Nummer 47 Andreas Peglau Sein, Bewusstein, Klassenbewusstsein

Bestimmt das Sein tatsächlich das Bewusstsein? Weshalb ist es so vielen von uns nicht bewusst, dass sie dazu manipuliert werden, gegen ihre Lebensinteressen zu handeln? Vier Einwände gegen Marx und der Versuch, mit Wilhelm Reich den „Krieg gegen die Köpfe“ zu gewinnen.

Ich halte viele der Erkenntnisse von Karl Marx und Friedrich Engels für unverzichtbar, um ausbeuterisch-unterdrückende Systeme, insbesondere das kapitalistische zu begreifen und durch eine bessere Gesellschaftsordnung zu ersetzen. Gerade deshalb lohnt es sich, jene Dimension hinzuzufügen, um die Marx und Engels weitgehend einen Bogen machten:i die psychosoziale.
Dass auch im „realen Sozialismus“ das angemessene Einbeziehen dieser Dimension unterblieb, hat maßgeblich zu dessen Scheitern beigetragen. Konzepte für künftige soziale Umwälzungen werden ebenfalls nur in dem Maße umsetzbar sein, wie ihnen ein ganzheitlicher Blick zugrunde liegt – also ein Blick, der auch über Marx und Engels deutlich hinaus geht.
Wie ich mir ein Anknüpfen an Marx vorstelle, das ohne dessen thematische Selbstbeschränkungen auskommt, will ich an einem einzigen, allerdings bedeutungsschweren Satz zeigen. Dabei habe ich nicht den Anspruch, etwas als erster zu formulieren, sondern nur, meine Sicht zusammenzufassen.ii

1859 veröffentlichte Karl Marx die Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Im Vorwort grenzte er sich so von der idealistischen Philosophie ab:

Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.”iii 

Diese Aussage, oft reduziert auf „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“,iv fand weite Verbreitung.

Einwand 1: Der Satz ist unvollständig.

Aus dem Zusammenhang des Textes und anderen Stellen in Schriften von Marx ergibt sich, dass mit „Bewusstsein“ die gesamte, von ihm nicht weiter differenzierte, psychische Aktivität des Menschen gemeint war. Davon ausdrücklich das Unbewusste abzugrenzen und ihm zum Teil eigene Gesetzmäßigkeiten zuzubilligen, blieb Sigmund Freud vorbehalten, der erst um 1900 umfassend mit seiner Psychoanalyse an die Öffentlichkeit trat.
Dass es einen unbewussten Bereich im Seelenleben gibt, war freilich auch Marx und Engels bekannt. Sie benutzten die Vokabel „unbewusst“ mehrfach, auch vor 1859.v

Der Satz von Marx wäre also, zumindest aus heutiger Sicht, so zu komplettieren:

Es ist nicht das Bewusstsein und das Unbewusste der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein und ihr Unbewusstes bestimmt.”  

Freud sollte dann herausarbeiten, dass das Unbewusste nicht zuletzt aus Fehlwahrnehmungen und -verarbeitungen („Neurosen“) besteht, daher „irrationale“ Denk- und Handlungsweisen verursacht. Dass Menschen sich oft irrational verhalten, war jedoch ebenfalls weit vor Freud Allgemeinwissen. Trotzdem haben, soweit ich weiß, Marx und Engels diesen Fakt nicht in ihre Überlegungen einbezogen.

Wenn ich Bewusstsein und Unbewusstes, inklusive Neurosen/ Irrationalem, mit dem Begriff „Psyche“ zusammenfasse, lautet der Satz:

Es ist nicht die Psyche der Menschen, die ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das die Psyche bestimmt.”  

Einwand 2: Der Satz negiert die Wechselwirkungvi

Würde sie einbezogen, müsste es heißen:
„Es ist das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sowie umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.” 
Bzw. in meiner Fassung:
Es ist die Psyche der Menschen, die ihr Sein, sowie umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihre Psyche bestimmt.”

Abgeschwächt – und damit wohl eher im Sinne von Marx: „Die Psyche der Menschen wird weitaus mehr durch ihr gesellschaftliches Sein bestimmt als ihr gesellschaftliches Sein umgekehrt durch ihre Psyche.”

Darüber würde ich freilich streiten.
Angemessener erscheint mir: „Die menschliche Psyche steht in ständiger Wechselwirkung mit dem gesellschaftlichen Sein.“

Was hier die Priorität hat, was zuerst da war, halte ich für ungeklärt, wahrscheinlich auch für nicht zu klären: eine Huhn-oder-Ei-Frage.

Zudem müsste man diese Aussage differenzieren, zumindest nach Lebensalter, wohl auch nach Art der Sozialisation und sozialer Zugehörigkeit („Klasse“). Das noch wenig entwickelte Bewusstsein, die Psyche eines Neugeborenen wirkt weniger intensiv auf die Umwelt ein als es der Psyche eines Erwachsenen möglich ist. Je starrer, autoritärer, hierarchischer die soziale Ordnung, desto weniger Einfluss hat die Psyche eines Individuums am Fuße der Machtpyramide auf die Gesellschaft – und desto heftiger schlagen die seelischen Befindlichkeiten (und Störungen!) der Führenden zu Buche.vii

Einwand 3: Der Satz ist tautologisch.

In Wirklichkeit steht auf beiden Seiten SEIN, nur eben verschiedenartiges Sein.
Daher bedeutet der Satz eigentlich:
„Das Sein bestimmt das Sein.“

Auch das Bewusstsein, die Psyche insgesamt existiert objektiv real, ist also Sein. (Man kann sie nicht sehen oder anfassen. Das gilt jedoch ebenso für die Schwerkraft – was niemanden daran hindert, sie als Bestandteil des Seins einzuordnen. Die Existenz, das SEIN der Psyche kann ebenso wie bei der Schwerkraft anhand ihrer Wirkungen nachgewiesen werden.)

Wollte man es differenzierter formulieren, wäre diese Formulierung denkbar:
„Das materielle Sein bestimmt das psychische Sein – und umgekehrt.“

Einwand 4: Der Satz ist ungenau.

Kinder verbrachten auch im 19. Jahrhundert ihre früheste Lebensphase zumeist zuhause. Kinderarbeit setzte erst mit späterem Alter ein, bei Bürgerkindern gar nicht.viii Obwohl Eltern gesellschaftliche Normen und Werte vermitteln, galten (und gelten) in Familien nicht dieselben Regeln wie im Produktionsprozess.ix Arbeiter werden zudem nicht in gleicher Weise wie Kinder „erzogen“.x
Diese Erziehung prägt die kindliche Psyche hochgradig, schafft nachhaltige psychische Strukturen vor jedem Direktkontakt mit Industrie oder Produktion. Individuelle „Menschwerdung“ beginnt nicht erst mit Arbeit.xi Hinzu kommt, dass der Sexualtrieb in den psychischen Strukturen von Geburt an eine wesentliche und spezifische Rolle spielt.xii
Marx und Engels haben jedoch die Prägung von Menschen vor und außerhalb der Produktionssphäre weitestgehend unberücksichtigt gelassen.xiii
In jedem Fall ist es nötig, „gesellschaftliches Sein“ differenzierter zu beschreiben.

