Teil / 11. Januar 2022
Empörung ist schlecht für die Gesundheit, denn dein Wille kann nichts ausrichten. Na und, was jetzt? Passivismus ist der einzige gangbare Weg!
„Empört euch!“ ist der Titel eines Buches von Stéphane Hessel (2010), das in den Jahren nach der Finanzkrise von 2008 einen gewissen Einfluss hatte, als die Occupy-Bewegung versuchte, sich gegen die Arroganz der herrschenden Klasse und die (aus der staatlichen Austeritätspolitik resultierende, Anm. d. Hrsg.) Verarmung zu wehren, die der Gesellschaft auferlegt wurde, um die Schulden der Banken zurückzuzahlen.
Wir waren in großer Zahl empört und marschierten in den Straßen von New York, Genua, Kairo und Hongkong. Doch der Finanzautomat setzte sich durch. Die Logik der Algorithmen zwang die Arbeitnehmer, jeden Rest politischer Herrschaft über die Angelegenheiten der Wirtschaft aufzugeben.
Der griechische Sommer 2015 war der Höhepunkt der Empörung, aber auch der Ohnmacht: 62 % der Wählerinnen und Wähler sagten „Nein!“ zu den Anordnungen der europäischen Zentralbank. Dennoch war Alexis Tsipras zwei Tage später gezwungen, die Ausplünderungsauflagen zu unterzeichnen. In diesem Moment wurde uns allen klar, dass die Demokratie genau eben dort endet, wo sie vor 25 Jahrhunderten erdacht wurde.
Seither sind wir unausgesetzt empört. Jedoch ist ohnmächtige Empörung schlecht für die Gesundheit. Und in der Tat hat sich die Gesundheit der Gesellschaft weiter verschlechtert, insbesondere die psychische Gesundheit.
Ich weiß, dass es nicht möglich ist, die Wut durch reine Willensbekundung wieder loszuwerden. Nichtsdestotrotz es ist hilfreich zu erkennen, dass das seelische Gleichgewicht der Bevölkerung seit Jahrzehnten angegriffen ist, und zwar durch eine Kombination von Empörung über das Unerträgliche mit jener fortgesetzten Demütigung durch gezielte Verarmung, die allein aus der Unerbittlichkeit der Logik von Finanzalgorithmen erwächst.
Da unser Wille allein nichts gegen ein System von abstrakten Automatismen ausrichten kann, ist es sinnvoll, die Wut so weit von sich abzukoppeln, dass sie sich in die Fähigkeit zur Selbstbestimmung verwandelt.
Demütigung und ohnmächtige Wut haben über jahrzehnte eine Psycho-Epidemie geschürt, die von einer massiven Verbreitung von Opiaten und anderen süchtig machenden psychopharmakologischen Substanzen begleitet wurde. Dann kam Covid, und nun schaukelt sich die psychische Krise des Westens zum endgültigen Zusammenbruch auf.
In den Vereinigten Staaten hat die Zahl der Todesfälle durch Überdosierung synthetischer Opiate wie Fentanyl und Oxycontin die Zahl der Opfer von Schußwaffen (von denen es in diesem Land viele gibt) und sogar die Zahl der Todesopfer bei Verkehrsunfällen übertroffen. Im Jahr 2020 starben fast 100.000 Menschen an einer Opiat-Überdosis, 62.000 davon allein durch Fentanyl, eine Schmerzmittelpille, die von Ärzten verschrieben wird und von der die Aktionäre der Big Pharma profitieren. In Italien hat sich der Verbrauch von Antidepressiva zwischen 2010 und 2020 mehr als verdoppelt. Wir sollten uns daher fragen, ob Empörung (als unmittelbare Reaktion auf das Unerträgliche) aus evolutionärer Sicht betrachtet das am besten geeignete Mittel ist, um uns vom Unerträglichen zu befreien. Vielleicht ist die Zeit gekommen zu resignieren: lasst uns die Illusion von politischer Demokratie und Wirtschaftswachstum aufgeben.
