Die Beispiele dieser Art ließen sich seitenweise fortsetzen. Etwas anderes, so wird zunehmend sichtbar mit jedem neuen RKI-Leak etc., musste also hinter den Seuchen-Eindämmungs-Massnahmen gestanden haben, bzw. stehen, ein machtvoller Antrieb zur Umstrukturierung unserer gesellschaftlichen Grundfesten.
Wir saßen gerade mit AKTION-Autorin Jutta Weber an einem Interview zum Thema Künstliche Intelligenz und Krieg (das in Kürze hier erscheint), als in der Berliner Zeitung ein Beitrag der Schweizer Philosophin, Historikerin und feministischen Aktivistin Tove Soiland erschien, den wir für so wichtig halten, dass wir ihn mit Zustimmung der Autorin heute in der AKTION als Nr. 55 veröffentlichen und zur Diskussion stellen.
Soiland beschreibt den rasanten Aufstieg eines globalen Biosecurity-Dispositivs, in dem „spezifisch geframte Sicherheitslogiken und Profitinteressen konvergieren“ (Weber). Covid war also vielleicht Zufall, vielleicht Unfall, sicher aber wurde die Pandemie instrumentalisiert zum Auf- und Ausbau einer konzertierten Strategie zur Einführung einer „neuen Regierungsweise“ (Soiland), die uns Menschen als beliebig modifizier- und optimierbare Zellhaufen, denn als soziale Lebewesen betrachtet.
Soiland macht deutlich, dass die Entscheidung über die verschiedenen Ursprungstheorien, ob nun SARS-COV2 durch ein Loch im Sicherheitssystems, durch ein „LabLeak“ unwillentlich aus einem BioTech-Entwicklung-Labor entschlüpft ist oder sich über einen Wildtiermarkt ausgebreitet hat, letztlich nachrangig ist angesichts der Tatsache, dass die pandemische Ausbreitung einer neuen Virusvariante auf einen mehr als aufnahmewilligen Markt getroffen ist, der ganz offenbar gut präpariert dastand durch jahrelange Vorbereitung. So konnten die sog. Maßnahmen sofort Struktur-bildend wirken – auch auf Feldern jenseits des Gesundheitsschutzes.
Insofern schreibt Soiland den im Konspirationistischen Manifest formulierten Ansatz oder vielmehr das Verständnis der Pandemie als Motor einer neuen Stufe von „social engineering“ fort.
Ich hatte mich bereits Anfang 2020 dafür interessiert, wie das Auslaufen diverser Patente für klassische Medizinprodukte (womit sich die Verdienst-Margen der patenthaltenden Konzernen drastisch verringerten) zu einer (übrigens bereits 2010 einsetzenden) intensiven Lobbyarbeit in Richtung genetische Medizin geführt hat.
So war es sicher kein „Zufall“, dass im Januar 2020 weithin in den Medien berichtet wurde über die ersten Erfolge bei der Behandlung von HIV mit dieser neuen Technik.
Ich habe damals ein zweistündiges Interview mit dem Genetik- und Virus-Modifikations-Experten Boris Fehse (UKE) über Gentherapie und ihre wirtschaftliche Bedeutung geführt.
Lobby-Arbeiter und Werbeabteilungen der Konzerne arbeiteten mit Hochdruck daran, sogenannte „Gen-Taxis“, mit denen der Wirkstoff zur Bekämpfung einer Krankheit direkt in den Zellkern transportiert wurde, als wünschenswert und höchst erfreulich darstellen.
So war es erklärlich, dass Stefan Tasler, drei Jahre lang Leiter einer Tochterfirma von BioNTech, in einem langen und hochspannenden Interview im Dezember 2021 sinngemäß sagte, „mRNA haben wir nicht als massentauglich einsetzbare Technologie, nicht als generellen neuen Impfstoff-Herstellungs-Ansatz entwickelt, sondern für Patienten, für die die Alternative der Tod war. Deswegen haben wir uns für Nebenwirkungen auch nicht interessiert.“
Soweit einige kurze Anmerkungen zu medizinisch-ökonomischen Aspekten einer grundlegenden Novellierung pharmazeutischer Produkte zeitgleich mit dem Pandemie-Geschehen.