Daher ein letzter Formulierungsvorschlag:
„Die Psyche der Menschen entsteht und steht in ständiger Wechselwirkung mit den direkt oder indirekt auf sie einwirkenden biologischen, psychosozialen, politischen, ökonomischen Gegebenheiten.“

Konsequenzen

Obwohl Marx das sicher nicht im Sinn hatte, ließ sich sein Satz so interpretieren, dass, wenn das „gesellschaftliche Sein“ entsprechend geändert wäre, das „Bewusstsein“ als vermeintlich nur abgeleitete Größe schon irgendwie hinterherkäme. So wurde er auch im „realen Sozialismus“ zumeist verstanden – und die Eigendynamik der menschlichen Psyche vernachlässigt, vorhandenes Wissen darüber zum Teil sogar bekämpft. Wenn auch mit „Entnazifizierung“, politischer Schulung, mit sozialistischen Kultur-, Bildungs- und Erziehungsangeboten enorme Anstrengungen unternommen wurden, den „neuen Menschen zu schaffen“: Sie genügten nicht, waren teils kontraproduktiv. Trotz sozialistischer Produktionsverhältnisse war die Masse der DDR-Bürgerinnen und -bürger, waren ihre psychischen Strukturen 1990 noch immer „anschlussfähig“ an die kapitalistische BRD.
Es mag sich in den damaligen philosophischen und politischen Auseinandersetzungen für Marx als Notwendigkeit dargestellt haben, seine These so überspitzt zu formulieren. Diese These markierte offensichtlich auch einen Fortschritt im Denken und ermöglichte konstruktiv-kritische Weiterführungen. Doch wortgetreu an ihr festzuhalten, verzerrt die Realität und behindert das Entstehen von Konzepten, die als Basis sinnvoller sozialer Umwälzungen dienen könnten.

Einer von denen, die über den Satz von Marx hinausgingen, war Wilhelm Reich. Da er die oben genannten Wechselwirkungen, das Unbewusste und die Rolle von Kindheit, Familie, Erziehung in seine Forschungen einbezog, konnte er 1934 konkretisieren, worauf bei Revolutionen zu achten sei:

Versucht man die Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen. Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann.“xiv

1933 war der aus Deutschland geflüchtete Wilhelm Reich aus den kommunistischen und den psychoanalytischen Organisationen ausgeschlossen worden und hatte im dänischen Exil die Massenpsychologie des Faschismus1 veröffentlicht. 1934 begann er mit der Herausgabe der Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie.2 Dort erschien auch sein, unter dem Pseudonym „Ernst Parell“ verfasster Aufsatz „Was ist Klassenbewusstsein?“, den er zusätzlich als 72-seitige Broschüre drucken ließ.3

Anknüpfend an die Massenpsychologie wollte Reich hier, so der Untertitel, einen „Beitrag zur Neuformierung der Arbeiterbewegung“ leisten – welche nach der nationalsozialistischen Machtübernahme und Zerschlagung der „linken“ Organisationen in Deutschland zwingend nötig geworden war. Dazu müssten, meinte Reich, jene Fehler der „Linken“ analysiert werden, die diese Machtübernahme begünstigt hatten. Neben dem Torpedieren einer antifaschistischen Einheitsfront stellte er insbesondere das anhaltende „Unverständnis vieler Wirtschaftspolitiker für psychologische Fragestellungen überhaupt“ 4 in den Vordergrund:

„Ein Stück der gemeinsamen Grundursache des Versagens des Sozialismus in allen seinen Teilen, ein Stück zwar bloss, aber ein wesentliches, nicht mehr zu übersehendes, nicht mehr als zweitrangig zu betrachtendes, ist der Mangel einer brauchbaren marxistischen politischen Psychologie. Dieser Mangel drückt sich nicht nur darin aus, dass eine derartige Psychologie erst erarbeitet werden muss, sondern auch darin, dass in der Arbeiterbewegung eine grosse Scheu vor psychologischer Betrachtung und Anschauung, vor bewusster praktischer Psychologie besteht. Dieser Mangel auf unserer Seite wurde zum grössten Vorteil des Klassenfeindes, wurde die mächtigste Waffe des Faschismus. Während wir den Massen grossartige historische Analysen und ökonomische Auseinandersetzungen über die imperialistischen Gegensätze vorlegten, entbrannten sie für Hitler aus tiefsten Gefühlsquellen.“5

Da Reich die Borniertheit der KPD-Führung am eigenen Leibe erlitten und auch bezüglich der von Stalin dominierten Kommunistischen Internationale kaum noch Illusionen hatte,6 wollte er seinen Aufsatz verstanden wissen als „Appell […] an die künftigen [!] Führer der Revolution“,7 die „Leiden und Wünsche“ des sich für unpolitisch haltenden „durchschnittlichen Erdenbürgers“ zu begreifen und zum Ausdruck zu bringen.8 Denn nur mit einer solcherart geschaffenen Massenbasis ließe sich der Faschismus besiegen und eine gerechte, humane, sozialistische Gesellschaftsordnung aufbauen.

In Reichs Text wird deutlich, dass er nicht nur Proletarier, sondern sämtliche Ausgebeuteten im Sinn hat, wenn er von „Klassenbewusstsein“ schreibt. Es geht ihm um das Realitäts-Bewusstsein aller unterdrückten Klassen und Schichten. Dieses sei, meint Reich, nicht zu verwechseln mit dem theoretischen Wissen, das sich revolutionäre Führer anzueignen hätten. In den psychischen Strukturen der Volksmassen schlage sich die Lebenssituation nicht in Form von Karl-Marx-Zitaten oder ökonomischen Abhandlungen nieder, sondern gebunden an – auch privateste – Alltagserfahrungen, oft diffus, widersprüchlich, kontaminiert durch neurotische Anteile und (klein)bürgerliche Einstellungen.9 „Die Mehrzahl der Bevölkerung der Erde“, so Reich, „lebt ihr eigenes unterjochtes Dasein mehr oder weniger unbewusst und stützt derart die Herrschaft des Kapitals“10 – also genau jene Kräfte, die für das Elend der Masse, für Ausbeutung, Unterdrückung und Kriege die Hauptverantwortung tragen.

Die letztere Einschätzung verbindet seinen Text mit der Gegenwart, trifft 90 Jahre später wieder zu, auch hierzulande.
Mit den „Corona“-Maßnahmen11 setzte in der Bundesrepublik Deutschland 2020 eine massive Entdemokratisierung und Wirtschaftszerstörung ein. Dieser Prozess hält an. Als Vasall der USA (Oskar Lafontaine) trägt die deutsche Regierung inzwischen dazu bei, dieses Land ökonomisch und ideologisch auf Kriegskurs zu bringen gegen eine angebliche „Bedrohung aus dem Osten“, erhöht somit schuldhaft die Wahrscheinlichkeit eines dritten Weltkrieges. Der BRD-Bevölkerung geht es daher seit 2020 sowohl materiell als auch ideell, kulturell, gesundheitlich, psychisch und sozial immer schlechter. Nur die allerwenigsten profitieren12 von dem (selbst)mörderischen Kurs der „Eliten“. Alle anderen, 99 Prozent der Gesellschaft, stehen objektiv auf der Gegenseite. Doch nur der kleinere Teil will das wahrhaben – und fällt dadurch umso mehr dem regierungsamtlichen und medialen Krieg um Köpfe (genauer: gegen Köpfe) zum Opfer.