Wenden wir uns ab von bisherigen Horizonten, damit sich ein neuer Horizont öffnen kann. Der Horizont, der sich für das Jahr 2022 abzeichnet, ist dunkler denn je, wenn die alte Metapher von Licht und Dunkelheit noch etwas von ihrer Aussagekraft besitzt.
Es ist dunkel, weil wir erkannt haben, dass die Vernunft die Welt nicht mehr regiert, falls sie überhaupt jemals regiert hat. Auch Technik, obwohl sie extrem mächtig ist, kann nichts gegen die Zeit, gegen den Tod und nur wenig gegen das Chaos ausrichten.
In der 1941 verfassten Einleitung zur „Dialektik der Aufklärung“ haben Horkheimer und Adorno, wenn auch in ihrer hegelianischen Sprache, den Kern der Barbarei erfasst, der sie hilflos zugeschaut hatten:
„Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii (Zirkelschluß, Anm. d. Hrsg.) -, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal. Indem die Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts seinen Feinden überlassen bleibt, verliert das blindlings pragmatisierte Denken seinen aufhebenden Charakter, und darum auch die Beziehung auf Wahrheit.“
Die liberale Demokratie ist strategisch gescheitert, weil sie glaubte, dass Vernunft und Recht die aggressiven Instinkte des Kapitalismus und die aggressiven identitären Reaktionen, die der Kapitalismus hervorruft, wenn er den Willen der Menschen auf Ohnmacht reduziert, in Schach halten könnten.
Als der Neoliberalismus anfing, Auswirkungen zu zeigen wie Prekarität, Superausbeutung und extreme Vereinsamung, erwuchs aus ihm weltweit eine neoreaktionäre Bewegung, die die liberale Demokratie untergrub und sich mit dem räuberischen Unternehmensliberalismus verbündete.
Wir begreifen nun langsam die Bedeutung der Prophezeiung von Günther Anders, der nach Hiroshima und in den Jahren der atomaren Aufrüstung eine Rückkehr des Nationalsozialismus vorhersagte:
„Wir können davon ausgehen, dass die Schrecken des kommenden Reiches die Schrecken des gestrigen Reiches bei weitem in den Schatten stellen werden. Wenn eines Tages unsere Kinder oder Enkel, stolz auf ihre perfekte Ko-Mechanisierung, von den großen Höhen ihres tausendjährigen Reiches auf das Reich von gestern, auf das sogenannte „dritte“ Reich, herabblicken, wird es ihnen zweifellos nur als ein kleines, provinzielles Experiment erscheinen, das trotz seiner enormen Anstrengungen, sich überall auszubreiten („morgen die ganze Welt“, sagten sie), und seiner zynischen Ausrottung all dessen, was es nicht gebrauchen konnte, dennoch nicht bestehen konnte.“
(in: Wir Eichmannsöhne. Offener Brief an Klaus Eichmann, Abschnitt „Der Traum der Maschinen“1964; Zitat stammt nicht aus Originaltext, sondern ist rückübersetzt, Anm.d.Hrsg.)
Die Verordnung des Symptoms
Gegen Ende des Ersten Weltkriegs verfasste Sandor Ferenczi, Psychoanalytiker und Anhänger Freuds, einen Aufsatz, in dem er grundsätzlich die Möglichkeit der Heilung einer Instinktpathologie der europäischen Zivilisation in Frage stellt, die sich als neue Standardform der Kriegsführung erstmals in den (der Veröffentlichung des Aufsatzes; Anm. d. Hrsg.) vorangegangen Jahren gezeigt hatte.
(Der Aufsatz heisst „Medizinischer Rat“, und erschien in Werke, Bd. II. 1913-1919, zitiert nach der italienischen Ausgabe; wir nehmen an, dass Berardi mit „Instinktpathologie“ den angeboren Instinkt zur Selbsterhaltung und dessen „abnormale“ Veränderung meint; Anm. d. Hrsg.)
Ich habe den Artikel nicht gelesen und kann ihn auch nicht finden (wir auch nicht;-), Anm. d. Hrsg.). Aber Salvo, ein alter Freund von mir, der Anfang der 1980er Jahre einen Artikel in A/traverso über das Massaker von Jonestown (etwa tausend Menschen begingen Selbstmord) veröffentlichte, hat mir davon erzählt.
