Nummer 30 Neil Vallelly Verweigert euch!

Die Maximierung des Nutzens stand schon immer im Mittelpunkt des Kapitalismus. Im Neoliberalismus jedoch ist die Perspektivlosigkeit zur dominierenden Erfahrung geworden: Der herrschende Utilitarismus mutiert im 21. Jahrhunderts zum Futilitarismus.

Ein Aufruf, der fundamentalen Perspektivlosigkeit des neoliberalen Lebens die Kraft einer neuen Bewegung entgegenzusetzen. Es erhebe sich das Futilitariat!
Verweigert euch der Perspektivlosigkeit des neoliberalen Lebens

Seit Jahrhunderten theoretisieren Ökonomen und Philosophen über den Wert des Nutzens: wie er die Arbeitsteilung prägt, das (Kauf-)Verhalten der Verbraucher beeinflusst und zu Vorstellungen vom guten Leben oder Gemeinwohl beiträgt.
Utilitaristische Philosophen von Jeremy Bentham bis John Stuart Mill behaupteten, dass die Steigerung des Nutzens – die Nützlichkeit eines Objekts und seine Fähigkeit, Freude zu bereiten oder Schmerzen zu lindern – die magische Zutat zum Glück sei. Ökonomen, von der Klassik über die Neoklassik bis hin zum Neoliberalismus, haben Individuen und Verbraucher als rationale “Nutzenmaximierer” betrachtet, und Karl Marx erinnerte uns daran, dass “nichts ein Wert sein kann, ohne zuerst ein Objekt des Nutzens zu sein”.

Diese Denker mögen sich zwar darüber streiten, wie der Nutzen gesteigert werden kann und wer die Früchte dieses Prozesses erntet, aber nur wenige haben bestritten, dass die Maximierung des Nutzens an sich eine gute Sache ist. Denn wo wäre die menschliche Gesellschaft ohne Nutzen?

Aber der Nutzen ist nicht etwas, das von Natur aus existiert; er ist kein neutrales oder objektives Konzept. Nutzen ist immer eine Auswirkung sozialer Beziehungen, politisch konstruiert und intensiv mit den Machtstrukturen einer Gesellschaft verwoben.
Die Frage lautet also nicht so sehr “Was ist nützlich?”. Sie lautet vielmehr: “Wie wird etwas als nützlich definiert und wer darf es als solches beurteilen?”

Geld und Nutzen

Der Utilitarismus liefert ein gutes Beispiel für die Bedeutung dieser Frage. Für die Utilitaristen beruht die Moral einer Handlung auf ihrem Potenzial, den Nutzen zu maximieren, was oft so verstanden wird, dass die größte Freude und der geringste Schmerz für die größte Anzahl von Menschen erzeugt wird. Um den Nutzen zu maximieren, muss er jedoch zunächst in bestimmten Materialien und sozialen Praktiken identifiziert werden, und hier wird die Frage, wer den Nutzen beurteilen darf, entscheidend.

Wenn Kapitalisten die Macht in einer Gesellschaft innehaben, dann ist es leicht zu erkennen, wie sich der Utilitarismus mit Diskursen über Produktivität und Akkumulation überschneidet, weil Prozesse wie Wirtschaftswachstum, Handel und die Schaffung von Wohlstand politisch als die nützlichsten Vorgehensweisen für das individuelle und gesellschaftliche Glück gesetzt werden. Würde der Nutzen jedoch auf andere Weise definiert, etwa durch starke soziale Bindungen, allgemeine Wohlfahrt, nicht-hierarchische politische Formen und Umweltschutz, dann sähe die Maximierung des Nutzens ganz anders aus.