Reich wandte sich 1934 an eine imaginäre KP-Führung, war mit einer anderen weltpolitischen Situation und sozialen Schichtung als heute konfrontiert, engagierte sich für eine sozialistische Revolution, wie sie 2024 sicher nicht auf der Tagesordnung steht. Insofern ist sein Text zuallererst ein geschichtliches Dokument.

Aber er traf hier auch Aussagen, die umfassendere Geltung beanspruchen konnten. Sie erleichtern es, erneut brisant gewordene Fragen zu beantworten:

Weshalb ist es Menschen nicht bewusst, dass sie dazu manipuliert werden, gegen ihre Lebensinteressen zu handeln?

Wie kann ihnen dazu verholfen werden, sich das bewusst zu machen?

Wie können die, die sich dieser Realität (halb) bewusst sind, ermutigt werden, daraus praktische Konsequenzen zu ziehen, nicht zuletzt: sich zusammenzuschließen?

Zweierlei»Klassenbewusstsein«

Entscheidend für eine schlagkräftige Politik, die sich die Erkämpfung des Sozialismus, die Aufrichtung der Herrschaft der Arbeit über das Kapital zum Ziele setzt, ist nicht nur zu erkennen, was sich durch die Entwicklung der Produktivkräfte an gesellschaftlichen Bewegungen und Veränderungen objektiv, unabhängig von unserem Wollen ergibt, sondern gleichzeitig und gleichwertig damit, was sich in den »Köpfen«, das heisst in den seelischen Strukturen der diesen objektiven Vorgängen unterworfenen und sie weitertreibenden Menschen der verschiedenen Länder, Stadtteile, Berufsschichten, Altersklassen, Geschlechter etc. abspielt.
In der sozialistischen Bewegung und Politik spielt der Begriff des Klassenbewusstseins eine führende Rolle; das »Klassenbewusstwerden« der unterdrückten Schichten der Bevölkerung aller Länder ist als dringendste Voraussetzung der revolutionären Umwälzung des heute herrschenden gesellschaftlichen Systems gefordert.

Wir meinen doch offenbar damit, dass sich die Menschen unter dem Einfluss der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse irgendwie verändern müssen, um eine gesellschaftliche Leistung wie die soziale Revolution überhaupt durchzuführen. […]

In Deutschland gab es zuletzt etwa 30 Millionen antikapitalistisch gesinnte Werktätige, übergenug an Zahl für die soziale Revolution, aber an die Macht kam der Faschismus gerade mit Hilfe dieser antikapitalistischen Gesinnung der Kerntruppen seiner Anhänger.
Ist antikapitalistische Gesinnung schon Klassenbewusstsein oder garnicht, blos(s) ein Ansatz dazu oder nur eine Bedingung seiner Bildung? Was ist Klassenbewusstsein überhaupt? […] Das hochspezialisierte Wissen um den soziologischen Prozess und seine Widersprüche? Oder das komplizierte Wissen um die Gesetze der kapitalistischen Ausbeutung? Hatten die Partisanen des revolutionären Russland solches Wissen, als sie enthusiastisch kämpften, oder hatten sie es gar nicht nötig? Waren sie »klassenbewusste« Arbeiter und Bauern oder nur Rebellen? […]

Versuchen wir von der einfachen Praxis und Erfahrung auszugehen. Vor kurzem sprach man in einer politischen Gruppe sehr viel über das Klassenbewusstsein und die Notwendigkeit, es »im Massenmasstabe zu heben«. […] Einer, der sich sehr schweigend verhalten hatte, bat einen führenden Funktionär, der sich als besonders eifriger Verfechter des Klassenbewusstseins des deutschen Proletariats bekundete, er möchte doch fünf konkrete Elemente des Klassenbewusstseins nennen und vielleicht auch fünf hemmende Elemente seiner Entwicklung. Wenn man das Klassenbewusstsein entwickeln will, so muss man doch zunächst wissen, was man entwickeln will, und warum es sich unter dem Drucke der Not jeder Art nicht von selbst entwickelt, was es also daran verhindert! Die Frage schien logisch.
Der befragte Funktionär war zunächst ein wenig erstaunt, zögerte eine Weile, dann sagte er entschieden: »Na, selbstverständlich der Hunger!« »Ist der hungrige SA-Mann klassenbewusst?«, war die prompte Gegenfrage. Ist der Dieb, der aus Hunger eine Wurst stiehlt oder der Arbeitslose, der sich für zwei Mark zu einem reaktionären Aufmarsch verdingt, oder der Jugendliche, der bei einer Demonstration Steine gegen die Polizei wirft, klassen-bewusst? Wenn also der Hunger, auf dem die KPD ihre ganze Massenpsychologie aufgebaut hatte, an sich noch kein Element des Klassenbewusstseins ist, was denn sonst? […]
So falsch die Anschauung ist, dass die unterdrückte Klasse ohne Führung, aus einem spontan entstehenden revolutionären Willen heraus die Revolution zum Siege führen kann, so falsch ist auch die ihr entgegengesetzte, dass es nur auf die Führung ankomme, die das Klassenbewusstsein erst zu schaffen hätte. Das könnte ihr, wenn es nicht irgendwie angelegt, spontan doch in Bildung begriffen wäre, nie gelingen.

Wenn also eine bestimmte psychische Situation in der Masse mit dem hohen Bewusstsein der revolutionären Führung erst zusammenklingen muss, damit die subjektive Vorbedingung für die soziale Revolution geschaffen werde, ist die Beantwortung der Frage »Was ist Klassenbewusstsein?« umso notwendiger.
Sollte hier jemand einwenden, die Frage sei überflüssig, denn man habe immer betont, man müsse an die »kleinen Tagesnöte« anknüpfen, so fragen wir: Heisst es »Klassenbewusstsein entwickeln«, wenn man in einem Betrieb für Einrichtung von Ventilatoren eintritt? Wie aber, wenn der NSBO2-Betriebsrat das ebenfalls tut, vielleicht sogar als besserer Redner? Hat er dann die Belegschaft für sich gewonnen? Gewiss! Wo liegt der Unterschied zwischen der sozialistischen und der faschistischen Vertretung der »kleinen Interessen«, zwischen unserer Freiheitsparole und der Parole »Kraft durch Freude«?3 […]

Es heisst, dass das Bewusstsein der Massen auf die Höhe des revolutionären Klassenbewusstseins gehoben werden müsste; versteht man darunter das hoch entwickelte Wissen um den geschichtlichen Prozess, den der Führer der Revolution haben muss, dann rennt man einer Utopie nach. Niemals kann es im Kapitalismus gelingen, die breite Masse, die den Aufstand und die Revolution durchzuführen hat, mit diesem hochspezifizierten Wissen zu erfüllen, durch keinerlei Mittel der Propaganda. […]

Es gäbe somit konkret zweierlei Klassenbewusstsein: das der revolutionären Führung und das der Masse; beide müssen zusammenklingen. Die Führung hat keine dringendere Aufgabe, neben der genauen Kenntnis des objektiven historischen Prozesses, als die, zu verstehen:

a. was die verschiedenen Schichten, Berufe, Altersstufen, Geschlechter an vorwärtstreibenden Wünschen, Ideen, Gedanken in sich tragen;

b. was sie an derartigen Wünschen, Aengsten, Gedanken und Ideen in sich tragen, die das Vorwärtstreibende an der Entfaltung verhindert (»traditionelle Bindungen«).
Das Klassenbewusstsein der Masse […] orientiert sich einzig und allein an den subjektiven Spiegelungen, Verankerungen, Auswirkungen […] in millionenfach verschiedenen kleinsten Alltagsfragen, sein Inhalt ist also das Interesse an Nahrung, Kleidung, Mode, familiären Beziehungen, den Möglichkeiten der sexuellen Befriedigung […], Kino, Theater, Schaubuden, Rummelparks und Tanz, ferner an den Schwierigkeiten der Kindererziehung, an Hausschmuck, an Länge und Gestaltung der Freizeit etc., etc. […]