Ferenczis Schlussfolgerung ist, dass solche kollektiven Pathologien zwar womöglich verhütet, aber wenn sie einmal auftreten, nicht geheilt werden könnten.
In Katastrophen von gewaltigem Ausmaß scheinen die bekannten therapeutischen Techniken nicht zu funktionieren. Man kann das Leiden von Einzelpersonen behandeln, aber wie sollte man kollektive Panik, den Irrsinn rasender Bestialität, kurzum: Faschismus behandeln?
Big Pharma hat die zuvor erwähnte epidemische depressive Psychose ausgenutzt und mit der massiven Verbreitung von Opiaten fabelhafte Summen kassiert. Die Forschung orientiert sich auf chemische Therapien, die auf das Individuum wirken, ohne an den kollektiven Wurzeln von Schmerz und Panik zu kratzen.
Der soziale Organismus kann jedoch selber bessere Strategien der adaptiven Therapie entwickeln.
Panik kann eine Funktion haben, wie im Fall der fliegenden Wächter bei Tierschwärmen, die von Raubtieren angegriffen werden: Die Wächter schimpfen und lösen dadurch eine scheinbar ungeordnete Panik aus, die in der Verteidigung bemerkenswert effizient ist, weil sie den Angreifer verwirrt und seine Taktik unterläuft.
Und Depression kann die Funktion haben, eine schmerzhafte Spannung abzubauen, um sich aus dem krankhaften Malstrom der Überstimulation durch Informationen herauszuwinden.
Die Moderne hat alle möglichen Energien der Gesellschaft erfolgreich mobilisiert, doch hat sie dafür gesorgt, dass wir die Resignation als etwas Schlechtes ansehen. Es wäre jedoch sinnvoll, die Bedeutung dieses Wortes näher zu erläutern, um seine paradoxe Heilkraft und sein befreiendes politisches Potenzial zu entdecken.
Zunächst einmal ist Resignation die Anerkennung von etwas Unvermeidlichem (wie dem Tod) und kann ein Gegenmittel gegen Panik sein.
Heute, angesichts der unwiderbringlichen Zerstörung der Natur im planetarischen Maßstab, lässt sich die Hypothese aufstellen, dass die einzige Rettung vor dem Aussterben gerade in einem allgemeinen Abbau jener zuvor erwähnten schmerzhaften Spannung besteht. Das heißt, es rettet uns nur noch eine umfassende Psychodeflation , die eine Reduzierung unseres gesamten Verbrauchs, vor allem des Energieverbrauchs, zur Folge hätte.
Derim Frühjahr 2020 eingetretene (gemeint ist: kurzzeitig spürbare; Anm. d. Hrsg.) Lockdown-Effekt mit seinen signifikanten Verbrauchs- und Emissionssenkungen macht es heute einfacher, sich solch eine Strategie zur Dekompression vorzustellen. Wenn zusätzlich (in einer gerechteren Gesellschaftsform, in der grundsätzlich alle Mitglieder den gleichen Zugang zu den zentralen Ressourcen haben und kein Mitglied dauerhaft Macht über Andere ausüben kann; Anm. d. Hrsg.) die Angst um den Arbeitsplatz und den Besitzstand wegfiele, könnte die Psychodeflation mit einer egalitären Umverteilung der Ressourcen und mit einer Erziehung zur Genügsamkeit auf globaler Ebene einhergehen. Nur autonome Gemeinschaften, die das soziale Spiel aufgeben, können einen solchen Prozess in Gang setzen.
Aber sind die subjektiven, kulturellen und psychischen Bedingungen dafür vorhanden?
Wie könnten sie geschaffen werden?
Eine Sache, die uns die Moderne nicht gelehrt hat, ist, über den Tod nachzudenken. Der individuelle Tod wird in einen Raum der Nicht-Sichtbarkeit verwiesen, der dem öffentlichen Diskurs entzogen ist. Doch die Pandemie hat den Tod wieder auf den Plan gerufen, und er präsentiert sich nun als kollektiver Horizont einer zutiefst hypochondrischen Gesellschaft.