Aus diesem Grund kann der Nutzen nie ausschließlich als wirtschaftliches oder philosophisches Konzept verstanden werden. Vielmehr ist der Nutzen immer repräsentativ für ein bestimmtes Verständnis der politischen Ökonomie, der Beziehungen zwischen Produktions-, Arbeits- und Handelsformen, sowie der Mechanismen von Staat, Macht und letztlich des Kapitalismus. Am deutlichsten wird diese Tatsache im Werk von Jeremy Bentham, einem Philosophen und Sozialreformer des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts.
Bentham war der Begründer des modernen Utilitarismus und er konnte nur ein glaubwürdiges Maß für den Nutzen finden: Geld. In einem Aufsatz mit dem Titel “The Philosophy of Economic Science” (Werner Stark (Hrsg.), Jeremy Bentham’s Economic Writings, Vol. I, London 1952, S. 79–120) schrieb er: “Das Thermometer ist das Instrument zur Messung der Außentemperatur, das Barometer das Instrument zur Messung des Luftdrucks…. Geld ist das Instrument zur Messung der Menge von Schmerz und Vergnügen.”

Nach dieser Logik ist die moralischste Gesellschaft diejenige, in der der Einzelne die Anhäufung von Geld anstrebt, und zwar unter dem ethischen Diktat, dass dies nicht allein zu individuellem Glück, sondern auch zu größerem kollektiven Wohlstand führt. Die vermeintliche Symbiose zwischen der Steigerung des Nutzens und der Anhäufung von Reichtum ist ein vorherrschendes Mantra kapitalistischer Gesellschaften, in denen die politische Macht routinemäßig dafür sorgt, dass Nutzen als Geld definiert wird und in denen eine utilitaristische Ethik immer wieder als Rechtfertigung für die Ausbeutung und Ungleichheit bei der Anhäufung von Kapital angeführt wird.

Die utilitaristische Fantasie von einer Welt der Nutzenmaximierer, die aus Vernunftgründen die Anhäufung von Geld verfolgen und zu einem sicheren und gesunden Gemeinwohl beitragen, hat sich vorhersehbar nicht erfüllt. Stattdessen hat sich, insbesondere mit der neoliberalen Mutation des Kapitalismus, eine Gesellschaft atomisierter Individuen herausgebildet, die Nutzenmaximierung als ein wettbewerbsorientiertes Unterfangen betrachten, und zwar eines, mit dem jegliche Verantwortung für das Gemeinwohl kleingerechnet wird. Die Praxis der Nutzenmaximierung ist weit davon entfernt, eine Gesellschaft von Gleichberechtigten zu fördern. Sie hält uns letztlich in einer destruktiven Beziehung zum Kapital gefangen.

Die futilitaristische Bedingung

Der Utilitarismus ist nun umgesprungen in einen „Futilitarismus”, unter dessen Einfluß die Nutzenmaximierung zu einer Verschlechterung der kollektiven sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen führt.
Wir verschulden uns, um (berufliche, Anm. d. Hrsg.) Qualifikationen zu erwerben, nur um dann festzustellen, dass die Beschäftigung immer spärlicher, prekärer und unsicherer wird; wir spülen unsere Marmeladengläser aus Plastik aus, um sie zu recyceln, während Fossilenergie-Unternehmen unsere Meere zerstören und Konzerne die Regenwälder in einem noch nie dagewesenen Ausmaß plündern; und als ein tödlicher Virus die Welt zum Stillstand bringt, stellen wir fest, dass die globalen Bemühungen um Nutzenmaximierung die Mehrheit der Weltbevölkerung beileibe nicht mit einer größeren sozialen oder finanziellen Sicherheit belohnt haben.

Tatsächlich maximieren viele von uns ihren Nutzen zu Zwecken, die für das größere Wohl der Gesellschaft nutzlos sind, oft nur, um ein gewisses Maß an individuellem Überleben zu sichern. Ich nenne diese Falle die “futilitaristische Bedingung“.

Die futilitaristische Bedingung entstand genau an dem Punkt, an dem die Nützlichkeit im Kapitalismus für unantastbar erklärt wurde, denn erst in diesem Moment wurde auch Futilitarismus möglich. Unter den Bedingungen des Kapitalismus kann das Prinzip des größten Glücks nicht verwirklicht werden, oder zumindest nur in einer pervertierten Version. Die Arbeiterklasse hat schon immer die Last der Arbeit an der Nutzenmaximierung getragen – der Produktion der Dinge, die nützlich sind, und schlussendlich des Geldes, das mit dem Nutzen verbunden ist.