Nur durch den Kopf des Menschen, durch seinen Willen zur Arbeit und sein Sehnen nach Lebensglück, kurz seine psychische Existenz, schaffen wir, konsumieren wir, verändern wir die Welt. Das haben die zu Oekonomisten entarteten »Marxisten« längst vergessen. […]
Die Behauptung ist nicht zu gewagt, dass sich die Arbeiterbewegung eine unendliche Reihe von Sektierertum, Eigenbrödelei, Scholastik, Fraktionsbildungen und Spaltungen erspart, dass sie den dornigen Weg zum Selbstverständlichsten, zum Sozialismus, abgekürzt hätte, wenn sie ihre Propaganda und Taktik und Politik nicht nur aus Büchern, sondern in erster Linie aus dem Leben der Massen geschöpft hätte. […]

Die politische Reaktion, Faschismus und Kirche an der Spitze, fordern von der arbeitenden Masse Entsagung an irdischem Glück, Zucht, Gehorsam, Entbehrung, Opfer für die Nation, das Volk, das Vaterland. Dass sie dies fordern, ist nicht das Problem, sondern dass sie von der Erfüllung dieser Forderungen durch die Masse selbst politisch leben und dabei dick und fett werden. Sie stützen sich dabei auf die Schuldgefühle der Massenindividuen, auf ihre anerzogene Bescheidenheit, auf ihre Neigung, Entbehrungen stumm und willig, manchmal auch selig zu tragen, auf der anderen Seite auf ihre Identifizierung mit dem glorreichen Führer, dessen »Liebe zum Volk« ihnen die reale Bedürfnisbefriedigung ersetzt. […]
Wenn man die Masse der Bevölkerung gegen das Kapital ins Feld führen, ihr Klassenbewusstsein entwickeln, sie zur Auflehnung bringen will, erkennt man das Entsagungsprinzip als schädlich, ledern, blöde, reaktionär. Der Sozialismus behauptet doch, dass die Produktivkräfte der Gesellschaft weit genug entwickelt sind, um der breitesten Masse aller Länder ein dem Kulturniveau der Gesellschaft entsprechendes Leben zu sichern. Gegen das Entsagungsprinzip der politischen Reaktion ist das Prinzip des reichen Glücks auf Erden zu setzen; dass wir darunter nicht Kegelschieben und Biertrinken verstehen, wird man wohl glauben. […]
[Der »einfache Mann«] denkt etwa so: »Wenn uns der Sozialismus wieder nur Opfer, Entsagung, Not, Entbehrung bringt, dann bleibt uns gleichgültig, ob dieses Elend sozialistisch oder kapitalistisch genannt wird. Der Vorzug der sozialistischen Wirtschaft muss sich daran beweisen, dass sie unsere Bedürfnisse befriedigt und mit ihrem Anwachsen standhält.« Das heisst, der Heroismus der Führung gilt nicht für die breite Masse. Wenn in Revolutionszeiten den Massen Entbehrungen auferlegt werden, dann haben sie ein Recht darauf, genaueste Beweise zu fordern, dass sich diese Entbehrung als vorübergehende Erscheinung von der im Kapitalismus unterscheidet. […]

Man kann die Auffassung des Klassenbewusstseins, ob es nämlich ethischer oder […] rationaler Art ist, an Beispielen gut überprüfen: Wenn zwei Menschen, A und B, hungern, kann sich der eine fügen, nicht stehlen, und betteln oder verhungern; der andere jedoch kann sich eigenmächtig Nahrung verschaffen. […] Welcher der beiden […] Typen hat mehr Elemente von Klassengefühl in sich? Stehlen ist noch kein Zeichen von Klassenbewusstsein; eine kurze Ueberlegung zeigt aber –trotz unseres inneren, moralischen Sträubens –, dass derjenige, der sich den Gesetzen nicht fügt und stiehlt, wenn er hungert, also noch Willen zum Leben äussert, mehr Energie zur Auflehnung in sich trägt, als derjenige, der sich stillschweigend auf die Schlachtbank des Kapitalismus legt.

Wir halten daran fest, dass das Grundproblem einer korrekten Psychologie nicht das ist, weshalb ein Hungernder stiehlt, sondern gerade umgekehrt das, weshalb er nicht stiehlt. Wir sagten, Stehlen sei noch kein Klassenbewusstsein; gewiss. Ein Ziegelstein ist noch kein Haus; aber aus Ziegelsteinen baut man Häuser […].

Alles, was sich heute Moral und Ethik nennt, steht ausnahmslos im Dienste der Unterdrückung der arbeitenden Menschheit. […] Alles, was der Revolution dient ist ethisch, alles was ihr schadet, ist unethisch.

Versuchen wir die Frage noch anders zu formulieren. Als Elemente des Klassenbewusstseins kann alles angesehen werden, was der bürgerlichen Ordnung widerspricht, was Keime der Auflehnung enthält; als Hemmung des Klassenbewusstseins dagegen alles, was an die bürgerliche Ordnung bindet, sie stützt und festigt.

Als während der Novemberrevolution die Massen im Tiergarten aufmarschierten, waren die Demonstranten eifrig bedacht, den Rasen nicht zu betreten. In dieser Anekdote, mag sie nun wahr oder nur gut erfunden sein, ist ein grosses Stück Tragik der revolutionären Bewegung kurz ausgedrückt: die Verbürgerlichung des Trägers der Revolution. […]

Dass diese Widersprüche nicht aufgelöst, die revolutionären Neigungen nicht entwickelt, die Hemmungen von den revolutionären Organisationen nicht beseitigt wurden, dass aber daraus nicht auf Fehlen des klassenmässigen Fühlens, sondern nur auf die psychologischen Mängel der revolutionären Arbeit zu schliessen ist, beweist die ungeheure Fluktuation im Mitgliederbestand der revolutionären Verbände.

Nur eine verschwindende Minderheit hielt durch, und auch die nicht länger als einige Jahre. Mir stehen keine Zahlen zur Verfügung, die Erfahrung lehrte jedoch, dass Jugendliche, Erwachsene, Männer und Frauen, Menschen jeder Schichte zu Millionen durch die revolutionären Organisationen im Verlaufe des letzten Jahrzehnts wanderten, ohne an der revolutionären Sache zu haften, sich an sie zu binden.

