Nummer 27.2 Franco Berardi Resigniert massenhaft!

Teil 2 / 21. Dezember 2021

Es ist an der Zeit, den Kollaps zu beschleunigen, mit unseren Instrumenten mitzuspielen im Orchester des Chaos. Denn Widerstand kann die Katastrophe zwar verlangsamen, sie aber nicht aufhalten.

Die nukleare Option

Die Omicron-Variante passt den grimmigen alten weißen Männern gut – wie ein neues Gewand. , Weil sie alle Fläschchen für sich behalten wollten, konnte sich das Virus in jenen Gebieten frei verbreiten, in denen der Impfstoff aufgrund der Privatisierung des biotechnologischen Wissens nicht zur Verfügung steht. Und das Virus kommt zurück, lebendiger denn je. Die Omicron-Variante ist so klein, wie ihr Name vermuten lässt und sie richtet keinen großen Schaden an. Obwohl das gesamte Mediensystem wieder die große Trommel des Gesundheitsterrors rührt, obwohl Reisen aus vielen Ländern in viele Länder verboten sind, scheint sich diese Variante in nur zwei Wochen schnell zu verbreiten, aber nicht viele Menschen auf dem Planeten zu töten.

Allerdings bringen sich viele Menschen gegenseitig um.

An der Oakland High School erschoss am 30. November 2021 der 15-jährige Ethan Crumbley vier seiner jugendlichen Kollegen. Und Thomas Massie, ein US-Kongressabgeordneter, postete ein Foto von der ganzen Familie unterm Weihnachtsbaum. Alle sieben blonden molligen Mitglieder, seine Frau, seine Kinder, lächeln fröhlich und schwingen Maschinengewehre und Präzisionswaffen. Der Vertreter des Bundestaates Kentucky im US-Repräsentantenhaus kommentiert launig: „Santa, bring ammo!“ (Weihnachtsmann, schaff Munition ran!).
Der bis an die Zähne bewaffnete US-Präsident droht Russland mit der „nuklearen Option“ (wie die Zeitungen es nennen), die darin besteht, Russland von SWIFT, dem Zugangscode zum internationalen Finanzsystem, auszuschließen.
Zaghaft schließt sich Europa an und flüstert: Russland wird für die Folgen einer Invasion in der Ukraine teuer bezahlen.

Ich weiß nicht, ob Putin plant, im hiesigen Winter Truppen nach Kiew zu schicken. Ich weiß, dass er am Gashahn sitzt und ihn vielleicht abdreht und Europa frieren lässt, also werden wir sehen, wie es ausgehen wird.

General Budanow, der Chef des ukrainischen Geheimdienstes, sagte, dass die ukrainischen Streitkräfte einer möglichen russischen Invasion nicht länger als eine Stunde standhalten können. Daher fordert er den Westen auf, mit Waffen und Soldaten einzugreifen, um die Demokratie gegen Putins Tyrannei zu unterstützen. „Wir verfügen nicht über ausreichende militärische Mittel, um einen Angriff Russlands abzuwehren, wenn wir nicht über die Unterstützung westlicher Streitkräfte verfügen“.

Die freie Welt ist also aufgerufen, den ukrainischen Nationalismus zu verteidigen und Biden steht vor einem verrückten Dilemma: Kann der Westen nach dem afghanischen Debakel, nach der Preisgabe von Kollaborateuren, die den Taliban überlassen wurden, seinen ukrainischen Verbündeten im Stich lassen, nachdem er ihn dazu gedrängt hat, den Neuen Zaren herauszufordern?

Da Aggression ein gutes Mittel gegen Depression ist, reagiert der Westen auf das Afghanistan-Debakel mit neuen Kriegsversprechen und diesmal geht es nicht um halbe Sachen: Waffenlieferungen an ukrainische Nazis, Boykott der Olympischen Spiele in Peking, nukleare Option gegen Moskau. Die „nukleare Option“ ist zwar nur eine Metapher. Aber von Metapher zu Metapher lugt die nukleare Option in einem immer weniger metaphorischen Sinn hervor und erobert die Bühne des Jahrhunderts.

