Nummer 10, 14. August 2020 Philipp Mausshardt Die maskierte Gesellschaft

Angst vor Massen

Politisch würde ich mich als linksliberalen Grünen mit konservativen Anwandlungen einstufen. Muss ich mich bei Wahlen entscheiden, suche ich immer Hilfe beim Wahlomat. Letztes Mal empfahl er mir, Die Linke zu wählen. Es waren davor aber auch schon die Grünen, die SPD und einmal sogar die CDU. Drei Mal in meinem Leben bin ich in die SPD eingetreten, das letzte Mal vor acht Jahren. Ich finde, jeder Mensch sollte in eine Partei eintreten. Egal in welche, nur demokratisch sollte sie sein und irgendwie ungefähr ganz grob die eigene Grundhaltung spiegeln. Demokratie ist schließlich kein Fußballspiel, wo man auf der Tribüne sitzt und andere für sich laufen lässt. Das Elend der Parteien ist das Elend der zuschauenden Bevölkerung.

Wahrscheinlich bin ich der unglücklichste Sozialdemokrat. Aber ich weigere mich, ein drittes mal auszutreten. Einmal habe ich es bei der Linken versucht. Doch da war ich noch unglücklicher. Ich bin ungern der gleichen Meinung. Reflexartig formuliere ich das Gegenteil. Vielleicht ein psychosozialer Defekt, aber er bewahrt mich vor der großen Angst, mich irgendwann in einer Masse wiederzufinden und „ja“ oder „nein“ zu brüllen. Ich habe Angst vor Massen. In den 70er Jahren war ich als Jugendlicher auf meiner ersten und letzten Groß- Demonstration. Es ging gegen den Nato-Doppelbeschluss. Tausende riefen „hopp, hopp, hopp, Atomraketen stopp.“ Ich fand auf einmal diese brüllende Masse um mich herum viel bedrohlicher als die Atomraketen und stellte mich an den Rand, um den Demonstranten zuzuschauen. Immerhin drei Mal in meinem Leben stand ich auf der Tribüne eines Bundesliga-Spiels. Ich tat es meinem Sohn zuliebe. Aber nach wenigen Minuten langweilte mich das Spiel auf dem Rasen und ich dreht mich um und sah fast 90 Minuten in die Gesichter von völlig entrückten Menschen, die pfiffen, johlten, schrien. Der Verein meines Sohnes verlor. Für mich waren es gewinnbringende 90 Minuten.

Was sein muss

Als sich im April 2020 viele meiner Freunde nicht mehr auf eine öffentliche Parkbank zu setzen trauten, mir zur Begrüßung die Hand nicht mehr gaben und einige von ihnen (es waren nicht viele) auch Sonntags brav den Gottesdienst versäumten, weil selbst die Pfarrerinnen und Pfarrer sich ebenfalls den staatlichen Corona-Restriktionen unterworfen hatten und die Kirchen geschlossen hielten, wurde ich immer nervöser. Warum fanden denn alle diese Verordnungen so sinnvoll und warum hielten sich alle daran? Ja, es gab eine ansteckende Krankheit, gegen die noch keine Medikamente existierten, und ja, es gab Menschen, die daran starben. Aber deshalb gleich ganze Wirtschaftszweige still zu legen, den sozialen Umgang mit Bußgeldern zu sanktionieren und Kindern das Recht auf Spielen zu entziehen, hielt ich und halte es bis heute für absurd. Leider fand ich nur Wenige außerhalb der Kreise von durchgeknallten Verschwörungstheoretikern oder Rechtspopulisten, die das auch so sahen.

Am häufigsten entgegnete man mir, ich solle mich wieder beruhigen. Die Einschränkungen wären nur auf Zeit ausgesprochen und sie dienten dem Schutz der Schwachen, seien somit ein Akt der Solidarität mit denen, die sich nicht selbst schützen könnten. Man sei natürlich auch besorgt über die Regelungswut des Staates, aber es müsse halt sein. Meine gelegentlichen Einwürfe auf Facebook, das ich bis dahin nur sehr sporadisch nutzte, lösten heftige Reaktionen aus. Ich befände mich in der Gesellschaft von AfD-Wählern und solle wieder zur Vernunft kommen, waren die freundlichsten Antworten. Ein Journalisten-Kollege rief gleich bei meinem Arbeitgeber an und warnte ihn, ich sei jetzt offenbar völlig durchgeknallt.

Meinen letzten Facebook-Eintrag schrieb ich im Mai und löschte ihn drei Tage später wieder. Freunde und Kollegen baten mich inständig darum. Ich hätte einen Nazi-Vergleich gezogen und mich daher selbst lächerlich gemacht. Es war kein Nazi-Vergleich. Es war eher ein Psychosen-Vergleich. Mein Vater war als 17-jähriger noch zur Wehrmacht eingezogen worden. Während der Ausbildung in einer Kaserne kam ein Offizier frisch von der Ostfront und erzählte den jungen Rekruten ganz offen darüber, was man im Osten mit den Juden mache. Ein Schulfreund meines Vaters sagte anschließend beim Zubettgehen: „schrecklich“ sei das, was er gerade gehört habe, „aber es muss halt sein.“ Ich wollte die Ermordung von Juden nicht mit dem Tragen von Corona-Masken vergleichen. Ich wollte die „es-muss-halt-sein“-Mentalität ausleuchten, nach der Menschen ihre Prinzipien relativieren um eines höheren Ziels. Wer sich nicht an die Regeln hält, macht sich zum Volksschädling. Ok, das war zu viel, ich habe den Eintrag gelöscht.

Aber mein Misstrauen bleibt. Warum sind wir so schnell bereit, Einschränkungen bei Freiheitsrechten und sozialen Standards hinzunehmen, nur weil Virologen aus ihrer Sicht zurecht Warnungen aussprechen? Warum werden in den Medien alle Restriktionen gläubig bejubelt und niemand zweifelt diesen Bürokratismus an? Online-Anmeldungen in den städtischen Freibädern bei 30 Grad plus. Endlich ist Sommer und die bildungsbürgerlichen Damen im Schwimmbad sind wieder unter sich, keine türkische Großfamilie stört ihre Bahnen. Bildung erhalten nur noch die, die sowieso mit modernen Medien gut ausgestattet sind. Garten- und Ferienhausbesitzer genießen diesen Sommer, während alleinerziehende Mütter in Marzahn ihren Job verlieren und zuhause wahnsinnig werden. Alles weil: Es muss halt sein!

Sterben gehört zum Leben. Und vielleicht sind wegen Corona tatsächlich (und nicht mit Corona) einige tausend Menschen weltweit früher gestorben als in den Jahren ohne Corona. Aber es wird auch in Zukunft neue, noch nicht behandelbare Krankheiten geben, die für eine Zeit lang sehr gefährlich bleiben. Wir brauchen darüber Aufklärung und Handlungsempfehlungen, aber keinen Staat, der bis ins Privatleben hinein unser Leben mitbestimmt und dessen Anordnungen sakrosankt sind.