Was trieb sie in die revolutionäre Organisation? Keine Uniform, kein materieller Vorteil, nur dumpfe sozialistische Ueberzeugung, revolutionäres Fühlen. Warum blieben sie nicht? Weil die Organisation es nicht entwickelte. Warum zogen sie weiter in die Indifferenz oder zur politischen Reaktion? Weil sie auch gegenteilige, bürgerliche Struktur in sich hatten, die nicht zerstört wurde.4 Warum wurde diese nicht zerstört, jenes nicht gefördert, entwickelt? Weil man nicht wusste, was zu fördern, was zu zerstören ist. Mit einfacher »Disziplin« war dies nicht zu leisten. Mit Musik und Marschieren auch nicht, das konnten die anderen noch viel besser. Mit Parolen ebensowenig, wenn sie nicht konkretisiert waren, denn das politische Geschrei der anderen war besser, kräftiger.
Das einzige, was die revolutionäre Organisation den Massen konkurrenzlos bieten konnte und in Wirklichkeit nicht bot, das einzige, was die zuströmenden Massen hätte halten und andere hätte mitheranziehen können, wäre die Kenntnis dessen gewesen, was der ungebildete, unterdrückte, nach Freiheit und nach autoritärem Schutz gleichzeitig lechzende Kapitals-Kuli, ohne es selbst klar zu wissen, wünschte; es in Worte fassen, in seiner Sprache für ihn aussprechen, für ihn denken.
Doch derartigen Aufgaben war eine Organisation, die jede Psychologie als konterrevolutionär ablehnte, nicht gewachsen.

Wie sieht das Klassenbewusstsein bei den Frauen im groben aus?
[…] Wohl ist der Wunsch nach wirtschaftlicher Selbständigkeit, nach Unabhängigkeit vom Mann, nach sexueller Unabhängigkeit vor allem der wichtigste Bestandteil des Klassenbewusstseins der Frauen. Aber die Angst, durch die sowjetistische Ehegesetzgebung5 den Mann und Ernährer zu verlieren, kein rechtlich gesichertes Sexualobjekt zu haben, die Angst vor dem freien Leben überhaupt, […] sind zumindest ebenso starke negative, hemmende Elemente. Insbesondere die Sorge, dass durch die angesagte Kollektiverziehung der Kinder diese »genommen« würden, bildete auch bei Kommunistinnen, […] ganz besonders aber bei kleinbürgerlichen Frauen ein mächtiges Hindernis der politischen Klarheit. Man musste wissen, dass die Rebellion gegen die Ehe als ökonomische Bindung und sexuelle Einschränkung ein mächtiges Aktivum der revolutionären Bewegung hätte werden können, wenn man diese die Frauen zentral bewegenden Fragen breit, wahrheitsgemäss, sachlich auseinandergesetzt hätte. […]

Es ging ja nicht nur um die durch Betriebsarbeit gereiften, mehr eindeutig linksorientierten Industriearbeiterinnen, die ebensowenig erfasst waren, sondern um die überwiegende Mehrzahl der Hausfrauen, Heimarbeiterinnen, Ladenbesitzerinnen, Kaufhausangestellten etc. Unserer Erfahrung nach ist etwa die uneheliche Geschlechtsbeziehung oder die Neigung dazu ein Element, das gegen reaktionäre Einflüsse mächtige Wirkung entfalten kann. Da es aber immer mit Sehnsucht nach ehelicher Sicherheit gepaart ist, genügt die einfache Formel von der Aufhebung des Unterschiedes zwischen ehelich und unehelich durch das sowjetische Gesetz nicht, um das erste zu entfalten. Im Betrieb revolutionär, ist manche Frau zu Hause reaktionär. In erster Linie sind es moralische und kulturelle Ansichten, die den kritischen, auflehnenden wirtschaftlichen und sexuellen Interessen entgegenwirken. Im Frauenrechtlertum der verschiedenen bürgerlichen Organisationen liegen mächtige revolutionäre Impulse, zu ökonomischer Selbständigkeit immer bewusst, zu sexueller meist unbewusst, jedenfalls zu Veränderung des Bestehenden, zu Neuordnung, vor.

[…]. Es gibt kein Klassenbewusstsein? Es sitzt in allen Ritzen des Alltagslebens! Es sei unmöglich, es zu entwickeln, denn man wandere in den Kerker? Greift Fragen auf, die jedem Nazi am nächsten auf den Leib rücken, solche, die die Reaktion nie beantworten kann, und Ihr braucht über die Frage des Klassenbewusstseins nicht nachzudenken. Rolle der Avantgarde in der Illegalität? Hier liegt sie vergraben! In den konkreten Inhalten der proletarischen Demokratie, nicht im Wort oder in der Parole von der proletarischen Demokratie, unter denen sich 90 von 100 nichts vorstellen. Man könnte Beispiele aus allen Gebieten zu Tausenden sammeln, um zu zeigen, dass es keine einzige Frage gibt, die konkret und konsequent gestellt und zuendegedacht von den Nazis beantwortet werden könnte, sei es das der Religion, der Gewerkschaft, der Beziehung des Unternehmers zur Arbeiterschaft, der Aussichten des Mittelstandes usf. Es kommt nur darauf an, dass typische, jeden interessierende Fragen zunächst ohne Programm, aus dem lebendigen Leben der Menschen in der Reaktion aufgegriffen werden. Die revolutionäre Führung hat derzeit keine wichtigere Aufgabe, als die wehen Punkte des Nationalsozialismus aufzuspüren und die Diskussionen in den Massen so zu gestalten, dass sie nie abbrechen, sondern nur weiterführen, ohne dass Gefährdung wirklich eintritt. Die Revolution kann sich nur aus den Widersprüchen des heutigen Lebens entwickeln und nicht aus […] Aufforderungen zu Demonstrationen und Streik, die niemand durchführen kann. Auch nicht daraus, dass die Nazis als Verbrecher und Sadisten hingestellt werden, sondern nur aus der Gegenüberstellung ihres subjektiven Bestrebens und ihrer Unfähigkeit, die Probleme zu lösen. […]

Das Gesagte gilt auch für die skizzenhafte Zeichnung der konkreten Elemente des Klassenbewusstseins und seines Gegenteils bei erwachsenen werktätigen Männern. […]

Kleine Begebenheiten enthüllen oft mehr als grosse Ereignisse. Eine derartige unscheinbare Begebenheit soll zeigen, was ich meine, wenn ich von klassenmässigem Denken und seiner Hemmung spreche, wobei es den Tatsachen entspricht, dass die bürgerliche Sexualideologie meist das hemmende Element darstellt. In einem oesterreichischen Lokalzug sprechen einige Arbeiter und Bauern über Politik, Persönliches, Frauengeschichten durcheinander. Da meint ein junger Arbeiter, offenbar verheiratet, es sei doch so schlimm mit den Gesetzen. Die wären alle für die Reichen gemacht, die Armen hätten nichts davon. Ich horchte auf, um zu hören, was dieser klassenbewusste Arbeiter zu sagen hätte. Er fuhr fort: »So ein Gesetz ist zum Beispiel das Ehegesetz. Der Mann darf die Frau prügeln, heisst es da. Aber das darf nur der Reiche; wenn ein Armer seine Frau prügelt, wird er immer bestraft.« Das mag sachlich stimmen oder nicht. Für das, was so ein durchschnittlicher Arbeiter denkt, ist es höchst bezeichnend. Er stellt sich als Armer dem Reichen gegenüber und fühlt die Ungleichheit; hierin hat er Ansätze zu klassenmässiger Einstellung; aber er würde seine Frau doch so gerne entsprechend den Gesetzesmöglichkeiten prügeln; hier fühlt er sich benachteiligt, und zwar klassenmässig. Bürgerliche Sexualmoral steht gegen Klassenbewusstsein in ein und demselben Arbeiter. Das sexuelle Besitzrecht, das der Klassenstaat dem Manne einräumt, die Gewalt über die Frau und die Kinder, gehören zu den schwersten Hemmungen der Entwicklung des Klassenbewusstseins bei allen Familienangehörigen. Sie wirken sich aus, indem sie alle Beteiligten zermürben, den Mann an die bürgerliche Ordnung binden und […] buchstäblich an der politischen Arbeit behindern etc.