Wo die naziliberale Barbarei begann

Am 11. September 1973, nachdem schon seit 1968 eine lange Kette von Arbeiteraufständen und antikolonialen Befreiungskämpfen die Welt erschüttert hatte, läutete der Staatsstreich von General Pinochet gegen den von der Mehrheit der Chilenen gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende die neue Barbarei der Nazis ein: Das Erbe Hitlers und Mussolinis wurde mit der von den neuen Ökonomen der Chicagoer Schule propagierten Philosophie des uneingeschränkten Wettbewerbs und der natürlichen Auslese verschmolzen.

In der natürlichen Evolution gewinnt der Stärkste, der am besten an die Umwelt angepasst ist – um den Preis der Unterwerfung oder Ausrottung der Schwächeren. In den 1970er Jahren wurde Darwin erneut als Theoretiker der sozialen Evolution gelesen: eine Entwicklung, die unausweichlich schien. Dies implizierte eine Gleichschaltung der menschlichen Kulturen, die eigentlich kein Bestandteil des Darwinismus war, die aber nun die Ursprünglichkeit aller unterschiedlichen Erfahrungen, die wir als „menschlich“ definieren, ausradierte – es verschwand jede Besonderheit von Sprache, Ästhetik, Ethik und ebenso der Erotik, des Exzess – in der Bedeutung von „Genuss des Außergewöhnlichen“.

Der Sozialdarwinismus führte zur Verwahrlosung des eigentümlich menschlichen Charakters von Sprache, Geschichte und Wirtschaft und etablierte das Gesetz des Dschungels als universelles Prinzip.

Seit 1973 hat sich die nazi-liberale Seuche über die ganze Welt verbreitet, gestützt auf die maschinelle Macht der Neuen Technologien, die militärische Macht der Vereinigten Staaten und die ideologische Macht der Soziobiologie.

Man kann die politische Umformung der letzten vierzig Jahre nicht verstehen, ohne das spezifisch nationalsozialistische, spezifisch hitleristische Element zu begreifen, das im Zentrum der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Westens seit 1973 steht:
die Wiederherstellung der absoluten Vorherrschaft der Wirtschaft, die durch die Arbeiterautonomie in Frage gestellt worden war, sowie die Wiederherstellung der weißen Vorherrschaft über die Welt, nachdem sie durch antikolonialistische Bewegungen zuvor schon in Frage gestellt worden war.

Um dieses doppelte Programm zu verwirklichen, hat der Westen eine Wirtschaftsoffensive gestartet, die zur Verelendung des Weltproletariats, der Halbierung der Arbeiterlöhne und einer tödlichen Beschleunigung von Produktion und Ausbeutung führte.
Gleichzeitig hat der Westen einen rassistischen, nazi-ähnlichen ideologischen Angriffskrieg gestartet, der nach 2016 zur vollen Entfaltung kam und nach und nach den gesamten Westen eroberte.

Vor diesem Hintergrund ist heute der Wahlsieg von Boric zu sehen, dem Kandidaten, der versucht, die Bewegung der chilenischen Studenten, Frauen und Arbeiter zu vertreten – ein Sieg, der nur ein schwacher Anfang ist, denn Boric wird keine Mehrheit im Parlament erhalten, weil Militärs und Polizeitruppen diejenigen sind, aus denen die Macht Pinochet geschmiedet wurde. Doch trotz ihrer politischen Schwäche kann die Bewegung um Boric die Wahrnehmung der Zukunft entscheidend verändern.

Dort, wo die nazi-liberale Barbarei begann, kann sie auch enden, wenn es der verfassungsgebenden Versammlung gelingt, prinzipiell vorrangig das öffentliche Interesse an sozialen Diensten, Schulen und Gesundheitsfürsorge durchzusetzen, und auch dann, wenn es uns gelingt, dem verfassungsgebenden Prozess in Chile eine beispielhafte symbolische Bedeutung zu verleihen.

