die lautlosen Mähroboter nebenan auf Sarrazins Grundstück, das wie jeder Privatbesitz Allen gestohlen ist und Niemandem gehört.

Der FridaysForFuture-Bewegung ermangelt sozialkritisches Bewußtsein, geschweige denn antipolitisches Engagement. Es gibt keinen „besseren“ oder „grünen“ Kapitalismus. Eine technologische Umstrukturierung der Energieproduktion ändert nichts am Grundübel: Kapitalismus basiert auf der Ausbeutung von Mensch und Umwelt, die sich – gemäß der Doktrin eines permanenten Wirtschaftswachstums – immer mehr steigert, bis ins Kosmische. Kapitalismus ist Raubbau per se. Nachhaltigkeit erreicht man durch Dekapitalisierung: Enthauptung durch (Selbst-) Behauptung. – Der größte Menschen- und Umweltverderber ist das Militär. Die erste Forderung einer ForFuture-Bewegung müßte also sein: Konversion aller existierenden Waffen und Einstellung der Rüstungsproduktion. Wohin mit der ganzen Soldateska? Können ja nicht alle Pilze sammeln, Flußbegradigungen zurückbauen oder Schneeschippen auf dem Permafrost. Die technologisch Aufgeweckteren könnten an der Weltraumexploration mitwirken; obwohl … hierarchisch gestricktes autoritäres Gesocks gerade hierzu wenig taugt … aber man ist die Leute erst mal los.

Damit wäre dem grassierenden Kapitalismus schon einiger Wind aus den Segeln genommen. Enorm viel humane und technische Energie wird für Reklame bzw. Produktpropaganda verschwendet. Verbieten kann man den Scheiß zwar nicht, wie man nichts verbieten kann, aber ächten und in die Schranken weisen: in eine Nische des Internets, wo Produktinformation stattfindet, und zwar nur dort. Werbung im öffentlichen Raum, in Printmedien und selbstverständlich im nicht ausdrücklich als „Produktinformation“ gekennzeichneten Hauptsektor der elektronischen Medien ist Zuschiß, und somit geächtet. Eine Dekommerzialisierung des Internets steht ohnehin an. – Das sind zwei Vorschläge für eine friedliche Lösung der von Europa und den europäisch infizierten „Bürgern“ ausgehenden Problematik.

Europa … wenn ich das schon höre! Von Europa ging ein mörderisches Christentum aus, Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverbrennungen, Genozide auf allen Kontinenten außer der Antarktis, Kolonialismus, postkolonialistische Unterdrückung und Ausbeutung, Kriege über Kriege, Weltkriege, kalte Kriege … und das alles nennt sich „Zivilisation“ – und alle, die den aus all diesen Verbrechen entstandenen Kapitalismus nicht wollen, sind keine Demokraten. Thank you Europe for your leadership. Danke für Tierhaltung, Viehzucht, Sklavenhaltung, Lohnsklaverei und Menschenzucht. Parlamentarischer Demokratismus ist das Deckmäntelchen für die Willkür kapitalistischer Ausbeutung in Produktion und Zirkulation. Die – nirgendwo definierte, also nur behauptete – unantastbare „Würde des Menschen“ ist hierbei das Sahnehäubchen auf dem Privateigentumsmodell der sog. „westlichen Wertegemeinschaft“.16 Übrigens: Westlich von wo aus? Etwa von Wladiwostok? Oder dem Mittelpunkt Afrikas, wo ungefähr wir alle herkommen. Der Eurozentrismus eines Atlas’ ist beschämend, selten steht irgendwo noch ein Globus rum, und wenn, dann im Kinderzimmer als Nachttischlampe.