Dies ist keine ethische, sondern eine politische Frage und kann nur als solche behandelt werden, und zwar in der ersten Linie der revolutionären Propaganda und nicht im Hinterstübchen der Politik wie bisher; hier liegt vielleicht das wichtigste, politisch wirksamste Gebiet des Privatlebens beim Manne. Es hat die gleiche reaktionäre Bedeutung innerhalb des Proletariats wie etwa die […] Schrebergärtenbewegung als familienpolitische Aktion des Kleinbürgertums […], die Männerbünde und das Wirtshausleben […]. Karrierismus, Identifizierung mit dem Unternehmen, etwa Stolz auf die Entwicklung eines kapitalistischen Betriebs beim Arbeiter, Streben nach kontinuierlicher wirtschaftlicher Sicherheit wie im Beamtentum und als künftiger Pensionär wirken immer gegen die Entwicklung des Klassenbewusstseins, wenn die revolutionäre Partei nicht genauestens über alle diese Fragen positiv Auskunft gibt, wenn sie nicht allen Schichten konkret die Frage beantwortet: Was wird aus meinem Häuschen, Schrebergarten, aus meinen Wirtshausbesuchen, meinem Kegelklub, meiner Herrschaft über Frau und Kinder, aus meiner Pensionsberechtigung, aus dem Unternehmen, auf das ich so stolz bin, nach der Revolution? […]

Wie repräsentieren sich die Elemente des revolutionären Bewusstseins und seinen Hemmungen beim Kinde?

[…] Die Schwierigkeit liegt auch hier nicht so sehr an den Kindern als an den Erwachsenen […]. Man tritt in eine Bauernstube im Gebirge, die Eltern sind sozialistisch eingestellt, aber das Kind hört, wenn es einem Fremden begegnet, immerzu: »Sag’ schön küss die Hand,« oder: »Na, wie sagt man denn?« und das Kind krümmt sich vor Angst in sich zusammen, es wird »brav«. Der ideologische Kampf gegen das sogenannte Bravsein gehört zu den wichtigsten Aufgaben der proletarischen Front, deren Leistung nur sehr erschwert ist durch die bürgerliche Verbildung auch der proletarischen Erzieher. […]
Jeder proletarische Vater, es gibt nur wenige Ausnahmen, revanchiert sich für seinen Kulidienst im Betrieb an seinem Kind zu Hause. Hier wenigstens will er Herr sein, befehlen können und einen Gehorchenden besitzen. Wenn es nicht der Hund ist, so ist es das Kind. Dass das Schlagen der Kinder hierhergehört, ist klar. Es nützt aber nichts, dies nur zu wissen und es selbst nicht zu tun; was nottut, ist die Organisation breitester, internationaler Propaganda dagegen; das ist schon im Kapitalismus möglich und durchführbar. Jede Mutter, die auf der Strasse ihr Kind schlägt, müsste öffentlich zur Rede gestellt werden; bei organisierter Durchführung einer solchen Massnahme würde die Oeffentlichkeit sehr bald in den Kampf um das Kind als ein Glied der Gesellschaft, gegen seine Behandlung als eines Untertans der Familie, einbezogen werden. […]
Die sexualökonomische Forschung weist nach, dass die frühe und strenge Erziehung zur Reinlichkeit die allerschwersten charakterlichen Hemmungen der Aktivität vermittelt. An der kulturpolitischen Front im Kapitalismus arbeiten, Kinderpolitik betreiben, heisst konkret nichts anderes, als zum Beispiel die Frage der Schädlichkeit der frühen Reinlichkeitserziehung breit aufrollen, sachlich behandeln. Man kommt dann rascher als so manchem lieb sein dürfte, in die Politik, denn der Reaktionär, der für die Zucht und Disziplin eintritt, wird als Gegner nicht lange auf sich warten lassen. Aber gerade dies wollen wir ja; wir wollen doch Diskussionen herbeiführen, an denen die Bevölkerung selbst interessiert Anteil nimmt, weil es um schwierige Alltagsfragen geht. […]

Ein anderes konkretes Beispiel: Das Verbot der Onanie der Kleinkinder und ihre Bedrohung durch Eltern, Lehrer und Pfarrer ist seit langem lebhaftes Diskussionsobjekt der Oeffentlichkeit. […] Hier aber, gerade hier und nirgends so sehr wie hier liegt das Kernproblem der Erziehung zu Gehorsam oder frischer Regsamkeit des Kindes. Das sind Klassenfragen, nicht »individuelle« Angelegenheiten. Das weiss die Kirche ganz genau, denn sie handhabt die sog. verpönten Fragen; für sie ist die Onanie der Kinder Politik! […]
Niemand besser als diejenigen, die die Konflikte des Kindes kennen, vermögen zu beurteilen, wie heikel, erregend, aber auch brennend diese Fragen sind. Sie beschäftigen ausnahmslos jede Mutter aller Lager und jedes Kind. […]

Fetisch „Politik“

Der politische Laie versteht unter »Politik« zunächst diplomatische Unterredungen von Gross- oder Kleinmächtevertretern, bei denen über die Schicksale der Menschheit entschieden wird; davon, sagt er mit Recht, verstehe er nichts. Oder er sieht in der Politik parlamentarisches Paktieren mit Freunden und Feinden, aber auch gegenseitiges Beschwindeln, Bespitzeln, Uebervorteilen, Entscheidungen nach »geschäftsordnungsmässigen« Formeln treffen; er versteht auch davon nichts, sehr oft stösst es ihn ab, und er bezieht daher den erlösenden Standpunkt, »mit Politik nichts zu tun haben zu wollen«. Er sieht dabei den Widerspruch nicht, dass bei diesem von ihm mit Recht verachteten Handel über ihn entschieden wird, und dass er trotzdem diese folgenschweren Entscheidungen gutwillig Menschen überlässt, die er für Schwindler hält. […]

Die breite Masse […] spielt dauernd die Rolle von Statisten der »grossen Politik«. Man muss sich restlos klarmachen, dass das Affentheater der sogenannten »hohen Politik« ein plötzliches und für die Diplomaten sehr unangenehmes Ende nähme, wenn die Masse die Statistenrolle mit einer aktiven Stellung ablösen würde, kurz, wenn sie nicht mehr unpolitisch wäre. […]
Das Unpolitischsein der breiten Masse ist die eine Stärke der politischen Reaktion. […]

Schema der revolutionären Politik

Wenn die Behauptung der sozialen Revolution richtig ist, dass sie die sozialen Probleme der Wirtschaft und Kultur wirklich im Sinne der sozialen Demokratie lösen kann, dann haben nur folgende politische Fragestellungen und Grundsätze Platz.

1. Welche Manöver führen die verschiedenen Richtungen der Bourgeoisie auf, um Massen hinter sich zu bekommen oder einander abzujagen?

2. Was geht in diesen Massen vor, dass sie politischen Gruppen oder Parteien folgen, die nie ihre Versprechungen erfüllen können?

