Nummer 20.1 Bert Papenfuß Erratischer BLock

I. Exposition (1)

Niemand wird gerne regiert, drangsaliert und übern Löffel balbiert, sollte man denken. Doch statt eigenverant-wortlich und selbstlos (2) zu handeln, lassen sich Leute lieber regieren, um ihre eigene Inkompetenz an „die da oben“ zu delegieren. Dies gilt für deutsche Untertanen systemübergreifend, besonders für Jeden Einzelnen, auch die „Einzigen“ (3) unter den „halsstarrigen Wenigen“ (4). Das „Volk“ und seine „Vertreter“ hauen sich die Taschen voll: Es wird auf Fahnen vereidigt, über den grünen Klee gelobt und ins Leere versprochen – bis zur nächsten Wahl, zum nächsten Systemwechsel; dann werden die Schwüre abgelegt. Dies ist ein Gemeinplatz, der beschreibt, wie ein Gemeinplatz funktioniert, allgemein und einzeln gemein. Nach den strikten Vorgaben der artifiziellen Infrademenz. Alle machen mit, niemand tut was dagegen, wenige denken zuwider. Was nicht unter den Nägeln brennt, sichert den Zustand, konsolidiert vor sich hin. – Bittsteller bitten sich selber; stellen sich an der Kasse an, in die sie selber eingezahlt haben, und scheißen sich gegenseitig an, für den geringsten Vorteil (5), oder aus Prinzip, sei es auch nur einer vorgeblichen kulturellen Aneignung wegen. Hauptsache, der Wohlstand steigt, oder läßt wenigstens nicht nach.
Was tun mit den Staatskriechern? – Im harten Kern des umherschweifenden „Glühwein-Pulks“ hat es sich herumgesprochen: „Statt Evidenzen zu betrachten, ethisch und utopisch handeln.“ Notfalls mit Hilfe asymmetrischer Maßnahmen. Raus aus den Schlappen, rein in die Puschen! Hoch die Botten! Die Vergesellschaftung des Privateigentums braucht einen robusten Einsatz – ein arschoffener Protestzug des Erratischen Blocks unter schwarzen Fahnen wird nicht reichen. Kulturistiker und Kaskadeure an vorderster Front der Aktivisten der letzten Stunde, Dispatcher ziehen die Fäden im fliegenden Stab. Nie weiß man genau, wo der Erratische Block auftaucht; meistens hat er die Tarnkappe auf, zwangsvermummt sowieso, von Kopf bis Fuß in postmoderne Camouflage gekleidet, schüttelt er – unsichtbar – die Auferstehung des Aufstands aus dem Ärmel.
Prokrastus schwenkt ein Sichtelement. Bildet marodierende „Glühwein-Pulks“, formiert den „Sortklædt modstand“(6)! Erwehrt euch der Neuschneemassen! (7) Besonders im Hochsommer. Überschwemmt – auf keinerlei Geheiß – die Kollwitzplätze der Welt! Leviathan herrscht über den Korpuskulargospodar, der auf Behemoth steht. Auf die Abrechnung der Multitude folgt die Abreibung der Elite unter der Ägide von Jedermann. Stellt euch hinten an, und ihr seid tiefer drin in den Verstrickungen des Mittelmaßes. – Hotelmesse im Kaiserbad:

Wer an der Landzunge ins Meer pißt,
braucht Dung und Lanze, Mist und Speer;
das sollte für einen Messetrip zulangend sein.(8)

Für eine Handvoll Mobile Payment gibt’s keine Gerechtigkeit.