Ursprung dieses verfassungsgebenden Prozesses, und letztlich Grund für den Sieg von Boric, war der verzweifelte und unpolitische Aufstand vom Oktober 2019.

Rund um die Welt müssen wir kapieren:
der Bocksgesang, mit dem der Kapitalismus unser gesamtes Leben beschallt, kann nur zum Verstummen gebracht werden,

  • wenn es uns gelingt, über den klassischen Widerstand hinauszugehen und Prozesse in Gang zu setzen, die der Wirtschaft auf massivste Art und Weise die Durchsetzung ihrer Logik verunmöglichen
  • wenn es uns gelingt, die Depression als Kraftwandeler zur Aushebelung des produktiven Rhythmus und der politischen Ordnung einzusetzen.
In einem Alptraum

In der Zwischenzeit verschärft sich die Gesundheitsangst. Moderna und Pfizer haben sich bereits gemeldet und versprochen, dass sie in kurzer Zeit einen Impfstoff für Omicron herstellen können. Leider ist das Virus (für sie) so klein, dass es kaum jemanden tötet, aber vielleicht können Pfizer und Moderna die Staaten davon überzeugen, neue Forschungen zu finanzieren, die völlig nutzlos sind, genauso nutzlos wie die zahllosen Stunden der Fernsehberichterstattung, die nur von Injektionen und Injektionen und Injektionen handeln.

Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, ich sei ein Impfgegner. Gott bewahre, ich würde des Rechts beraubt werden, in einem Restaurant zu essen, in einen Zug zu steigen, zur Arbeit zu gehen und nach einiger Zeit sogar das Haus zu verlassen.

Ich bin kein Impfgegner, und ich denke, dass der Impfstoff nützlich ist, um die virale Gefahr zu verringern. Dennoch denke ich, dass die dritte Dosis ein Zeichen für den Egoismus des grimmigen alten weißen Mannes ist.

Natürlich hat auch die Weltgesundheitsorganisation zu diesem Thema Stellung genommen und erklärt, dass es angebracht sei, statt der Boosterimpfung der reichen Welt den Globalen Süden zu impfen, um zu verhindern, dass das Virus nach Belieben zirkuliert. Aber wen interessiert schon die Weltgesundheitsorganisation: Pfizer und Moderna wollen an diejenigen verkaufen, die Geld haben. So wird das Virus weiter unter denen zirkulieren, die kein Geld haben. Wenn das Virus mutiert zurückkommt, um so besser: für Pfizer und Moderna wird der Geldsegen nie enden.

Obwohl ich kein Vax bin, wage ich zu vermuten, dass die letzten zwei Jahre ununterbrochenen (Gesundheits-)Terrors, der vielleicht am Ende zehn Millionen alte weiße Männer rettet, in den nächsten zehn Jahren hundert Millionen junge Männer töten wird.

Man spricht von einer schwindelerregenden Zunahme der Selbstmorde weltweit, und die langfristigen psychosozialen Auswirkungen könnten sich als weitaus gravierender erweisen, als die unmittelbaren Folgen der Pandemie.

Den alten weißen Männern ist wichtig, dass die Gewinne steigen, und es kümmert sie wenig, dass die sich ewig verlängernde Kampagne des (Gesundheits-)Terrors und der Distanzmaßnahmen wie eine Zeitbombe in der kollektiven Psyche wirkt. Damit haben wir die Voraussetzungen für eine psychische Katastrophe geschaffen, deren Auswirkungen sich im Laufe der Zeit entfalten werden und die die Jüngsten betreffen wird, die auf ihr Leben schauen wie auf einen Alptraum.

Widerstand ist notwendig, aber nicht genug

In der Zwischenzeit wird die ultraliberale Aggression immer grausamer. Die Ungleichheiten nehmen dramatisch zu, keinerlei Sicherheit besteht, dass man von seiner Arbeit wird leben können.

Ist es notwendig, Widerstand zu leisten?