Die von Europa und seinen (ehemaligen) Vasallen ausgehenden industriellen Revolutionen sind aggressiv, expansiv, totalitaristisch. Also, Schluß mit hierarchischer Regierung und zentralistischer oligopoler Wirtschaftsführung; „der Trick des Regierens war schon immer, Probleme zu erschaffen, für die dann nur die Regierung die Lösung sein kann“17. Vorgebliche „soziale Revolutionen“ bewirkten letztlich immer einen Schritt zurück, was „Gerechtigkeit“ anbetrifft, die genauso wenig definiert ist wie die in Deutschland populäre „Würde des Menschen“. – Fragt die indigenen Populationen, was sie von europäischen Revolutionen halten: „Der wahre Charakter einer europäischen Revolutionstheorie läßt sich nicht aufgrund der Veränderungen, die sie innerhalb europäischer Machtstruktur und Gesellschaft anstrebt, beurteilen, sondern nur nach den Auswirkungen auf nicht-europäische Völker. Bisher nämlich diente jede europäische Revolution dazu, Tendenzen und Kräfte in Europa zu verstärken, die anderen Völker, anderen Kulturen und der Umwelt selbst Zerstörung bringen. […] Eine Kultur, die dauernd Revolution mit Fortführung verwechselt, die Wissenschaft mit Religion verwechselt, die Aufstand mit Widerstand verwechselt, kann euch nichts Hilfreiches lehren und nichts von einem ‚way of life‘. Europäer haben seit langem jeden Bezug zur Wirklichkeit verloren, wenn sie überhaupt je einen hatten.“18

Die jeweilige „Future“ besteht aus lauter Vergangenheit. Menschliche Zeit, die wir „Welt“ nennen, ist die Summe von angerichteter Scheiße. Europa ist ein Schimpfwort, genauso wie Deutschland, Berlin, Weißensee und das durchgentrifizierte Komponistenviertel. Genau dort, wo sich der Mensch befindet, stinkt es zum Himmel, wenn nicht gerade ein selbstgebastelter Orkan darüber hinwegfegt. Und weil der droht, wenn nicht gerade sommerliche Dürre und Waldbrandgefahr oder sonstige Überschwemmungen, sollten wir vorher gründlich einkaufen, sofern die – zumal in unterprivilegierten Kreisen nötigen – Pfuinanzen vorhanden.

Mit dem Konsumzwang ist es wie mit der Impfpflicht, die Leute machen es freiwillig. Unter Beschallung von Lindenberg, Adele, Grönemeyer, Lana del Rey, Balbina, Tocotronic, Ärzte usw. usf. wird der Pöbel schwachmatisch in den jubelnden Verlust gepeitscht und hechelt Desideraten nach. Hedonismus verhieß in Zeiten der (zumindest teilweisen) Vollbeschäftigung – also halbwegs bezahlten Ausbeutung – Genuss, also – irgendwie, zumindest um ein paar Ecken – Lust; purer Lieferungsservicekonsum jedoch verpaßt uns permanente Unlust, weil das „Eigentliche“ fehlt und der „Sache“ nicht dient.19 Lediglich die Integration in Umwelt erzeugt Wohlgefühl und bringt die Naturgeister auf Trab: „offen gegenüber der Welt und dennoch geschlossen gegenüber dem Staat.“20

Was meinen Zorn auf den Staat frisch hält, ist – neben dem eigentlichen Leben bzw. uneigentlichen Darben – der Rundfunk, dieses immer narzisstischer, selbstreferentieller, selbstgefälliger werdende Medium; immer kommerzieller versteht sich von selbst. Ich höre – abgesehen von, zumeist internationalen, Untergrund-Internet-Audio-Überzeugungstätern – nur drei nationale „öffentlich rechtliche“21 Sender: Deutschlandfunk, Dlf Kultur und radioeins; einer immer schlimmer als der andere, ständig muß ich umschalten, wenn ich eingeschaltet habe, um die Schmalspur nicht zu verpassen. Meine „Lieblingssendung“22 ist jeden Tag 5 nach 12 auf Dlf Kultur Studio 9 – Der Tag mit … ausgesuchten Arschlöchern. Ein unfaßbares Format, in dem ein geplätteter und durchgeimpfter Moderator „Experten“ aus den gleichgeschalteten Organen der Fressefreiheit und angegliederten Thinktanks Staatstreue zu aktuellpolitischen Themen abfragt, ganz selbstverständlich von einem eurozentrischen Standpunkt aus. Unsere Welt ist jedoch etwas größer, aber davon haben die „Experten“ keine Kenntnis.