*

Kollwitzplatz, Berlin, ehemaliger Prenzlauer Berg, Februar 2021, eisig kalt, stockfinster. Am Rande einer Demo für Maßnahmen, gegen die im Prinzip alle sind, aber sich nicht trauen; weil sie meinen, sie hätten was zu verlieren auf diesem „gut eingerichteten Planeten“(9), der in aller Ruhe den Bach runtergeht. Er hat ja Zeit, nur unsere ist bemessen. – . Piratengig auf einer improvisierten Bühne. In zehn Minuten muß das Ding gegessen sein. Nur Subjekte im Publikum, darunter so einige Experten, auch ein paar handgreifliche Modelle. Außer den Frauen. Masha Qrella und Tarwater bauen gerade ab, sie haben den Song Haut gespielt. (10) Peter Brasch und Aljoscha Rompe stehen die Tränen in den Augen. Sie liegen einander in den Armen, obwohl sie sich immer spinne waren. Aus den Untergegangenen Staaten sind die Melvins zugeschaltet, sie tragen I Fuck Around zur Verschlimmerung der Pandemie bei.(11) Edgar Wibeau tanzt mit Lothar Feix. – Die meisten Leute sind wegen eines im Buschfunk angedrohten Auftritts der Mechanized Automatons gekommen, besonders die beiden jüngeren Frauen. Wir kennen sie als Maddie und Mabbie, wissen aber aus Tresengesprächen mit den Müttern, daß beide eigentlich Saoirse heißen. Sehr unwahrscheinlich, daß die hier und heute noch wat reißen.
Der Automatons-Frontmann Ghillie Dhu ist – wie immer – nicht zu erkennen, er trägt die übliche zottelige Scharfschützenmontur, einen Melvins-Mundschutz (schwarzrot)(12) und zwei schwarze Augenklappen mit Sehschlitzen. Ist er es selber, oder sein Sohn, gar sein Enkel? –Bärenhäuter malträtiert das Dings, des Teufels rußiger Bruder am Bass, Kokolorus von Mitnichten am Double-Bass-Bumms. Seit über zweihundert Jahren ziehen sie ihre Meḋḃ-Revue jetzt schon ab, heute jedoch – Pestilenz und Inzidenz sei Dank – in aller Kürze mit postromantischer Würze. Das übliche Anarchist-Black-Metal-Geschrammel. Text komplett unverständlich, aber alle singen mit. Nur was? Ungefähr dies:

„Botanik fickt die Herrscher, nich’ die Leute,
die Subjekte, nich’ die Meute: Volksvertreter
und Subjekte sind Antagonisten von Haus aus.
Schmarotzer suchen Stimmvieh und Geldgeber
ohne Sinn und Verstand. Arsch in der Hose
setzt sich jetzt durch, Gnade vor Unrecht später.
Macht ist die Pest zivilen Gehorsams,
umgekehrt kracht Dreck auf die Bretter.
Befreiung droht uns, wenn wir wollen;
oder ist unser einziger Retter
eine schlüpfrige Replikantin?“(13)

Mittlerweile sind die Büttel anmarschiert. Konzertabbruch. Vereinzelte – zumeist weibliche – Automatons-Fans singen a cappella den Refrain:

„Mit frierenden Füßen in klebrigen Socken
kann ich nich’ stundenlang Votze lecken …“

Die Meute zerstreut sich. Niemand hat die Absicht, Büttel zu verdreschen. Dann hagelts doch noch ein paar Dachziegel. Über den Stockwerken hallt es grell durch die Nacht:

„Mit Gott und Staat im Kopf Schwanz lutschen,
läßt prompt die Raute in die Strümpfe rutschen.“

Später in einer Flüsterkneipe – in einem Hinterhofkeller auf der freien Seite der Lehder-Gürtelstraße – legt der Bastardtonträgerunterhalter Stulle Mentrup auf. Er mixt den uralten Krempel der Mechanized Automatons mit dem aktuellen Elektroscheiß der Schlüpfrigen Replikantinnen und zeitlosem Politrock: „Prompt die Raute“ … „Aphrodite“(14) … „Mit Gott und Staat im Kopf“ … „in your see-through nightie / I can see through you“(15) … „die Strümpfe rutschen“ … „all over the floor. [Gitarrensolo, 50 sec.] But there’s a dealer got in there“ (16)… „umgekehrt kracht Dreck auf die Bretter“ usw. usf.
Zwar ein bißchen hektisch für meinen Geschmack, aber Hauptsache: gewagt. Kaum haben wir uns eingegroovt und der Drogen beflissen, mit denen man sich nicht auskennt, schleicht sich Unruhe ein. Unter uns sind Agenten des Obduktionsprogramms: „Die is’ dafür, die dagegen, nimm lieber beide. Du weißt ja, viel hilft viel.“ Der aufdringlichste des Geschmeißes kriegt „prompt die Raute“ verpaßt, hatte aber leider Telekommunikation; da kommen die Schergen des Ordnungsamtes schon. – Jut, denn geht die Disco eben akoastisch weiter. (17) Ohrenbetäubend, aber jeräuschlos. Die Berliner Allee hoch begleitet’ uns Old Gopher (18), kroch uns aus den Ohren als Sumpfbiber.