In Selbstmord und seelische Wandlung (1966) schreibt James Hillman:
„Das Leben zu fördern bedeutet, das Leben zu verlängern…. Aber das Leben lässt sich nur auf Kosten des Todes verlängern“.
Lebensverlängerung auf Kosten des Todes bedeutet, dass das medizinische Bestreben, das Leben um jeden Preis zu verlängern, dazu führt, dass der Tod verarmt, dass sich die Qualität des Todes verschlechtert und dass er zu einer Niederlage wird. Und wenn wir den Tod auf eine Niederlage reduzieren, dann verliert das ganze Leben an Bedeutung, wird zu einem verlorenen Kampf, zu einem demütigenden Niedergang.
Aber der Tod ist keineswegs eine Niederlage: Er kann vielmehr als Vervollkommnung des Bewusstseins, als Triumph des Bewusstseins über die Realität neubezeichnet werden (Berardi benutzt hier „re-significata“ ein Wort, dass er in Teil 1 mit „Resignation“ zusammengedacht hat; Anm. d. Hrsg).
Die Aufgabe der Psychoanalyse, so Hillman, bestehe auch darin, den Tod bewusst in die Existenz einzuschreiben. Die Psychoanalyse reduziert sich nicht auf eine bloße Psychotherapie. Sie kann die Illusion der Ewigkeit dialogisch auflösen, sie kann uns erlauben, das Nichts als Projektion der bewussten Existenz zu verstehen.
Durch die Psychoanalyse öffnet sich uns ein neuer Raum, in dem Moment, wo die Politik zu nichts mehr fähig ist. Es ist der Raum der paradoxen Therapie, der auf der Verordnung des Symptoms beruht, von dem Paul Watzlawick in Menschliche Kommunikation – Formen, Störungen, Paradoxien. (1969) spricht.
Wenn das Symptom eine Depression der Impotenz ist, nehmen Sie die Impotenz als Zustand an, hören Sie auf die Lektion, die die Depression enthält, erkennen Sie die Wahrheit, die die Depression Ihnen suggeriert, und lassen Sie die Depression schließlich abklingen, ohne ihre Lektion zu vergessen.
Infodemie
Deenan Pillay, Professor für Virologie am University College London, berichtet im Guardian : „Omicron scheint in der Lage zu sein, die oberen Atemwege, also die Zellen im Rachen, zu infizieren. Dort vermehrt es sich schneller als in den Zellen der Lunge. Mehrere Studien weisen in diese Richtung. Wenn das Virus mehr Zellen im Rachen produziert, wird es leichter übertragbar, was die rasche Verbreitung von Omicron erklärt. Ein Virus, das das Lungengewebe infizieren kann, ist dagegen gefährlicher, aber weniger übertragbar“.
Die Gesundheitsbehörden warnen: Die größte Gefahr der Omicron-Welle besteht darin, dass das Gesundheitssystem erneut überfordert zu werden droht.
Die italienische Regierung hat diesbezüglich sehr darauf geachtet, nicht viel in das öffentliche Gesundheitswesen zu investieren und das medizinische Pflegepersonal nicht zu stärken. Es gibt keinen Neueinstellungspläne und keine Anwerbungsstrategien, wie sie jeder vernünftige Mensch erwartet hätte, sobald die erste Welle von Covid halbwegs gebändigt schien.
Erstaunlich, aber nicht wirklich überraschend, wenn man bedenkt, dass die italienische Regierung, die von der größten (Bevölkerungs-)Mehrheit aller Zeiten in ihren Maßnahmen unterstützt wird, nicht gebildet wurde, um die öffentliche Gesundheit wiederzubeleben oder die Gesundheit der Bürger zu schützen, sondern um die volle Anwendung der wirtschaftsliberalistischen Prinzipien zu gewährleisten, die das soziale Leben seit vierzig Jahren verarmen lassen.
Ich gehe also davon aus, dass die Beunruhigung begründet ist: Sie beruht vor allem auf den finanziellen Vorurteilen, deren Symbol und Instrument der hochgelobte Premierminister ist. Die Logik der Privatisierung (im Gesundheitswesen, Anm. d. Hrsg.) hat die Omicron-Variante gefährlicher gemacht, als sie in ihrer biologischen Realität ist.