Unterbrochen werden diese und alle anderen kulturpolitischen Sendungen durch Musiktitel, die neuerdings durch kleine desinformative Hinweise – kreiert von bezahlten Playlist-Agenten – schmackhaft gemacht werden sollen, auf daß man sich den Scheiß auf irgendeinem Streaming-Dienst noch mal reinziehe. Entstanden ist durch die Anforderung der Sender für sog. Intellektuelle und „Erwachsene“ eine neue Musikrichtung, die durch folgende Parameter gekennzeichnet ist:

– Grundsätzlich von leichter bis mittelschwerer Trauer durchzogen, Unzufriedenheit erzeugend, die durch Konsum betäubt werden kann bzw. soll;

– durchgehend harmonisch, bloß keine Dissonanz, außer als kurzer Sound-Effekt.

– Musik mit deutschen Texten orientiert sich stilistisch an der „liedhaften Rockmusik“ der DDR in den 70er und 80er Jahren, die so schön leichtverdaulich war;

– Lieder mit Texten anderer europäischer Sprachen sind stilistisch ebenso retro bzw. reaktionär wie die deutschen.

– Schlager und Songs mit Texten germanischer Sprachen sind bevorzugt, romanische Sprachen gehen auch noch, keltische und slawische Sprachen möglichst selten, Russisch geht gar nicht;

– außereuropäische Musik (außer „europide“ Americana), die sog. „Weltmusik“, ist so sehr europäischen Hörgewohnheiten angepaßt, daß man sie eigentlich als „Kolonialmusik“ bezeichnen müßte – fällt allerdings ohnehin kaum ins Gewicht, da sie lediglich in Nachtprogrammen zu hören ist.

– Eine (musikalische) Kultur der in Europa indigenen Basken, Sami und Finno-Ugrier ist nicht existent.

Haarsträubend; so funktioniert die Disziplinierung der Kulturschaffenden, die ein paar Millicent an den Ausstrahlungen verdienen, und zwar marktorientiert und „wissenschaftsbasiert“. Das ist kein klassischer Rassismus mehr, sondern ein neuer. – Einige der Moderatoren, verantwortlichen Redakteure und etliche mehr der auftretenden Artisten kenne ich ja: Wie bescheuert und korrupt muß man sein, so einen Scheiß mitzumachen? Daß das alles nur mit (immer redundanterem) Zynismus und (immer schlechter werdenden) Koks auszuhalten ist, weiß ich aus nächsten Bekanntenkreisen. Und das alles für eine Handvoll Pfennige mehr? Und einen gelegentlichen Speedball.

John Peel rotiert in seinem Grab. Wenn im Rahmen irgendeines Beitrags mal Musik thematisiert wird, die aus diesem Rahmen fällt, hört man bestenfalls eine Einspielung von wenigen Sekunden, ausgespielt höchstens tief in der Nacht. Natürlich kann ich mir Crass oder die Melvins bei Youtube anhören, wenn mein Plattenspieler kaputt ist … aber die Rechnernetzwerke (und Kryptowährungen) verderben das Klima doch sehr. – Mittlerweile ist die einst juvenile FridaysForFuture-Bewegung in den parlamentarischen Betrieb hineingewachsen und somit korrupt. Ich sehe kein Land, sondern Untergang, aber nicht so ganz. Mit ein bißchen Auswilderung haben wir vielleicht noch eine Schanze – und schaffen einen Absprung, über die FrischFrommFröhlich-Bewegung hinweg. Wer nicht springt, der ist für Kapital.

1 Waffendienstverweigerer waren keine Ersatzdienstleistenden; wir waren uniformiert und kaserniert, „dienten“ bzw. arbeiteten zumeist im produktiven (Tief- und Hochbau, Hilfsarbeiten in Großbetrieben) und logistischen Bereich (Be- und Entladen, Lagerarbeiten, Innendienst), theoretisch jedenfalls, praktisch lagen wir zumeist auf der faulen Haut. Wie alle anderen auch, die nicht unter dem Wirtschaftswachstumssyndrom litten. – Man konnte in der DDR den Wehrdienst auch „total“ verweigern, was mit 2 Jahren Knast bestraft wurde, wonach man theoretisch wieder zum Wehrdienst einberufen werden konnte, was allerdings – meines Wissens – nie praktiziert wurde.