Haste von Pankow jehört, / von den ollen Pankower,
haust da anne Panke / in ’nem ollen Wartburg,
baut sein’ eignen Scheiß an, / braut auch sein eignet Bier,
lebt als Staatenloser, / löckt wider den Stachel,
hat ’ne Wanne wie’n Tanker, / hat ’ne Omme wie’n Panzer,
wenn er dich zusammenscheißt, / weißte nich mehr, wie du heißt;
da is Blut aufm Tisch, / die Felle hängen anner Tür,
die Beute der letzen Woche / liegt verstreut im Flur.
Hat sich ’n Investor einjeschlichn, / macht Pankow janz verrückt,
Biber zeigt ihm die Kante / zwischen Schrank und Schranke,
schmeißt det Arschloch ausm Fenster, / und den Rest vor die Tür,
jetz’ wolln se ihn rausschmeißen / auf die krumme Tour,
wolln ihn dingfest machen, / einbuchten für immer,
aber Olle Sumpfbiber / hat sich ausm Staub jemacht;
rüber nach Lichtenberg, / direkt an’ Faulen See,
hier kricht ihn keine Sau, / hier isser Haute volaute.

Anmerkungen

(1) Achtung! Antipolitik, Drogen, Gewalt, darüber hinaus Sensenmäuschen-Content.

(2) In unserem, durch die Massenmedien angekurbelten und beschleunigten, narzisstischen Zeitalter ist der Begriff „solidarisch“ mittlerweile korrupt. In dem Pamphlet Zero-Covid ist eine Nullnummer / und über das Sein oder Nichtsein der sozialen Revolution schreibt die „Soligruppe für Gefangene“ (Berlin) am 26. 1. 2021: „Der Altruismus der [pseudolinksradikalen; Anm.: B. P.] Covid-Zero Initiative-Petition ist insofern faszinierend, weil sie die Welt als Geisel des Coronavirus befreien will. Wir denken immer noch, dass die Menschheit mehr unter der Lohnarbeit zu leiden hat, aber was soll’s, eins nach dem anderen. Was sie eigentlich fordert, ist die Menschen als Geiseln zu nehmen. Sie peitschen den Staat wie ein Pferdegespann in einer Quadriga in diese Richtung, scheiße, nicht den Staat peitschen sie an, sondern uns! / Dafür stimmt, bittet, schnorrt, ja sogar fleht sie für einen solidarischen Lockdown. Dazu fallen uns so viele Allegorien, Metaphern, Oxymora ein, dass es ab jetzt wirklich lustig werden würde, wenn es nicht um das Leben von Menschen gehen würde.“ Und merkt zum letzten Satz in einer Fußnote an: „Wir tun es dennoch: also wenn man den Begriff solidarisch mit was verbindet, dann klingt nichts mehr so schlimm, pervers und brutal. In Verbindung mit Solidarität kann man den tollsten sozialdarwinistischen Kannibalismus salonfähig machen, die Frage ist nur, wo hört es auf? Etwa bei der solidarischen Lohnarbeit, der solidarischen Ausbeutung, der solidarischen Repression, den solidarischen Knästen, der solidarischen Folter, dem solidarischen Mord, dem solidarischen Drecksverhalten, der solidarischen Reproduktionsarbeit … Solidarisch zu sein, bedeutet ja auch selbstlos zu sein, also habt euch nicht so.“ (Quelle: panopticon.blogsport.eu, 4. 2. 2021)

(3) à la Max Stirner.
(4) à la Hans Jæger.
(5) „Solange ein segmentierter und identitärer Egoismus vorherrscht, solange die soziale Solidarität durch den Besitztrieb überschattet wird, wird der vorherrschende Trend nicht sozialer Aufstand, sondern Bürgerkrieg sein.“ Aus: Franco „Bifo“ Berardi. Meme-Schwarm und Micro Trading (Quelle: sunzibingfa.noblogs.org, 10. 2. 2021)