Aber gerade wegen der ausbeuterischen sozialen Beziehungen des Kapitalismus ist es nur die Klasse der Kapitalisten, die das mit dem Nutzen verbundene Vergnügen wirklich erfährt. Der Aufstieg einer großen Mittelschicht Mitte des 20. Jahrhunderts, unterstützt durch eine sozialdemokratische Wende, schuf die Illusion, dass das Prinzip des größten Glücks im Kapitalismus verwirklicht werden könnte, dass die große Mehrheit der Menschen frei und gut leben könnte, wenn auch nur im globalen Norden.

Doch der Neoliberalismus hat dieser Illusion ein Ende gesetzt. Durch den Abbau des Sozialstaates und die Aufwertung des Wettbewerbs zwischen den Individuen trennt der Neoliberalismus die Nutzenmaximierung vom sozialen Wohlergehen. Auf diese Weise macht er den Futilitarismus zur neuen Moralphilosophie des Kapitalismus, indem er von den Individuen eine Nutzenmaximierung fordert, während er gleichzeitig und wiederholt die sozialen Strukturen und Institutionen zerstört, die ein kollektives Wohlbefinden sichern könnten. Perspektivlosigkeit gedeiht prächtig unter diesen Bedingungen.

Tatsächlich ist die fundamentale Perspektivlosigkeit in der Kapitalismusforschung nur selten in umfassender Weise untersucht worden. Vielleicht liegt es daran, dass die Perspektivlosigkeit ein Nebeneffekt der kapitalistischen Produktion und ihrer sozialen Beziehungen ist; etwas, das der Funktionalität des Kapitalismus nicht innewohnt.

Ich behaupte im Gegenteil, dass das Konzept der Perspektivlosigkeit in der kritischen Untersuchung des Kapitalismus mehr Aufmerksamkeit verdient, insbesondere weil Perspektivlosigkeit für die Entwicklung, Umsetzung und Langlebigkeit des neoliberalen Kapitalismus im frühen 21. Jahrhundert einen zentralen Aspekt darstellt.

Am Beispiel der aktuellen Lehrbetriebs an Universitäten lässt sich das Konzept der futilitaristischen Bedingung erklären. Die Universität ist heute von einem riesigen Heer von Gelegenheits- und Hilfslehrkräften abhängig, zumeist Doktoranden oder Postdoc-Minijobber, ohne deren Einsatz die Universität zusammenbrechen würde. Dennoch werden diese Mitarbeiter von den Universitätshierarchien routinemäßig mit Geringschätzung behandelt und durch Kurzzeitverträge ausgebeutet, die selten die gesamte Arbeitszeit abdecken.

Um jedoch eine akademische Vollzeitstelle zu erhalten – die in einigen Disziplinen, insbesondere in den Geisteswissenschaften, immer seltener werden –, müssen diese Mitarbeiter nicht nur so viel Lehrerfahrung wie möglich sammeln, sondern auch unermüdlich ihre Forschungsergebnisse veröffentlichen, was natürlich in ihrer Freizeit geschieht – und oft ohne Zugang zu den Universitätsbibliotheken. Mit anderen Worten, sie sind gezwungen, ihren Nutzen so weit wie möglich zu maximieren, in der schwachen Hoffnung, dass dies in der Zukunft zu einem sicheren Arbeitsplatz führen könnte. Für einige wenige wird dieser Vollzeitjob Realität. Doch die große Mehrheit bleibt bei dem Versuch, sich nützlich zu machen, in einem Kreislauf von Kurzzeitverträgen gefangen, die nur wenig Geld einbringen und letztlich zu nichts führen.