Diese Zusammenhänge bedenkend versteht man besser, dass Soiland heute schlussrichtig den nächsten Schritt geht und das „das Auftreten des neuen Corona-Virus in den Kontext eines globalen Biosecurity-Dispositivs“ stellt und die staatlichen Antworten auf die Pandemie als militärischer Natur begreift.
Soilands Ansatz ist dabei von ihrem Interesse für Psychoanalyse (Luce Irigaray und Jacques Lacan) ebenso mitbestimmt, wie durch feministische Theorie. Sie ist Mitbegründerin von Linksbündig , die sich einer Analyse der Corona-Krise aus einer dezidiert linken Perspektive widmen, sowie Mitglied des KollektivsFeministischer Lookdown.
Seit einigen Monaten schreibe ich an meinem dritten Roman. Arbeitstitel „Entladung“.
Der Stoff: ein bestialisches Femizid, verübt in einem Dorf im abgehängtesten Teil Brandenburgs. Ich habe lange recherchiert und noch länger nach der passenden Form gesucht: einer Art zu erzählen, die den Text lesbar hält, aber das Unerträgliche der Tat und der gesellschaftlichen Umstände, unter denen sie zustande kommt, durch jede Zeile schimmern lässt. Immerhin hat mich die Sache so beklommen gestimmt, dass ich sie in eine nahe Zukunft verlegen, ihr einen Hauch von „vielleicht doch nicht“ lassen musste, um nicht davon überwältigt zu werden.
Unter den zahllosen Versuchen und Textfetzchen, die einer ersten Fassung von mittlerweile 240 Seiten Umfang vorausgingen, findet sich ein Fragment, das mich heute morgen „angefallen“ hat, als ich die Wahlergebnisse las.
Es ist durchaus nicht so, dass ich anfangs geplant habe, eine Fortsetzung von „Unterdeutschland“ zu schreiben. Aber ungefragt drängen sich Figuren wie Enrico Kodde (Abt. 1, S. 46) in meine Arbeit und erobern den Zeitgeist, unter dem die beklemmende Metzelei unter Eheleuten stattfand, über die ich – mehr als Symptom, denn als Tatsachenbericht – erzählen will.
“ 9. Januar 2026. Montagmorgen, 7.10 Uhr. Frühappell im Kanzleramt. Zum Erstaunen der versammelten Presse verhängt Enrico Kodde eine zeitlich unbegrenzte Ausgangssperre. Der Vorgang hat sich durch nichts angekündigt. Alle Medien sind rechtzeitig zuvor durch ein empfindlich strafbewehrtes Verbot eigenmächtiger Berichterstattung erfolgreich gleichgeschaltet worden.
Der kahlköpfige Kodde, Vorsitzender der Bewegung des geistigen Aufbruchs Vision Germania – die wahre Alternative ist der erste Bundeskanzler, der sich der Öffentlichkeit stets mit einer verspiegelten Rundumsonnenbrille präsentiert. Er ist auch der erste Bundeskanzler, dem 51,8% der Bürger ihr Vertrauen schenken. Ganz am Rande der Republik soll es Gemeinden geben, in denen die VG sogar 99,3 % erreicht hat, wie einst die SED in seligen Zeiten vor der Wende. Für diese Zonen erübrigt sich jede Analyse zu Wählerwanderungen. Die tragende Mehrheit im Arbeiter- und Bauernstaat sind exakt die gleichen Leute, die heute die neue Nationalhymne singen: „Deutschland muss sterben, damit wir leben können“. Natürlich in der Version von Heino. Erklärt sich so die Brille des Kanzlers? Mit Deutschland ist die die BRD AG gemeint. Sie havarierte im Oktober 2025. Nach einer Übertragung der Staatsschulden auf die Bad State S.a.r.L (BaSta) in Luxemburg hat sie vorzeitig den Verwaltungsdienst eingestellt.