Widerstand ist notwendig, so unausweichlich wie der Instinkt, das nackte Überleben zu sichern. Manchmal kann Widerstand schändliche Projekte zum Ausverkauf des sozialen Lebens stoppen, aber im Allgemeinen schafft Widerstand nicht viel mehr, als die Aggression weniger zügig voranschreiten zu lassen. Widerstand vertagt bloß die Hinrichtung. Die Gesellschaft ist zum Tode verurteilt durch die Grausamkeit der besitzenden Klasse, die durch die Pandemie noch gieriger wurde.

Gibt es eine Möglichkeit, Widerstand zu leisten?
Die Beschäftigten der Fabriken GKN und Whirlpool wehren sich. Der von den Gewerkschaften CGIL und der UIL für den 16. Dezember 2021 ausgerufene Generalstreik war dank einer Beteiligung von 80 % der Metallarbeiter ein Erfolg.

Doch die schamloseste Arbeitgeber-freundliche Regierung aller Zeiten scherte sich um diesen rein demonstrativen Streik einen Dreck. In den Tagen nach dem Streik war die Reaktion der Regierung geradezu anmaßend: durch das Anti-Abwanderungs-Dekret änderte sie lediglich ihren Manöverplan, so dass nun ausländischen Unternehmen die Verlagerung ihrer Produktionsstätten bei nur geringer Strafe möglich bleibt.

Das Mandat der Draghi-Regierung besteht offenkundig darin, die soziale Solidarität ein für alle Mal zu zerstören, die Profite zu steigern, den globalen Unternehmen die Möglichkeit zu geben, fristlose Entlassungen vorzunehmen und feste Beschäftigungsverhältnisse durch prekäre Arbeit zu ersetzen.

Dieser Konflikt muss täglich neu ausgefochten werden, es ist erforderlich, den Strom der Ausbeutung auf jede nur mögliche Weise abzuschalten, denn nur mit viel Kraft können wir die Gewalt der Sklaventreiber der Draghi-Regierung stoppen. Aber die Stärke der Gesellschaft ist durch Pandemie und Depression geschwächt.

Widerstand kann also die nazi-liberale Verwüstung verlangsamen, sie aber nicht aufhalten.
Die Klasse der Besitzenden gebietet über eine versklavte, unwissende, erbärmliche politische Klasse. Eine politische Alternative ist undenkbar geworden.

Widerstand ist notwendig, aber zu schwach

Die intellektuelle Pflicht der heutigen Zeit besteht nicht darin, Widerstand zu leisten, sondern die Entwicklungsrichtung zu interpretieren und sie umzukehren.

Wir nähern uns dem sozialen, ökologischen und geopolitischen Zusammenbruch. Niemand kann ihn aufhalten. Wir müssen diese Entwicklung begleiten, den Zusammenbruch begleiten (i.S.v.: wie Musiker einander begleiten, Anm. d. Hrsg.) und alles so orchestrieren, dass sich aus dem Zusammenbruch ein neuer Horizont ergibt.

Das Virus hat das Chaos ausgelöst, das sich nun auf die Geopolitik, die Umwelt und das gesellschaftliche Leben überträgt. Wir müssen der Dynamik des Chaos folgen, denn in dem Abgrund, den das Chaos eröffnet, finden wir das Tor zu den extrasystemischen Formen des Überlebens und zur autonomen Gemeinschaft.

Der psychotische Zusammenbruch des westlichen Geistes

Die geopolitische Ordnung löst sich immer schneller auf und die Kriegsgefahr nimmt zu. Die Klimakatastrophe, die sich der politischen Steuerung entzogen hat, beschleunigt sich. Infolgedessen verbreitern sich die Fronten der Migration und der Völkermord an den Migranten durch die dahinsiechende, superbewaffnete weiße Macht geht immer weiter. Mauern an Europas Ostgrenzen, Stacheldraht und Wolfshunde, um unsere kriminelle Zivilisation vor den Verzweifelten zu schützen. Die Europäische Union ähnelt immer mehr dem Europa von 1941.
Der psychotische Zusammenbruch des westlichen Geistes führt zum globalen geopolitischen Zusammenbruch. Nach dem Debakel in Afghanistan weist die Reaktion der USA alle Merkmale einer Panikkrise auf. Der alternde Organismus des Westens spürt das Herannahen einer psychischen Depression von pandemischem Ausmaß. Um dem depressiven Strudel zu entkommen, inszeniert der Westen eine hysterische Komödie, die in einer kolossalen Tragödie zu enden droht.