3. Was für Bedürfnisse hat die Masse in ihren verschiedenen Schattierungen?

4. Welche dieser Bedürfnisse sind gesellschaftlich möglich und berechtigt, welche sind lebensnotwendig?

5. Ist der Stand der Weltwirtschaft derart, dass die Bedürfnisse bei Ausschaltung der kapitalistischen Herrschaft und Einrichtung der Planwirtschaft an Stelle der Wirtschaftsanarchie befriedigt werden können?

6. Wissen die Massen, welche Einrichtungen der Gesellschaft ihrer Bedürfnisbefriedigung im Wege stehen, weshalb diese hinderlichen Einrichtungen existieren?

7. Wie sind sie zu beseitigen und wodurch zu ersetzen?

8. Welche wirtschaftlichen, sozialen, massenpsychologischen Voraussetzungen sind zur Erfüllung der Bedürfnisbefriedigung der breiten Massen notwendig?

Aus jeder dieser Fragen lässt sich die unausweichliche Notwendigkeit der sozialen Revolution ableiten, ausnahmslos aus jeder, auf ausnahmslos jedem Gebiete des menschlichen Lebens. Anders ausgedrückt: Die massenpsychologische Arbeit hat nicht im Schatten der Wirtschaftspolitik zu stehen, sondern die Wirtschaftspolitik hat in den Dienst der Massenpsychologie zu treten, die die Masse begreift, führt; die Bedürfnisse der Menschen sind nicht für die Wirtschaftspolitik, sondern die Wirtschaftspolitik ist für die Bedürfnisbefriedigung da. […]

Die Angst vor der Revolution

[…] Die bisherige kommunistische Propaganda hat mechanisch und absolut die Theorie der Gewalt der Theorie des Pazifismus entgegengestellt. Ein ganz grosser Teil der Sozialdemokraten kam deshalb nicht zum Kommunismus. Die Theorie der gewaltsamen Machtergreifung kann nicht aufgegeben werden, doch kann, wie sich zeigte, auch die breite Masse dafür nicht ohne weiteres gewonnen werden. Es war eine der grossen Stärken der nationalsozialistischen Bewegung, dass sie neben der Vortäuschung einer »deutschen Revolution« die Masse mit dem Versprechen der gewaltlosen Machtergreifung erfasste. Sie trug dadurch sowohl dem revolutionären wie dem pazifistischen Empfinden der Masse gleichzeitig Rechnung, natürlich völlig unbewusst.

Man braucht nun nur zwei Fragen zu stellen, um diesen Widerspruch zu lösen: Die erste Frage ist die, wie die Massen über die Gewalt denken. Die Erfahrung lehrt, dass sie pazifistisch sind, vor der Gewalt Angst haben; die zweite Frage ist, wie sich die Frage der dennoch notwendigen Gewaltanwendung zur Stellung der Massen dazu verhält.

Die Antwort auf beide Fragen lautet und kann nur lauten: Je grösser die Massenbasis der revolutionären Bewegung, desto geringere Gewaltanwendung ist notwendig, desto mehr schwindet auch die Angst der Masse vor der Revolution. Je grösser der Einfluss in Heer und im Staatsapparat, ebenso. […] Wie gross aber die revolutionäre Massenbasis ist, hängt davon ab, wie gut die revolutionäre Partei die Sprache aller werktätigen Schichten der Bevölkerung spricht, wie treffend sie ihren Wünschen und revolutionären Ideen Ausdruck schaffen konnte. Dazu gehört bewusste massenpsychologische Praxis. […]

Schlussfolgerung

Das Klassenbewusstsein der Masse ist nicht die Kenntnis der geschichtlichen oder wirtschaftlichen Gesetze, die das Dasein der Menschen regieren, sondern:

1. die Kenntnis der eigenen Lebensbedürfnisse auf allen Gebieten

2. die Kenntnis der Wege und Möglichkeiten ihrer Befriedigung;

3. die Kenntnis der Hindernisse, die die privatwirtschaftliche Gesellschaftsordnung ihr in den Weg legt;

4. die Kenntnis der eigenen Hemmungen und Aengste, sich über die Notwendigkeiten des eigenen Lebens und ihrer Hindernisse klar zu werden (»der Feind steht im eigenen Land« gilt auch besonders für die seelische Hemmung des einzelnen Unterdrückten selbst);

5. die Kenntnis der Unüberwindlichkeit der eigenen Kraft gegenüber der Macht der Unterdrücker im Falle ihrer massenmässigen Zusammenfassung. […] 

i Dafür spielte die Abgrenzung zum philosophischen Konkurrenten Max Stirner eine wichtige Rolle – siehe U. Pagel, G. Hubmann, Ch. Weckwerth: Manuskripte und Drucke zur Deutschen Ideologie (Karl Marx; Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA) (2017), U. Pagel: Der Einzige und die deutsche Ideologie (2020), W. Eßbach: Gegenzüge. Der Materialismus des Selbst und seine Ausgrenzung aus dem Marxismus (1982).

ii Zu den Autoren, die sich weit genauer mit diesem Thema befasst haben, gehört John Erpenbeck. Ihm verdanke ich neben anderen Informationen den Hinweis darauf, dass bereits Lenin der Grundfragen-Antwort von Marx nur eingeschränkte Gültigkeit zubilligte: „Freilich ist auch der Gegensatz zwischen Materie und Bewusstsein nur innerhalb sehr beschränkter Grenzen von Bedeutung […]. Außerhalb dieser Grenzen ist die Relativität dieser Entgegensetzung unbestreitbar“ (W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, Werke, Bd. 14, Berlin-Ost 1962, S. 124). Diese Kritik hat John Erpenbeck in Das Ganze denken (Berlin-Ost 1986) zur Grundlage genommen, um ausführlich „zur Dialektik menschlicher Bewusstseins-strukturen und -prozesse“ (so der Untertitel) Stellung zu nehmen und Lücken in der marxistischen Subjekt-Theorie zu schließen. Dabei hat er wesentliche Punkte meiner Argumentation vorweggenommen. Werner Abel wies mich u.a. darauf hin, dass sich auch Georg Lukács 1923 in Geschichte und Klassenbewusstsein und späteren Arbeiten kritisch mit der von Marx behaupteten strikten Trennung von Materie und Bewusstsein auseinandersetzte.

iii http://www.mlwerke.de/me/me13/me13_007.htm

iv Unter dieses Motto stellte z.B. Otto Finger ein Kapitel seines Buches Über historischen Materialismus und zeitgenössische Tendenzen seiner Verfälschung (Berlin-Ost, 1977).

v U.a. 1844 in Die heilige Familie: „HegeIs Geschichtsauffassung setzt einen abstrakten oder absoluten Geist voraus, der sich so entwickelt, dass die Menschheit nur eine Masse ist, die ihn unbewusster oder bewusster trägt.“ (http://www.mlwerke.de/me/me02/me02_082.htm) 1857, im unvollendeten Entwurf einer Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, schrieb Marx über eine „noch unbewusst heuchlerische Form.“ (http://www.mlwerke.de/me/me13/me13_615.htm)

vi Ohne jemals tiefer ausgelotet zu werden, schimmert diese Wechselwirkung an anderen Stellen durch, so zum Beispiel, wenn Marx 1845 in den Feuerbach-Thesen konstatiert: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss.“ (http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_005.htm)

vii Auf den Einfluss derer, die „oben“ sind auf jene, die „unten“ stehen, verwiesen Marx und Engels 1848 u.a. mit dem Satz: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“ (http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm) Wilhelm Reich arbeitete heraus, wie diese Einflussnahme geschieht und dass sie eine gegenseitige ist.