Die Universitäten wissen, dass dieses intellektuelle Prekariat wenig andere Chancen hat, als seinen Nutzen zu maximieren, so dass sie ihre Handlungen ausnutzen kann, indem sie immer weniger für die Arbeit des Lehrens bezahlt, während sie gleichzeitig nur mit ihnen den Zustrom der Studenten und die Einnahme von Gebühren aufrechterhalten kann. Es liegt also auf der Hand, dass die Praxis der Nutzenmaximierung dieses intellektuellen Prekariats in einigen wenigen Fällen zu individuellem Wohlstand in Form einer Festanstellung führt, dass sie aber auch die Bedingungen festschreibt, die den Wohlstand der großen Mehrheit des Prekariats unmöglich machen.

Neoliberalismus braucht Perspektivlosigkeit

Die Universität ist nicht das einzige Beispiel für die Logik der futilitaristischen Bedingung. Tatsächlich scheint der neoliberale Kapitalismus besser zu funktionieren, wenn viele unserer Handlungen vergeblich sind, nicht nur, weil wir unfähig sind, seine Hegemonie in Frage zu stellen, sondern auch, weil wir in unserer Verzweiflung, den Nutzen zu maximieren, um unsere individuellen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen zu verbessern, gleichzeitig die Logik der Selbstgenügsamkeit, der persönlichen Verantwortung und des Wettbewerbs verinnerlichen, die jede soziale Solidarität zunichte macht.

Der Nutzwert hat längst nichts mehr mit unseren bewussten Versuchen der Nutzenmaximierung zu tun. Für viele Unternehmen sind wir in unserer Freizeit am nützlichsten, wenn wir online einkaufen, in den sozialen Medien posten, durch die Nachrichten auf unseren Handys scrollen, Fitbits tragen oder einfach Alexa einschalten, während wir im Haus herumlaufen. Wenn wir dies tun, generieren wir Informationen für eine riesige technologische Infrastruktur, die durch die Weitergabe dieser Informationen an andere Unternehmen und Werbetreibende Kapital generiert.

Ganz zu schweigen von der existenziellen Perspektivlosigkeit des neoliberalen Lebens, in dem wir mit so großen sozialen, politischen und ökologischen Ungleichheiten und Katastrophen konfrontiert sind, dass es unmöglich ist, nicht zu fühlen, dass es am Ende vergeblich sein wird, sich diesen Problemen zu stellen.

Die Komplexität dieser Probleme und ihr amorpher, dezentraler Charakter führen dazu, dass die meisten von uns beispielsweise nicht verstehen, wie das Finanzsystem oder die Mikrobiologie von Viren funktioniert, noch wie Daten gesammelt, gespeichert und verwendet werden. Daher wissen wir auch nicht, wer oder was genau für Finanzkrisen, Datenschutzverletzungen oder Pandemien verantwortlich ist.
Es ist viel einfacher, Einwanderer, Eliten oder sogar die Postmoderne dafür verantwortlich zu machen.

Der neoliberale Kapitalismus nährt sich von unserer Perspektivlosigkeit und gleichzeitig zwingt er uns als normatives Führungsprinzip dazu, uns so zu verhalten, als ob unsere individuellen Handlungen zur Nutzenmaximierung unser Wohlergehen sichern oder substanzielle soziale Veränderungen bewirken würden – dies im Foucault’schen Sinne der „Führung der Führungen” (im Orig.: conduct of conduct, Michel Foucault, “The Subject and the Power,” in Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics, eds. Herbert Dreyfus and Paul Rainbow, Chicago, IL: The University of Chicago Press, 1982, 220–21; Foucault spricht im selben Abschnitt etwas genauer von der„ Weise, in der die Führung von Individuen oder Gruppen gelenkt“ wird; sowie von „Handlungsweisen, die dazu bestimmt waren, auf die Handlungsmöglichkeiten anderer Individuen einzuwirken“ Anm. d. Hrsg.). Indem der Neoliberalismus das Soziale immer als etwas das Individuum Betreffendes verstehen will, reduziert er Fragen der sozialen Gerechtigkeit und des Wandels auf Marktorientierung und Kaufentscheidungen. Die neoliberale Vernunft manifestiert sich in einer Reihe sinnloser sozialer und politischer Bestrebungen, von der Selbstvermarktung bis zum ethischen Konsum, die sich gern als radikale Alternativen verstanden wissen wollen, in der Praxis aber lediglich den Status Quo befestigen.