Die Rückeroberung der sittlich verkommenen Großstädte hat begonnen. Antipluralistische Kampfgruppen, der starke Arm der Aufbruchsbewegung, rekrutiert alle verfügbaren feinen Kerle aus den kerngesunden Marschen Brandenburgs. Sie marschieren in der Vorweihnachtszeit sternförmig in die Metropolen ein und demolieren unter Gejohle der VG-Wähler die Versammlungsstätten der kümmerlichen Reste der libertären Kultur. Die ApluKas markieren die Trümmer der Läden mit ihrer Hausparole „divers=pervers“ und schliessen das Zerstörungswerk stets mit einem kollektiven „Schiff heil!“ ab: in Reihe urinierende Glatzen, deren strammer Strahl in Salutwinkel zackig aus den Hosen schiesst. Das Mediengesindel klebt den marodierenden Meuten an den Fersen auf der Suche nach dem immergleichen Titelseitenmotiv. Im Blitzlicht der Reporter glitzert die Seiche golden.
Die ApluKas schützen dann zur allgemeinen Beruhigung die freie Wahl am 23. Dezember 2025. Sie kontrollieren vor Einwurf die Wahlscheine: korrekt ausgefüllt – in die Urne. Fehlerhaft angekreuzt = ungültig. Geschichte wird gemacht. Ansonsten herrscht eisige Ruhe. Der Alltag jenseits des Bereinigungsgeschehens verläuft unauffällig, so als befänden wir uns mitten in der Ära Kohl. Die Saat geht auf. Wirecard und Erdwärmeheizung tragen Früchte. Die Leute nehmen ihr Geld vom Konto und reinvestieren es in sündhaft teure E-Mobilität. Kurzatmige Fettbrocken jagen auf Unterstützungsstufe 3 durch die Städte und lehren die Fußgänger das Fürchten.“
Heute erscheint als Nr. 54 der AKTION eine Übersetzung eines Interviews mit dem Collectif Ruptures, das in der La nouvelle vague Nr. 17 im September 2024 erschienen ist. Das Gespräch ist eine mehrfache, immer dichtere Umrundung der Erkenntnis, „dass Regierende nicht einfach nur Versager und Inkompetente sind, die tun, was sie können, sondern dass eine Bevölkerung zu regieren im Wesentlichen bedeutet, Krieg gegen sie zu führen, dass wir uns also in den Händen von Menschen befinden, die uns nichts Gutes wollen, und dies bedeutet, dass uns plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen wird und der Großteil unserer Gewissheiten wegbricht.“
Auf der einen Seite: zwei Staatsoberhäupter mit diversen juristischen Affären von insgesamt Milliarden-Ausmaß, eine bestehendes Recht brechende Präsidentin der EU-Kommission, der reichste Mann der Welt und ihre Geschäfte. Auf der anderen Seite: Zwei Satiriker und ein sich auf zornige Satire verlegender Autor. Die Namen sind aus der täglichen Berichterstattung bekannt. Uns interessiert hier die Struktur.
Wie wird der Zerfall ins Werk gesetzt? Natürlich durch Bestrafung der Kritik an der Unsittlichkeit.
Einem der Satiriker wird durch Kündigung ein Teil seiner Lebensgrundlage entzogen, weil seinem Arbeitgeber ein antifaschistischer Witz nicht gefällt. Ein anderer Satiriker erklärt uns, dass die wiedergewählte Präsidentin nicht den Konzernen Geheimhaltung schuldet, sondern der Öffentlichkeit Transparenz. Offenbar können grundlegende Dinge nicht oft genug wiederholt werden, wenn und weil sie missachtet werden. Eine Wiederwahl der rechtsbrechenden Präsidentin hat dies nicht verhindert. Europa will von einer Impfdealerin geführt werden, deren Ehemann noch dazu medizinischer Direktor eines US-amerikanischen biopharmazeutischen Unternehmens ist, das sich auf Zell- und Gentherapie spezialisiert hat.