viii Im Kommunistischen Manifest hieß es 1848: „Die bürgerlichen Redensarten über Familie und Erziehung, über das traute Verhältnis von Eltern und Kindern werden um so ekelhafter, je mehr infolge der großen Industrie alle Familienbande für die Proletarier zerrissen und die Kinder in einfache Handelsartikel und Arbeitsinstrumente verwandelt werden.“ (http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm) Für Babys und Kleinkinder war diese „Verwendung“ aber schlicht nicht möglich, für Bürgerkinder traf sie nicht zu.

ix Desgleichen in Schule, Studium und in den im 19. Jahrhundert aufkommenden Kindergärten.

x Arbeiter werden zwar von Unternehmern auf vielfache Weise manipuliert, psychisch für die Arbeit „abgerichtet“, ohnehin von (klein)bürgerlicher Ideologie infiltriert. Aber sie sind nicht in gleicher Weise existenziell abhängig von Unternehmern wie Kinder von Eltern, ihre psychischen Strukturen sind – je älter sie sind, umso mehr – verfestigt, können deshalb nicht mehr so leicht wie bei Kindern geformt bzw. deformiert werden.

xi Nach heutigem Wissensstand muss der Beginn dieser Prägung bereits im Mutterleib angenommen werden, wo Wirkungen des gesellschaftlichen Seins ja erst recht nur sehr indirekt beim Ungeborenen ankommen. Siehe https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/paradiesische-neun-monate-fruehe-praegungen-zur-gewaltbereitschaft-aus-sicht-der-vorgeburtlichen-psychologie/

xii Auch die Macht dieses Triebes haben Marx und Engels nachweislich selbst erlebt. Doch dem Gedanken, dass Sexualität eine wesentliche Rolle spielt für Lebensziele und -zufriedenheit, sind sie nicht nachgegangen.

xiii Ein Problem, das dem alten Engels offenbar im Ansatz bewusst wurde. Im Brief an Franz Mehring vom 14. Juli 1893 benannte er einen Punkt, der „in den Sachen von Marx und mir regelmäßig nicht genug hervorgehoben ist […]. Nämlich wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei haben wir dann die formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kommen.“ (Marx/Engels: Werke, Bd. 39, Berlin-Ost 1968, S. 96). Der Frage nach diesem Wie ernsthaft nachzugehen, führt aber unweigerlich in Sphären vor und außerhalb von Ökonomie und in die Tiefenpsychologie.

xiv W. Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933, Gießen 2020, S. 195. Siehe auch: https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/hoerbuch-wilhelm-reich-massenpsychologie-des-faschismus-1933/

1 Reich, W.: Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933. Gießen 2020.

2 Mehr dazu: http://www.lsr-projekt.de/zpps/zpps.html.

Reich, W.: Was ist Klassenbewusstsein? Ein Beitrag zur Neuformierung der Arbeiterbewegung, Politisch-Psychologische Schriftenreihe Nr. 1, Kopenhagen/ Paris/ Zürich 1934. (Im Innentitel heißt es „Ein Beitrag zur Diskussion über die Neuformierung der Arbeiterbewegung“)

4 Ebd., S. 5.

5 Reich 1934 (wie Fn 4), S. 8f. In der Massenpsychologie (wie Fn 2, S. 69) hatte Reich gezeigt, dass der „nationalistische Führer […] massenpsychologisch die Verkörperung der Nation“ bedeute, zugleich „in den Massenindividuen die […] familiären Gefühlsbindungen“ erwecke, zur „Vatergestalt“ werde, somit jene „affektiven Einstellungen“ auf sich konzentriere, „die seinerzeit dem strengen, aber auch schützenden und repräsentativen Vater […] galten“.

6 Der Kommunistischen Internationale bescheinigte er in Was ist Klassenbewusstsein? (wie Fn 4, S. 6), sie sei gescheitert durch „Mangel an Selbstkritik, […] Unkorrigierbarkeit ihrer verhängnisvollen Fehler, vor allem durch ihre Unfähigkeit, […] die Bürokratie im eigenen Lager zu vernichten“.

7 Ebd., S. 3.

8 Ebd.

9 In der Massenpsychologie (wie Fn 2, S. 31f.) hatte Reich in Weiterführung eines bekannten Satzes von Karl Marx festgehalten, „dass jede Gesellschaftsordnung sich in den Massen ihrer Mitglieder diejenigen Strukturen erzeugt, die sie für ihre Hauptziele braucht […]. Es muss eine wichtige Korrelation bestehen zwischen der ökonomischen Struktur einer Gesellschaft und der massenpsychologischen Struktur ihrer Mitglieder; nicht nur in dem Sinne, dass die herrschenden Ideologien die Ideologien der herrschenden Klasse sind, sondern, was für die Lösung von praktischen Fragen der Politik bedeutsamer ist: Auch die Widersprüche der ökonomischen Struktur einer Gesellschaft müssen in den massenpsychologischen Strukturen der Unterdrückten repräsentiert sein.“ In seinem 1933 im Selbstverlag erschienenen Lehrbuch Charakteranalyse (S. 12) ergänzte er: „In der Klassengesellschaft ist es die jeweils herrschende Klasse, die mit Hilfe der Erziehung und der Familieninstitution ihre Position sichert, indem sie ihre Ideologien zu den herrschenden Ideologien aller Gesellschaftsmitglieder macht.“

10 Reich 1934, (wie Fn 4, S. 3).

11 Siehe dazu auch https://www.manova.news/artikel/die-psychologie-der-krise

12 Zumindest in ihrem Finanz- und Machtstreben. Vor einem atomar geführten Weltkrieg können auch sie nicht flüchten.

1 Der Text entstammt einem der preiswert erhältlichen Raubdrucke dieser Schrift. Ich habe die Rechtschreibung übernommen, inklusive der vielleicht der Nutzung dänischer Schreibmaschinen oder Drucklettern geschuldeten Verwendung von „ss“ statt „ß“ und ausgeschriebenen Umlauten zu Beginn eines Substantivs, zum Beispiel in „Aengste“. Zur besseren Lesbarkeit habe ich einige Absätze eingefügt – sowie Fußnoten. Der komplette Text ist auch hier nachzulesen: https://archive.org/details/Parell_1934_Was_ist_Klassenbewusstsein_k.

2 Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation.

3 Name und Motto einer nationalsozialistischen Massenorganisation.…

4 Wie diese Strukturen entstehen und beschaffen sind, beschrieb Reich in der Massenpsychologie u.a. so: Kinder, auch die proletarischen, durchliefen »den autoritären Miniaturstaat der Familie, […] um später dem allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen einordnungsfähig zu sein« (Reich 2020, wie Fn 2, S. 38).

5 Die Ehe- und Familiengesetzgebung in der Sowjetunion der 1920er Jahre zielte auf Gleichstellung der Geschlechter, Säkularisierung der Ehe, kollektive Erziehung, erleichterte die Scheidung, stellte eheliche und nichteheliche Kinder gleich und gestattete – erstmals in Europa – straffreihe Abtreibung. Unter Stalin wurde diese außergewöhnlich liberale Rechtsprechung schnell zurückgefahren.