Futilitarismus ist kein Nihilismus

Entscheidend ist jedoch, dass Futilitarismus nicht mit Nihilismus gleichzusetzen ist. Sicherlich ist der Nihilismus ein herausragendes Merkmal des Neoliberalismus. Mark Fisher ging sogar so weit, ihn als “Nihiliberalismus” zu bezeichnen. Auch Wendy Brown argumentiert, dass “der Nihilismus den Neoliberalismus überschneidet” und ein seltsames Zusammentreffen von “ethischer Verzweiflung” und “religiöser Rechtschaffenheit oder konservativer Melancholie für eine phantasmatische Vergangenheit” schafft.
Das Zusammenfließen von Nihilismus und Neoliberalismus, in den letzten vier Jahrzehnten gleichermaßen von den Regierungen der Rechten wie der Linken unterstützt, hat eine reaktionäre Politik hervorgebracht, die sich darin gefällt, dass sie sich nicht um das Wohlergehen der Ärmsten kümmert – ein Beispiel dafür ist Melania Trumps “I really don’t care do U”-Jacke (“Mir scheißegal – kümmert´s Dich?”, Anm. d. Hrsg.), die sie auf dem Weg zu einem Treffen mit inhaftierten Einwandererkindern an der Grenze zwischen den USA und Mexiko trug –, zugleich aber ausruft, dass die Welt wegen des Verlusts traditioneller konservativer Werte den Bach runtergeht.

Während der Nihilismus im Neoliberalismus zweifellos vorhanden ist, schafft das Konzept des Futilitarismus Raum für eine weitere Dimension der Sinnlosigkeit des neoliberalen Lebens. In dieser Dimension ist die Sinnlosigkeit weder etwas, das passiv eingeführt noch aktiv angenommen wird, sondern etwas, das im Leben der Menschen ohne ihre Zustimmung oder sogar ohne ihr Wissen auftaucht, sei es in Bezug auf ihren Arbeitsplatz, ihre Ausbildung, ihre Lebensverhältnisse, ihre wirtschaftliche Situation oder ihren rechtlichen Status. Während der Nihilismus die Übernahme einer bestimmten Weltanschauung beinhaltet, ist der Futilitarismus viel heimtückischer und verinnerlichter.
Schließlich glauben viele von uns, dass sie einen sinnvollen Beitrag zur Gesellschaft leisten – Sie können jeden PR-Berater fragen.

Futilitarismus ist stattdessen eine Form der Verführung zum Streben nach Sinnhaftigkeit, bei der wir gezwungen sind, eine Reihe täglicher Verhaltensweisen zu wiederholen, die uns immer tiefer in die reine Logik des Wettbewerbs und des Individualismus verstricken, die jegliche Entwicklung gemeinsamer Bindungen und des kollektiven Wohlergehens negiert.

Indem die Theorie des Futilitarismus die Perspektivlosigkeit statt des Nihilismus ins Zentrum stellt, schreibt sie nicht allein die Erfahrung der Sinnlosigkeit fort, die mit dem Neoliberalismus einhergeht, sondern auch deren Einschreibung in die zeitgenössischen sozialen und politischen Praktiken. Der Futilitarismus rückt die Perspektivlosigkeit des alltäglichen Lebens in der neoliberalen Periode in den Vordergrund, in der Hoffnung, dabei Ideen zu entwickeln, wie der Sinnlosigkeit begegnet werden kann, ohne in Nihilismus zu enden. Nihilismus ist ein Selbstzweck; ein gesteigertes Bewusstsein und Verständnis der Perspektivlosigkeit kann jedoch der Ausgangspunkt für etwas Sinnvolles sein.