In der ersten Dezemberwoche entwickelte sich die Ukraine-Krise zu einem aggressiven Kräftemessen auf beiden Seiten. Putin hat bekräftigt, dass bereits das Militärbündnis der Ukraine mit dem Westen eine rote Linie darstellt, die nicht überschritten werden darf. Er wird daher die an der Grenze stationierten Truppen (174.000 Mann) erst dann abziehen, wenn er sicher ist, dass die NATO weder Männer noch Waffen an die ukrainischen Grenze bringt. Biden verspricht, im Falle einer Invasion zu reagieren, aber nach Kabul kann niemand mehr den Amerikanern trauen.
Und genau aus diesem Grund darf Biden nicht nachgeben.

Diese geopolitische Dynamik lässt sich nur aus psychopathologischer Sicht entschlüsseln. Die Niederlage in Afghanistan hat die Wahrnehmung eines unausweichlichen Niedergangs, die Aussicht auf eine epidemische Depression hervorgerufen, und nun reagiert die westliche Psyche mit einer Panikpsychose, die das Vorspiel zu einem selbstmörderischen Akt sein könnte.

Nichts kann die Dynamik jener Bastardisierung paranoider Wahnvorstellungen brechen.
Das Einzige, was wir tun können, ist, uns auf das Chaos vorzubereiten, indem wir unsere Fluchtwege planen.

Psychodeflation und die Alternativen der Subjektivität

Wenn dies die angesagte geopolitische Landschaft ist, welche Nachrichten kommen dann aus dem Bereich der sozialen Subjektivität? Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die Erwartungen an die Welt, auf die Sozialpsychologie, auf unsere Vorstellung von der Zukunft?

Die anhaltende, uns alle terrorisierende Medienkampagne, die Distanzvorschriften und die Inkorporation der Angst resultieren in einer Entwöhnung von Kontakt: einer phobische Sensibilisierung gegenüber dem Körper des Nachbarn und vor allem gegenüber unseren eigenen Lippen. Die Erotik ist gelähmt, die Lust an Geselligkeit zerbröselt.

Die der gesamten Gesellschaft auferlegte Zwangsbehandlung hat Voraussetzungen für einen biopolitischen Bürgerkrieg geschaffen: eine systematische Verletzung des Habeas Corpus.
Hier müssen wir ansetzen, um unsere politischen Kategorien und therapeutischen Möglichkeiten zu verstehen und neu zu definieren.

In der pandemischen Drift sehe ich eine sich ausbreitende, psychodeflektive Welle:
eine Schrumpfung der psychischen Energie, eine Hemmung der Vorstellungskraft, eine Lähmung des kollektiven Körpers. Aber in dieser Verlangsamung des Tempos, in dieser Berührungsangst, die das Virus hervorgerufen hat, zeichnen sich mehrere Fluchtlinien ab.

Seit einiger Zeit verfolgt die Mehrheit der Völker eine faschistische Fluchtlinie: Identitätsaggression als Reaktion auf die drohende Depression.

Doch es geht nun darum, einen autonomen Ausweg zu finden, und zwar über den psycho(schizo)-analytischen Weg: einer kollektiven Verarbeitung des psychischen Leidens.

Was wir dringend benötigen, ist eine Bewegung zur Reaktivierung der kollektiven Erotik, um die Erwartungen an die Welt neu zu gestalten.

Was für ein Leben können wir uns in den Zeiten des psychotischen Zusammenbruchs des Westens vorstellen?

