Nr. 3 Gerald Grüneklee “Der unsichtbare Jäger”

Der unsichtbare Jäger – Über das Leben in einer Gesellschaft, in der das Vergnügen verboten ist?
Gerald Grüneklee

Illustration “Frühstück im Grünen” von © Janneke Mai 2020

Geschlossene Gesellschaft 9.5.2020
Wir leben in einem Experiment, das die Staaten mit uns veranstalten. Die Versuchsanordnung heißt „geschlossene Gesellschaft“. Daheimbleiben. Isolieren. Soziale Distanz. Kontaktverbot. Ausgangssperren, obwohl bisher keinerlei nennenswerte Ansteckungsgefahr im Freien (physischer Abstand vorausgesetzt) bekannt ist. Verboten ist alles, was nicht ausdrücklich erlaubt ist. Vergnügen generell scheint verboten zu sein – selbst Anträge auf die Eröffnung von Autokinos wurden in Hamburg und Holzkirchen (Bayern) abgewiesen. Pauschal werden alle politischen Versammlungen unter freiem Himmel verboten, unabhängig vom Charakter und der Größe der Veranstaltung. Kommt das nun bei jeder Grippewelle von neuem? Einzig Israel hat – begleitet von ansonsten strengen Corona-Maßnahmen – Demonstrationen als „lebenswichtig“ eingestuft und damit trotz Corona grundsätzlich erlaubt. Auflagen sind natürlich möglich und übrigens auch in Deutschland seit vielen Jahren bei Demos üblich. Im deutschsprachigen Raum aber geht nichts ohne Verbote.

Mehr Strafzettel als positive Getestete
Hier ein paar Beispiele: In Hamburg wurden Kundgebungen vor dem Gericht untersagt – während die Verhandlungen „natürlich“ stattfanden. In Berlin wurde ein Autokorso – drinnen Menschen mit Gesichtsmasken – verboten, an dessen Autos Plakate hingen, die zur Solidarität mit Geflüchteten aufriefen. In Mannheim wurde ein Mensch festgenommen, nur weil er zu einem „friedlichen Protestmarsch gegen Ausgangsbeschränkungen“ aufrief. In Potsdam wurde eine Menschenkette untersagt, obwohl dort ein Abstand von drei Metern zwischen den Menschen und eine zeitversetzte Anreise zugesagt wurde. In Berlin wurden Menschen schikaniert, die beim Sport oder beim Hundeausführen eine Verschnaufpause machten. Ebenfalls in Berlin wurde ein privates Abendessen von vier Personen polizeilich aufgelöst.

In München verbot die Polizei das Lesen eines Buches im Park. In Bremen bekamen fünf minderjährige Geflüchtete, die nicht zusammenwohnen (was heißt „Zuhause“ für diese Menschen?), und die ein wöchentliches Taschengeld von nicht einmal zehn Euro haben, eine Geldstrafe von 180 Euro, pro Person. In Würselen (Nordrhein-Westfalen) muss ein Pärchen 400 Euro bezahlen, weil es sein Eis nicht die geforderten 50 Meter von der Eisdiele entfernt gegessen hat. Auf Friedhöfen kontrolliert die Polizei Trauernde. Wer nicht zum „engsten Familienkreis“ – der polizeilich dann definiert wird – gehört, wird wieder weggeschickt. Spielplatzbesuch – verboten.

In Österreich gab es erheblich mehr Strafzettel wegen Verstößen gegen die Pandemieverordnungen als positiv Getestete. Betroffen beispielsweise eine Frau, die ihrer Tochter ein Schulheft kaufte – das sei „nicht lebensnotwendig“. Der regierenden ÖVP schadet dies nicht, sie ist inzwischen in Umfragen fast bei der absoluten Mehrheit, die Beliebtheitswerte von „Knallhart-Kanzler“ (Bild-Zeitung) Kurz haben enorm zugelegt. Dabei werden Empfehlungen in vorauseilendem Gehorsam von der Bevölkerung zu Verboten umgemünzt: so gibt es in Österreich entgegen weit verbreiteter Ansicht tatsächlich keine juristische Ausgangssperre – die willfährige Bevölkerung exekutiert die Corona-Maßnahmen jedoch faktisch in Form einer Ausgangssperre.

Die Virus-Jagd-Saison
Durchhalteparolen und Forderungen nach autoritärem Corona-Management finden sich auch in linken Online-Foren. Die Virusjagd ist eröffnet. „Wir dürfen nicht vergessen: Da draußen befindet sich ein unsichtbarer Jäger, der uns jagt. Wir sind die Beutetiere. Und je sorgloser wir sind, desto leichter findet er seine Beute“, so in markanten Worten der Bremer Virologe Andreas Dotzauer . Damit hebt Dotzauer das Virus auf die Stufe einer Naturgesetzlichkeit, eine Bedrohung, gegen die „wir“ uns zusammenschließen müssen.

Das Virus ist allerdings so wenig eine Naturkatastrophe wie der Klimawandel, beides sind Konsequenzen der Art, wie Menschen leben – und nicht zuletzt wirtschaften. Die Virusjagd, sie ist auch: eine Jagd auf Menschen. Renitenten Subjekten drohen Denunziation, Zwangsgelder und Psychiatrie – ja, die Psychiatrisierung war ernsthaft auch in Deutschland für „Uneinsichtige“ geplant. Sie ist gerade nochmal vom Tisch. Diesmal.
„Geschlossene Gesellschaft“: ein gefährlicher Versuch.

Er beunruhigt mich erheblich mehr als das Virus. Sind wir noch auf dem Weg in die Gesundheitsdiktatur? Hat sie schon begonnen? Heiligt der Zweck alle Mittel?

Der Text ist ein Vorabdruck aus dem Buch “Corona und die Demokratie“
von Grüneklee, Gerald; Heni, Clemens; Nowak, Peter bei Edition Critic, Mai 2020