Es ist allerdings sicherlich vielen Menschen egal, ob der Utilitarismus in Futilitarismus umgeschlagen ist oder ob ihre Handlungen der Nutzenmaximierung vom Neoliberalismus ausgenutzt werden, um Bindungen und gegenseitige Interessen zu zerstören.

Tatsächlich leben viele Menschen im Globalen Norden relativ sicher und zufrieden, vor allem, wenn sie weiß, mittleren Alters oder älter sind und die Staatsbürgerschaft, ein Haus – oder mehrere –, ein regelmäßiges Einkommen oder eine Rente und Zugang zu einer angemessenen – zunehmend privaten – Gesundheitsversorgung haben. Es mag ihnen egal sein, dass sich das Einkommensgefälle zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden seit den 1960er Jahren fast vervierfacht hat oder dass die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten seit den 1980er Jahren stark zugenommen haben, weil es allen in ihrer Straße gut zu gehen scheint.

Und selbst diejenigen, denen es nicht gut geht, sind selten direkt wütend auf den Kapitalismus, sondern eher auf städtische Eliten, Einwanderer oder Sozialhilfebetrüger.

Gegen den Futilitarismus antreten

Was wir erleben, ist eine tiefe Kluft zwischen den Generationen, zwischen den Alten und den Jungen, den Babyboomern und den Millennials. Die Neinsager, Andersdenkenden und Antikapitalisten auf der ganzen Welt kommen zunehmend aus den jüngeren Generationen, die in den Neoliberalismus hineingeboren wurden und nichts anderes kennen.
Millennials https://de.wikipedia.org/wiki/Generation_Y sind als eine narzisstische, faule, technologieabhängige, avocadofreudige Generation verschrien, eine Generation, die nicht erkennt, was Arbeit ist, selbst wenn man sie ihr vor die Nase hängt.

Was bei dieser Kritik geflissentlich übersehen wird, ist die Tatsache, dass diese Generation in eine Welt hineingeworfen wurde, in der Bildung unerschwinglich ist, Schulden unvermeidlich sind, Arbeit knapp und prekär, die Löhne niedrig und Sozialleistungen abgebaut, während der Planet in Flammen steht und Zukunft scheinbar nicht existiert.

Für viele von ihnen ist die gelebte Erfahrung des Neoliberalismus – oder welchen Begriff dafür sie auch immer verwenden – düster. Von den USA und dem Vereinigten Königreich bis nach Hongkong und Chile sind wir Zeugen von großen Ansammlungen eines antikapitalistischen Widerstands, angeführt von diesen sogenannten “faulen Millennials”. Es sind die verzweifelten Rufe einer Generation, die die Perspektivlosigkeit des neoliberalen Lebens ablehnt.

Die als Nützlichkeit getarnte Perspektivlosigkeit ist die Essenz der neoliberalen Umgestaltung des Alltagslebens.

Auf Schritt und Tritt werden wir als Individuen dazu angehalten, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen, klug in uns selbst zu investieren und aus jeder Gelegenheit den letzten Tropfen Nutzen herauszuwringen. Gleichzeitig werden die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen, die eine solche individuelle Nutzenmaximierung ermöglichen könnten, immer weiter abgebaut und abgewertet.

So ist die futilitaristische Bedingung zur vorherrschenden Lebensbedingung der Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts geworden, in dem das individuelle Streben nach Nutzenmaximierung dafür missbraucht wird, uns alle davon zu überzeugen, dass wir auf eine starke soziale Infrastruktur oder bessere wirtschaftliche Absicherungen verzichten können.

Ich behaupte, dass die Einsicht in die uns alle in Atem haltende Perspektivlosigkeit ein neues kollektives politisches Subjekt hervorbringt – das Futilitariat – das die Stärke besitzt, den zerstörerischen Kräften des Neoliberalismus die Früchte des Nutzens abzuringen.

Übersetzt von Janneke Schönenbach und Olaf Arndt, © Februar 2022