2 Weiter im Text hieß es: „Ich gelobe: Als Angehöriger der Baueinheiten durch gute Arbeitsleistungen aktiv dazu beizutragen, daß die Nationale Volksarmee an der Seite der Sowjetarmee und der Armeen der mit uns verbündeten sozialistischen Länder den sozialistischen Staat gegen alle Feinde verteidigen und den Sieg erringen kann. / Ich gelobe: Ehrlich, tapfer, diszipliniert und wachsam zu sein, den Vorgesetzten unbedingten Gehorsam zu leisten, ihre Befehle mit aller Entschlossenheit zu erfüllen und die militärischen und staatlichen Geheimnisse immer streng zu wahren.“ – Statt eines „Fahneneids“, wie ihn bewaffnete Schergen ablegten, wurden Bausoldaten durch ein „Gelöbnis“ auf den Staat verpflichtet.

3 Crass Records 221984/6; aufgenommen im August 1982, kurz danach veröffentlicht. Schnell waren 28.000 Expl. verkauft; im November Platz 1 in den UK Independent Charts. – Kurz zur Nummerierung der Crass-Produktionen: Das Crass-Kollektiv wurde 1977 gegründet, von Anfang an war klar, daß die Band sich 1984 auflösen würde, daher die speziellen Zahlencodes; How Does It Feel? ist im Jahre 2 bis (to = 2) 1984 erschienen, und die 6. Edition des Jahrgangs 1982.

4 1983 offiziell wiederveröffentlicht: Sheep Farming in the Falklands / Gotcha (Crass Records 121984/3).

5 Am 2. Mai 1982 wurde der argentinische Kreuzer Belgrano durch das britische U-Boot Conqueror versenkt; 323 Tote auf einen Streich.

6 Eve Libertine (Bronwen Jones); Sängerin bei Crass und in anderen Zusammenhängen, bildende Künstlerin.

7 Am 4. Mai 1982 wurde der britische Zerstörer HMS Sheffield von der argentinischen Luftwaffe mit Raketen angegriffen und von einer getroffen, der Gefechtskopf detonierte zwar nicht, aber der Resttreibstoff der Rakete setzte das Schiff in Brand; 20 Tote.

8 “I think we did 20,000 of them,” says Penny who played the radio commentator in the style of Monty Python. “We wanted to get something funny and vocal out there. It was actually before the Belgrano went down that I wrote it. When it just seemed like a joke, because no-one had been hurt at that point. I remember we were on tour doing ‘Sheep Farming’… we had a huge banner with all the words on it. Eve would go along with a stick and the idea was everyone sung along – it was great fun. We were actually on tour when the Belgrano went down and the whole thing wasn’t funny any more… it turned into something which was costing lives. We really had a big problem – do we go on doing this song? We did, but the whole colouration changed. There was reference to the sinking of the Sheffield – at that point we were still too nervous to make it a clean public statement. We decided that in the event of anyone pinning us down on it, we could say it was a bootleg – someone must have recorded us at a gig – ‘nothing to do with us mate’. Rough Trade agreed to stick it in any old album – that’s how we got it out.” (Quelle: crassahistory.wordpress.com, 13. 8. 2020)

9 Sie nahmen damals in der Hippie-Buchte Dial House im Londoner Speckgürtel als das Schlagzeug-Gesangs-Duo Stormtrooper ihre ersten Lieder So What? und Do They Owe Us A Living? auf; die erschienen später in neuen Versionen auf: Crass. The Feeding of the 5000, Crass Records 621984.

10 Höre: Neuköln [sic!] (Bowie, Brian Eno); auf: David Bowie. Heroes. RCA, 1977. Instrumental, Bowie spielt ambitioniert Saxophon. – Neukölln war und ist nun mal so langweilig wie der Prenzlauer Berg nun auch schon lange.

11 Ja, jeder Mensch hat einen „Zünder“, auf den man nicht treten sollte, ohne sich der zerstörerischen Wirkung bewußt zu sein.