Folglich hat die rasche Verbreitung von Omicron trotz geringerer Tödlichkeit eine neue Welle der Angst und einen psychischen Automatismus ausgelöst, der zudem vom Medienapparat angeheizt wird.
Es ist die Angst davor, die Angst aufzugeben, weil das Trauma bislang nicht kollektiv verarbeitet werden konnte.
Dieser Mangel mündet in Schutzkonzepten, mit denen zwar versucht wird, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, die aber gleichzeitig Panik und Depression schüren.
Man könnte argumentieren, dass Covid verschwindet, wenn wir aufhören, darüber zu reden.
Aber über das Virus zu sprechen, ist kein freiwilliger Akt, keine politische Entscheidung, wie die Impfgegner naiv meinen. Es handelt sich um eine automatische Reaktion des sozialen Organismus, der dem ständigen Alarm des Mediensystems ausgesetzt ist, das seinerseits automatisch auf die Hypersensibilisierung der kollektiven Psyche reagiert.
Man kann von einer „Infodemie“ sprechen, einer obsessiven Störung, die den öffentlichen und privaten Diskurs, vor allem aber die Medien, erfasst hat.
Wir werden erst dann aufhören, über Covid zu sprechen, wenn wir den Kreislauf deaktiviert haben, der dank der unvermeidlichen medialen Verstärkung von der Gesundheitssphäre auf die psychische Sphäre übergeht.
Die Verbreitung des Virus ist nicht nur eine biologische Infektion, sondern auch die dauernde Reaktivierung einer hypochondrischen, sogar panisch zu nennenden Reaktion.
Die durch die Verbreitung von Viren ausgelöste Hypersensibilisierung entwickelt sich zu einer Art self-fulfilling prophecy: Die kollektive Vorstellungskraft wird von einem dystopischen Drang beherrscht, der dazu neigt, seine Vorhersage selbst zu erfüllen.
Werfen wir einen Blick auf die großen Produktionen des Neo-Kinos, oder vielleicht sollte man besser sagen des Hyper-Kinos. Werfen wir einen Blick auf die Filme, die Netflix im zweiten Pandemiejahr produziert und weltweit vertrieben hat.
Zu Beginn der Pandemie, im Frühjahr 2020, war „Haus des Geldes“ die erfolgreichste Serie. Diese Geschichte eines abenteuerlichen Fantasy-Raubes zwischen Heldentaten und technischen Raffinessen traf die vom Virus angeregte Phantasie und euphorisierte sie für einige Monate. Langfristig jedoch haben die Psychodeflation, die Verlangsamung der Aktivitäten und die Verschlechterung der Zukunftsaussichten zu einem Effekt geführt, der zwischen Massenpanik und individueller Depression schwankt.
Die Phantasiemaschine Netflix hat schnell vielfältige psychotische Szenarien produziert, die auf rege Nachfrage nach depressiver Erregung stießen:
Squid Game, Hellbound, und schließlich Adam McKays Film Don’t Look Up .
Im trans-pandemischen Imaginären, das durch eine Reihe von psycho-viralen Wellen betäubt wird, besteht die Gefahr, in eine Spirale von Ankündigungen des endgültigen Zusammenbruchs zu geraten, die die psychischen Bedingungen für die Selbstzerstörung schaffen.
Die Beziehung zwischen Psychose und Realität wird immer enger: Die Realität wird durch eine Psychose gefiltert und verzerrt, die ihren Ursprung in den Psycho-Medien hat. Aber wenn die Psychose im kollektiven Bewusstsein verankert ist, dann ist es die Psychose, die die Realität gestaltet.
Passivismus
Eine starke passivistische Bewegung kann der Ausweg aus dem hyperproduktiven und hyperkommunikativen Syndrom sein, das uns zum Zusammenbruch geführt hat. Passivismus kann dem Produktions-Konsum-Kreislauf, der uns zwingt, Leben aufzugeben, um Leben zu gewinnen, alle Energie entziehen.