(6) „Schwarzgekleideter Widerstand“: Am 23. Januar 2021 protestierten in Kopenhagen und eine Woche später in Aarhus einige hundert „Men in Black“ gegen den „Pandemie-Notstand“. Sofort entstand die Internetseite mibresist.com und verkaufte „Sortklædt Modstand Ninja Hoodies“ für 349 Kronen (knapp 50 Euro). Wie genau anarchistisch, linksradikal, kleinkriminell, rechtsextremistisch, mitteterroristisch diese sonstwie-identitäre Gruppierung orientiert ist, kann ich von hier aus nicht beurteilen; im Zweifelsfall immer das letzte. Zugegeben kenne ich – wie alle gesitteten Mitteleuropäer – Dänemark nur vom Durchfahren … um nach Bornholm überzusetzen. Wollt ihr Regen oder Traufe sein? Likedeeler oder Leutequäler?

(7) Neues Nachmessen bestätigt Seemannes Suchen: Sensenmäuschen schnappen sich süße Männchen.
(8) So kryptisch ist das Leben, wenn man sich ausmalt, was alles an einem vorbeigeht.
(9) W. Gakow (Hg.). Gut eingerichtete Planeten. Phantastische Geschichten. Verlag Das Neue Berlin, 1982. – Eine Gesellschaft, die sich ihre Zukunft nur als zivilisatorischen Untergang vorstellen kann (siehe: Netflix & Co.), ist – zumindest für die zivilisierten dystopischen Initiatoren – verloren. Der Rest weiß, was zu tun ist.

(10) Auf: Masha Qrella. Woanders, Staatsakt, 2021.
(11) Auf: Melvins. Working with God, Ipecac, 2021.
(12) MELVINS “TEETH” BLACK FACE MASK, auf: blixtmerchandise.store (für schlappe 14.99 $, plus Shipping).
(13) Frei nach einem Auszug aus: Percy Bysshe Shelley. Queen Mab; A Philosophical Poem; With Notes. London, 1813. – “Nature rejects the monarch, not the man; / The subject, not the citizen: for kings / And subjects, mutual foes, for ever play / A losing game into each other’s hands, / Whose stakes are vice and misery. The man / Of virtuous soul commands not, nor obeys. / Power, like a desolating pestilence, / Pollutes whate’er it touches; and obedience, / Bane of all genius, virtue, freedom, truth, / Makes slaves of men, and of the human frame / A mechanized automaton.” – Der greise Rudolf Rocker übersetzt (am 20. Mai 1958, im Nachwort zu Nationalismus und Kultur) die letzten Zweidrittel des legendären Elfzeilers etwas pietätvoller: „Der wirklich tugendhafte Mensch befiehlt weder noch gehorcht er. / Macht, einer verheerenden Pest gleich, / Beschmutzt, was immer sie berührt; und Gehorsam, / Das Gift allen Genies, aller Tugend, Freiheit, Wahrheit, / Macht Sklaven aus Menschen und aus menschlichem Körper / Einen mechanisierten Automaten.“

(14) Aphrodite (R. E. Broughton); auf: Edgar Broughton Band. Sing Brother Sing, Harvest, 1970.
(15) Ebd.

(16) Aus: Old Gopher (Steve Broughton); auf: Edgar Broughton Band. Sing Brother Sing, Harvest, 1970.
(17) Zur Technologie der halluzinatorischen Wiedergabemethode siehe: The Story of Pil’; in: Bert Papenfuß u. v. a. m. Abriß!, Moloko Print, 2019, S. 160 f.

(18) „Did you hear about Kansas / about ’n old Kansas boy / livin’ on the river / in ’n old black Molloy / n’ buying raw red gum / n’ making raw red wine / crazy as a stallion / choked on a lariat line / Got a belly like a boiler / Got a head like a whale / n’ when he mouths yuh for something / gonna be blowin’ a gale / There’s blood on the table / n’ there’s skins on the door / n’ there’s last week’s huntin’ / all over the floor. // But there’s a dealer got in there / made Kansas go crazy / an’ he split him wide open / like a two-night daisy / threw the dealer out the window / and the rest out of the door / now they’re floodin’ water / thru his back door / They’ve been aiming to settle him / an’ wash him right away / oughta know the old gopher’s / bin gone fuh days / blew over the prairie / right into the hills / now nobody gonna get him / less a mountain kills.