12 Heute heißt das „Delegitimierung des Staates“ bzw. laut Bundesamt für Verfassungsschutz „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“: „Die staatlichen Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Freiheitseinschränkungen lösten nicht nur eine breite gesellschaftspolitische Debatte und verfassungs-rechtlich legitime Proteste aus, sondern dienten in einzelnen Fällen auch als Vorwand und Hebel, um die demokratische und rechts-staatliche Ordnung als solche zu bekämpfen. Um die in diesem Kontext festzu-stellenden Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen adäquat bearbeiten zu können, hat das BfV im April 2021 den neuen Phänomenbereich ‚Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates‘ eingerichtet.“ (Quelle: verfassungsschutz.de, 1. 10. 2022)

13 Mit pax, pace, paz, paix, peace wird ein Übereinkommen, ein Vertrag zwischen Feinden bzw. Gegnern bezeichnet; ein Pakt also, ein Waffenstillstand, ein unterbrochener Krieg. Das russische (und in vielen slawischen Sprachen übliche) Wort мир (mir) bedeutet zwar „Frieden“ und „Welt“, was ja eigentlich völkerverbindend klingt; aber der мир war eine patriarchalische Dorfgemeinschaft, die wir heute genauso gut als „regelbasierte Ordnung“ beschreiben könnten, in der die Herrschenden die Regeln bestimmen, die jederzeit geändert werden können.

14 Einen launischen Kommentar bietet Peter Lunau: „arche ist griechisch und bedeutet ursprünglich … die einfriedung, die zum haus gehörende landnahme, der beanspruchte raumbesitz, dann der herrschaftsbereich. die arche noah war also kein schiff … sondern eine verlegung des herrschaftsbereiches auf höhere [ebenen] bei steigendem meeresspiegel.“ (Quelle: kzitem.info, 11. 9. 2021)

15 Aus: Théodore Dézamy. Leidenschaft und Arbeit. Aus dem Heß-Nachlaß herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ahlrich Meyer. („Der Text wurde in Orthographie und Zeichensetzung behutsam modernisiert …“) Karin Kramer Verlag, Berlin, 1980, S. 64 f. – Diese dankenswerte (anarcho-schlampige) Edition ist die deutsche Erstpublikation von Dézamys Code de la communauté (Prévost/ Rouannet, Paris, 1842), 1845 frei übersetzt und bearbeitet von Moses Heß für eine von Marx, Heß und Engels geplante mehrbändige Bibliothek ausländischer Sozialisten, die nicht zustande kam. – Die Passagen in runden Klammern sind Randbemerkungen in Heß’ Manuskript.