Wirtschaft und depressive Psychose

Ich verfolge aufmerksam Paul Krugmans Kommentare in der New York Times, denn ich halte ihn für einen der weitsichtigsten und ehrlichsten Wirtschaftswissenschaftler. Aber er ist Wirtschaftswissenschaftler und die erkenntnistheoretischen Grenzen seines Wissens hindern ihn daran, zu sehen, was vor sich geht. Für einen Ökonomen scheint es so, als ob alles aus der Sicht der Wirtschaft erklärt werden muss: Marktschwankungen, Anstieg und Rückgang der Löhne, Inflation, Zinssätze. All diese Dinge sind natürlich wichtig.

Für eine berufstätige Familie ist es von großer Bedeutung, dass die Löhne steigen und die Kaufkraft stabil ist. Aber wenn die Analyse der Welt, in der wir leben, auf wirtschaftlich quantifizierbare Werte reduziert wird, besteht die Gefahr, dass wir das Wesentliche der ablaufenden Prozesse aus dem Blick verlieren.
Ich nehme als Beispiel einen Artikel, den Krugman vor ein paar Tagen in der New York Times veröffentlicht hat. Der Artikel stützt sich auf zwei Studien des Bureau of Labor Statistics, deren Ergebnisse Krugman überraschen und ihn dazu bringen, sich Fragen zu stellen, die er nicht beantworten kann.

Krugman beginnt mit der Feststellung, dass die amerikanische Wirtschaftslage sehr gut aussieht. In der Tat scheint es, als stünden wir nach der Rezession im Jahr 2020 vor dem größten wirtschaftlichen Aufschwung seit Jahrzehnten.

Aus Meinungsumfragen geht jedoch hervor, dass sich die Verbraucher sehr niedergeschlagen fühlen. Diese negative Wahrnehmung der wirtschaftlichen Entwicklung wirkte sich schließlich zugunsten der Wahl von Präsident Biden aus. Ich habe volles Verständnis dafür, dass Krugman, ein leidenschaftlicher Verteidiger der Demokratischen Partei und Unterstützer Bidens, bedauert, dass die bisherige Leistung seines Präsidenten katastrophal ist, sowohl in der Außenpolitik (Kabul-Debakel, sinnlose Provokationen gegen China und jetzt gegen Russland), als auch bei der Umsetzung seines finanziellen Megaplans, der um die Hälfte gekürzt wurde und fast alle seine sozialen Ziele (vor allem die kostenlose Bildung) einbüßte.

Aber der Wirtschaft geht es gut, sagt Krugman; die Beschäftigung ist wieder auf Vor-Lockdown-Niveau hochgegangen, die Wachstumsmaschine läuft auf Hochtouren, der Energieverbrauch ist wieder angestiegen (und verursacht Tornados und Waldbrände).

Aber dann fragt Krugman: „Haben die Verbraucher recht? Sollten wir sagen, dass diese Wirtschaft schlecht ist, obwohl die Daten zeigen, dass sie sehr gut ist? Und wenn es tatsächlich keine schlechte Wirtschaft ist, warum sagt die Mehrheit etwas anderes?“

Gute Frage!
Wie kommt es, dass die amerikanischen Arbeitnehmer, die sich über enorme Gewinnsteigerungen und winzige Lohnerhöhungen freuen sollten, weiterhin schmollen, nervös und unzufrieden sind?

Krugman versucht, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu antworten: „Steigende Preise haben sicherlich die Lohnzuwächse aufgezehrt, auch wenn das Pro-Kopf-Einkommen immer noch über dem Niveau von vor der Pandemie liegt. Ich habe den Eindruck, dass die Inflation selbst bei steigenden Löhnen das Vertrauen erschüttert, weil sie den Eindruck erweckt, dass die Dinge außer Kontrolle geraten sind“.

Inflation, das ist die wirtschaftliche Ursache der Angst. Aber glaubt Krugman wirklich, dass die Verbraucher (die keine Verbraucher sind, sondern echte Menschen mit einem echten Leben, in dem es nicht ausschließlich darum geht, Geld einzusammeln und auszugeben) schlecht gelaunt sind, weil die Inflation aus den Ritzen lugt?