In „Jenseits von Biden: Was bringt uns die zweite Runde Neo-Populismus?“ schreibt Raffaele Sciortino:
„Wie schließlich auch Paul Krugman sagt: Was zu passieren scheint, ist, dass die Pandemie viele amerikanische Arbeiter dazu gebracht hat, ihr Leben zu überdenken und sich zu fragen, ob es sich lohnt, weiterhin die beschissenen Jobs zu machen, die sie vorher gemacht haben. Es ist ein neues Klima, eine Haltung, die in der Auszeit durch die Pandemie gereift ist und die Bedeutung der Arbeit für das Leben in ein anderes Licht rückt. Dies scheint auch durch ein Phänomen bestätigt zu werden, das dem sich abzeichnenden Arbeitskonflikt entgegengesetzt zu sein scheint. Seit Monaten gibt es einen massiven Strom freiwilliger Austritte aus dem Arbeitsmarkt (McKinsey schätzt 19 Millionen bis 2021), während die Zahl der offenen Stellen auf fast zehn Millionen gestiegen ist. Dabei handelt es sich nicht nur um Fachkräfte, die eine bessere Bezahlung anstreben oder die sich, nachdem sie die Sinnlosigkeit des Arbeitsstresses erkannt haben, für den Vorruhestand entschieden haben, nach dem Motto: „Lasst uns etwas tun, solange wir es noch können“, und es handelt sich auch nicht um versteckte Entlassungen, auch wenn es einige davon gibt.
Sondern in den meisten Fällen handelt es sich um Arbeitnehmer mit niedrigem Lohn, unmöglichen Arbeitszeiten und hohem Ansteckungsrisiko – im Handel, in der Unterhaltungsbranche, im Gaststättengewerbe, aber auch im Gesundheitswesen und im Lehrerberuf -, die ihre Arbeit aufgeben oder nicht bereit sind, sie nach einer Pandemie wieder aufzunehmen.
Ein stiller Generalstreik, wie er genannt wurde, der einerseits als Hebel dient, um die von Trump weitgehend gewährten und von Biden vorerst bestätigten Subventionen zu erhalten und andererseits den Arbeitsmarkt zu beeinflussen. In den Vereinigten Staaten haben die Menschen wenn möglich schon immer mit den Füßen abgestimmt und ihren unbefriedigenden Arbeitsplatz verlassen, um einen besseren zu finden, vielleicht in einem anderen Bundesstaat. Diesmal legt man sozusagen eine längere Denkpause ein. Es ist müßig, etwas zu suchen, das es nicht gibt, nämlich eine Ablehnung der Lohnarbeit schlechthin. Doch sicherlich ist die anhaltende Große Resignation ein weiteres der vielen Symptome für die anhaltende Unzufriedenheit der amerikanischen Arbeiterklasse.“
Ich für meinen Teil habe mir geschworen, höchst sorgfältig jene Verhaltensweisen zu beobachten, die aus dem viralen Chaos entstehen, um Strategien für das Überleben und den gesellschaftlichen Wandel zu entwickeln, die sich nicht gegen das Chaos stemmen, sondern mit ihm einhergehen, es begleiten.
Das ist die Lektion, die ich von Guattari und Deleuze gelernt habe, die uns im letzten Kapitel ihres letzten Buches Was ist Philosophie? (1991/dt. 1996) warnen, dass das Chaos ein gefährlicher Feind sein kann, wenn wir meinen, es bekämpfen zu können. Aber wir können das Chaos auch zu unserem Verbündeten machen.
Dass die amerikanischen Arbeitnehmer aufhören zu arbeiten, ist per se weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes. Es ist ein Zeichen der Entfremdung, die in Autonomie umgewandelt werden kann und muss, indem sie dem Verzicht, der Passivität, der Resignation einen Sinn gibt.
Ich glaube, folgende Frage bringt die große theoretische Herausforderung künftiger Jahre auf den Punkt:
Wie kann man ein aktives Leben re-signifizieren: mit neuer Bedeutung füllen nach dem Prinzip des genügsamen Verbrauchs und der Lust an einer Existenz frei von Zwängen?
Übersetzt aus dem Italienischen von © Janneke Schönenbach und Olaf Arndt, Januar 2022