16 Hier zur Vertiefung zwei Zitate aus Fredy Perlmans Buch Against His-story, Against Leviathan! (Black & Red, Detroit, 1983), für vorliegende Publikation übersetzt von Sepp Fernstaub: „Später werden Apologeten davon sprechen, daß die Europäer bestrebt sind, ihre Kultur auszubreiten, ihre Lebensart. Mit Kultur ist die Art und Weisheit der Gemeinschaften freier menschlicher Wesen gemeint; aber Europa ist keine Kultur und hat keine Kultur. Die letzten Europäer, die Kultur hatten, waren die Radikalen, die von der Inquisition verbrannt wurden. Was übrig blieb, ist Zivilisation, die sich sehr von Kultur unterscheidet. Zivilisation ist ein menschlich bedeutungsloses Netz unnatürlicher Zwänge, ist die Organisation von Unterdrückung in den Eingeweiden des Leviathans. Zivilisation ist die ‚Kultur‘ der Sprungfedern und Zahnräder des Leviathans. Und die Europäer wissen, daß ihre Staaten keine Gemeinschaften sind, daß ihre Gesetze zur Aufrechterhaltung der Zivilität keine Kultur sind, und daß die verhängten Maßnahmen nicht freien menschlichen Wesen entsprechen, auch wenn man die Maßnahmen ‚Berufungen‘ nennt. Sie suchen Kultur, indem sie Griechisch und Latein lernen, und Werke von weit weg und lange her lesen. / Der fieberhafte Drang weg vom eigenen Selbst ist das genaue Gegenteil von dem, was in den Gemeinschaften freier menschlicher Wesen geschah. In solchen Gemeinschaften war es das Ziel, das eigene Selbst zu erkennen, all das zu werden, was man zu sein vermochte, und ein vollentwickeltes Selbst in den sinnvollen kosmischen Zusammenhang einzubringen. Gemeinschaften, die den Individuen diesen sinnvollen Zusammenhang gewährleisteten, hatten Kultur, oder waren Kultur. / Der dekultivierte Europäer der späten Kreuzzüge, zu Sprungfeder und Zahnrad geworden, drängt kopfüber aus dem, wo er herkam und was ihn ausmachte, zu etwas komplett anderen hin, zu etwas neuem, nach Amerika. Das ungenannte Ziel ist bisher nichts anderes als ein mythischer Ort einer skandinavischen Saga und ein gutbehütetes Geheimnis der baskischen Kabeljaufischer. Aber der Europäer entdeckt bereits kleine Amerikas in muselmanischem Silber, in senegalesischem Gold, in indischen Gewürzen und in chinesischer Seide und Porzellan. Der Reichtum aus dem Handel ermöglicht es ihm, das zu kaufen, was er nicht mehr ist. Wir wissen, daß ein Leibeigener, der zum Händler wird und genug Reichtum anhäuft, frei wie ein Franke und seine Vorfahren werden kann, zumindest dem Namen nach.“ (S. 208) – „Bis zur Renaissance hielten die Europäer den Wucher für eine Ungeheuerlichkeit. Sie verbanden diese Praxis mit den fremden alten Etruskern und Karthagern oder mit den fremden zeitgenössischen Juden und Moslems, und sie nannten solche Leute Blutsauger. Jetzt ersetzen die europäischen Wucherer, die sich Banker und Investoren nennen, auf den Porträts der Würdenträger die heiligen Einsiedler. / Für Profitstreber, ebenso wie für Machthörige, ist nichts Menschliches und nichts Natürliches heilig. Menschliche Gemeinschaft ist so unbekannt wie der fernste Stern, und die Natur ist eine Schatzkammer, die es zu plündern gilt. Die Bürger reduzieren sowohl die Menschen als auch das Land zu verkäuflichen Waren, und die Wissenschaftler werden beides zu Atomen reduzieren, zu Spielbällen in den Händen von Machtjongleuren.“ (S. 230 f.)

17 Aus: Anonym. Desert. Aus dem Englischen übersetzt von Nils Mosq & bm-Crew (Quelle: anarchistischebibliothek.org, 31. 1. 2022). – Ein sehr guter und streitbarer Text.

18 Aus: Russell Means. Kämpferische Worte über die Zukunft der Erde. Aus dem Amerikanischen von Gerlind Mander. In: Hans Peter Duerr (Hg.). Unter dem Pflaster liegt der Strand. Zeitschrift für Kraut und Rüben. Band 10, Karin Kramer Verlag, Berlin, 1982, S. 7-24.

19 Das „Eigentliche“ und die „Sache“ sind Kernpunkte des Anarchismus – solange er auch nur ein Ismus ist –, die ich an dieser Stelle leider nicht umfänglich ausbreiten kann, weil es in diesem Elaborat um die Probleme des Pazifismus geht.

20 Aus: Anonym. Desert, s. Fn. 17.

21 „Öffentlich“ heißt „omnipräsent“, und zwar gleichgeschaltet; „rechtlich“ heißt nichts, bedeutet lediglich, daß jeder per Gesetz dazu verpflichtet ist, dafür Gebühren zu zahlen – egal, ob er diese Medien konsumiert oder nicht. Die behaupteten „Qualitätsmedien“ werden mittlerweile als „Quantitätsmedien“ bezeichnet.

22 Meine wirkliche Lieblingssendung ist Sternzeit, jeden Tag kurz vor 17 Uhr; wenn ich dran denke, schalte ich sie ein, höre aber fast nie hin. So sollte Radio allgemein sein: einschalten, weghören, abschweifen – auf Gedanken kommen und losgehen. Wer lauscht, verpaßt.

(Teil II folgt in Kürze)