Unsere Krankheit ist unsere Maske.
Unsere Krankheit ist grenzenlose Langeweile.
Unsere Krankheit ist wie ein Extrakt aus Faulheit und ewiger Unrast.
Unsere Krankheit ist Armut.
Unsere Krankheit ist, an einen Ort gefesselt zu sein.
Unsere Krankheit ist nie allein sein können.
Unsere Krankheit ist, keinen Beruf zu haben, hätten wir einen, einen zu haben.
Unsere Krankheit ist Mißtrauen gegen uns, gegen andere, gegen das Wissen, gegen die Kunst.
Unsere Krankheit ist Mangel an Ernst, erlogene Heiterkeit, doppelte Qual. Jemand sagte zu uns: Ihr lacht so komisch. Wüßte er, daß dieses Lachen der Abglanz unserer Hölle ist, der bittere Gegensatz des: »Le sage ne rit qu’en tremblant« Baudelaires.
Unsere Krankheit ist der Ungehorsam gegen den Gott, den wir uns selber gesetzt haben.
Unsere Krankheit ist, das Gegenteil dessen zu sagen, was wir möchten. Wir müssen uns selber quälen, indem wir den Eindruck auf den Mienen der Zuhörer beobachten.
Unsere Krankheit ist, Feinde des Schweigens zu sein.
Unsere Krankheit ist, in dem Ende eines Welttages zu leben, in einem Abend, der so stickig ward, daß man den Dunst seiner Fäulnis kaum noch ertragen kann.
Begeisterung, Größe, Heroismus. Früher sah die Welt manchmal die Schatten dieser Götter am Horizont. Heut sind sie Theaterpuppen. Der Krieg ist aus der Welt gekommen, der ewige Friede hat ihn erbärmlich beerbt.
Einmal träumte uns, wir hätten ein unnennbares, uns selbst unbekanntes Verbrechen begangen. Wir sollten auf eine diabolische Art hingerichtet werden, man wollte uns einen Korkzieher in die Augen bohren. Es gelang uns aber noch zu entkommen. Und wir flohen – im Herzen eine ungeheure Traurigkeit – eine herbstliche Allee dahin, die ohne Ende durch die trüben Reviere der Wolken zog.
War dieser Traum unser Symbol?
Unsere Krankheit. Vielleicht könnte sie etwas heilen: Liebe. Aber wir müßten am Ende erkennen, daß wir selbst zur Liebe zu krank wurden.
Aber etwas gibt es, das ist unsere Gesundheit. Dreimal »Trotzdem« zu sagen, dreimal in die Hände zu spucken wie ein alter Soldat, und dann weiter ziehen, unsere Straße fort, Wolken des Westwindes gleich, dem Unbekannten zu.
Anmerkung:
Georg Heym, geboren am 30. Oktober 1887 in Hirschberg
(Schlesien) und gestorben am 16. Januar 1912 in Berlin, war
ein deutscher Autor, Dichter und Dramatiker. Sein Werk
umfasst Dramen, Erzählungen, aber vor allem lyrische
Texte. Obwohl der junge Dichter bereits in frühen Jahren
verstarb, gilt sein OEuvre als wesentlicher Wegbereiter des
literarischen Expressionismus, das zahlreiche nachfolgende
Autoren prägen und beeinflussen sollte. Demnach gilt
Georg Heym als einer der wichtigsten und bedeutendsten
deutschsprachigen Dichter, wobei sein Gesamtwerk über
500 Gedichte sowie einzelne Werke in Prosa und dramatische
Arbeiten umfasst.
Ben Schot (1953) ist ein bildender Künstler, Schriftsteller
und Verleger aus Rotterdam. Schot wuchs in einer kleinen
Stadt auf der Insel Schouwen-Duiveland in Zeeland auf,
wo sein Vater sein Leben als Fischer verbrachte. Nach seinem
Englisch-Studium und dem Abschluß seines Wehrersatzdienstes
als Kriegsdienstverweigerer besuchte Schot in
den frühen 1980er Jahren die Kunstschulen von Den Haag
und Rotterdam. Schot’s Aktivitäten umfassen verschiedene
Richtungen und Techniken: Zeichnungen, Audioarbeiten,
Installationen und Performances. Als Schriftsteller veröffentlicht
Ben Schot Artikel und Belletristik in verschiedenen
Zeitschriften. Im Jahr 2000 gründete Schot seinen
kleinen Verlag Sea Urchin Editions, um Werke der Avantgarde
und Gegenkultur, wie zum Beispiel Werke von Henri
Michaux, Pier Paolo Pasolini, André Breton, Bill Levy und
Georg Trakl zu veröffentlichen. Über Sea Urchin Editions
vertreibt Schot auch die Editionen und Veröffentlichungen
von Künstlerkollegen, Freunden und anderen kleinen Verlagen
und Labeln.