In einem Anflug von transökonomischer Intelligenz entdeckt Krugman, dass man andere Antworten erhält, wenn man die Leute fragt: „Wie geht es Ihnen?“ und nicht: „Wie geht es der Wirtschaft?“

Doch der arme Krugman versäumt, seine intuitive Einsicht fortzuspinnen und macht sich stattdessen darüber lustig, wie gut die Wirtschaft trotz einer kleinen vorhersehbaren Inflation dasteht. Und dann platzt er mit einem Schrei der Verzweiflung heraus:
„Einfach gesagt, die stark negative Einschätzung der Wirtschaft steht im Widerspruch zu jedem anderen Indikator, den man sich vorstellen kann. Was ist also los? Es ist wichtig, den Überblick zu behalten. Dies ist in der Tat eine sehr gute Wirtschaftslage, auch wenn es einige Probleme gibt. Lassen Sie sich von den Untergangspredigern nicht einreden, dass dies nicht der Fall ist.“

Was ist nun der Punkt, den der arme Krugman nicht sieht? Meiner bescheidenen Meinung nach hat die Erfahrung der letzten Jahre, insbesondere die Erfahrung des Virus, der Angst und des Todes, die Menschen dazu gebracht, das Leben in Begriffen zu denken, die sich nicht in der Sicherheit des Arbeitsplatzes auflösen (die im Übrigen völlig aleatorisch ist).

Das alte Sprichwort „it’s the economy, stupid“ sollte umgeschrieben werden: „it’s the psychology, stupid“.
Der psychotische Zusammenbruch neutralisiert die Macht der Wirtschaft. Viele fragen sich: Warum sollte man sein ganzes Leben einer schlecht bezahlten (oder sogar gerecht bezahlten) Arbeit widmen, wenn diese Arbeit sinnlos ist, einen deprimiert, leer macht und von anderen entfremdet?

Warum unter Bedingungen leben, die eine ständige Demütigung bedeuten?

Viele sind gegangen: Viereinhalb Millionen amerikanische Arbeitnehmer haben ihren Arbeitsplatz aufgegeben. Sie sind zurückgetreten.

Viele haben sich stattdessen den Horden von Trump und evangelikalen Predigern angeschlossen.
Viele haben (während der durch COVID verstärkten Opioid-Krise, Anm. der Hrsg.) Fentanyl und Oxycontin bis zur Überdosierung eingenommen. Einige nahmen das Maschinengewehr ihres Vaters und gingen zur Schule, um ein halbes Dutzend ihrer Kollegen zu töten.

All dies übersteigt definitiv den Rahmen von Krugmans Wirtschaftswissenschaft, wenn es überhaupt eine Wissenschaft ist. Aber die Zukunft der Welt wird sich meiner bescheidenen Meinung nach eher entlang der Linien des geistigen Zusammenbruchs als entlang der Linien der Wirtschaft entwickeln. Im Angesicht von Tod, Panik und Depression verliert selbst das Geld seine Macht.

Selbst die von ihrer inneren Erleuchtung beseelten Piloten der künstlichen Intelligenz, die bei Goldmann Sachs für den Freiflug hochgerüstet wurden, werden dies bald erkennen. Sie glauben, dass man mit Geld alles erreichen kann.
Aber sie irren sich.

Geld kann eine Gesellschaft nicht wiederbeleben, die von Depressionen zerlöchert ist und von Wellen der Panik und wahnsinniger Wut überrollt wird.

Das Geld kann nicht gegen die organisierte Resignation gewinnen, denn die Resignation gegenüber der Ohnmacht des politischen Willens ermöglicht die Aktivierung einer apokalyptischen und daher egalitären und genügsamen Sensibilität.

Nur aus dem Gefühl für die Apokalypse kann die Vorstellungskraft, die jetzt gelähmt ist, wieder erwachen.

Übersetzt aus dem Italienischen von © Janneke Schönenbach und Olaf Arndt, Januar 2022