Waren nicht auch modifizierte Gene im Spiel bei dem jetzt inkriminierten SMS-Deal seiner Gattin über gigantische mRNA-Impfstoff-Kontingente? Wirklich erstaunlich, so ein Zufall.
Zum gerichtlich festgestellten Rechtsbruch ist zu ergänzen, dass Appellation, also ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung möglich ist. Dies insbesondere für reiche Leute wie die Präsidentin. Wir erinnern, dass der Investor und Philanthrop György Schwartz, besser bekannt als George Soros, wegen seines die Volkswirtschaft Frankreichs nicht unerheblich ruinierenden Insider-Deals verurteilt, sich auf sein Menschenrecht und dessen Schädigung durch das Urteil berief.
Ein Sprecher eben jener EU-Kommission, der die Rechtsbrecherin präsidiert, erklärte, allein dadurch, dass eine Firma, die den Ehemann eines hochrangigen Kommissionsmitglieds beschäftigt, EU- und nationale Fördergelder erhält, entstehe „grundsätzlich kein Interessenkonflikt“.
Gleichzeitig verbietet das Innenministerium den Weiterbetrieb einer GmbH, weil ihm die Inhalte der Arbeit der GmbH nicht gefallen: sie sei rechtsextrem.
Der Autor, der sich auf zornige Satire verlegt hat, zaubert in einer Collage dem Gesundheitsminister, den er offenkundig für einen Chaplin-Verschnitt hält, das schwarze Quadrat von Malewitsch unter die Nase und wird dafür vom Verzauberten verfolgt, seine Wohnung im Zuge einer Razzia durchkämmt und eine empfindliche Geldstrafe verhängt.
Welche Art von „Kultur“ steht hinter solchen Vorgängen? Wir meinen: eine Kultur der methodisch angewandten Scheinheiligkeit.
Scheinheilig ist stets mit sozialschädlich verschwistert. Wer unoffen, mit Geheimhaltung, Geschäfte mit öffentlichen Mitteln angeht, beugt das Recht und begeht – wie es in der Kriminologie heißt – Verbrechen mit weißem Kragen. Uns interessieren die erstaunlichen Geschäfte unserer Elite. Mehr noch interessiert uns, wie es möglich ist, dass all dies passieren kann: ohne personelle Konsequenzen, ohne jeden Eingriff in jene Struktur, die eine Schädigung der öffentlichen Belange begünstigt.
Mit der Scheinheiligkeit ist es wie mit dem Scheinholz: es phosphoresciert im Dunkeln. Es scheint zwar schön, doch innerlich ist es hohl, weil verfault. Das anziehende Leuchten ist reine Scheinherrlichkeit. Ihren Glanz erzeugen Worte, die allein zu unserer Täuschung erfunden wurden.
Die jüngsten Vorgänge rund um das schon länger eingeführte Zynismusverbot, um die Abschaltung jeder Kritik unter Berufung auf ominöse „Werte“ erfordern eine klare Haltung.
Die Täuscher
Im letzten Beitrag hier auf diesem Blog haben wir uns mit dem neoliberalen Diktum der „Sorge um sich selbst“ befasst, mit dem die Wirtschafts-„Philosophie“ bereits vor 30 Jahren den behütenden, von den Bürgern mitgetragenen und ihnen dienenden Wohlfahrtsstaat verabschiedet hatte. Auch in diesem Beitrag ging es um einen von der wiedergewählten Präsidentin eingefädelten Impfdeal, der angeblich unsere „Lebensgrundlagen“ schützen soll.
Nur wenige Tage nach dem Bekanntwerden des neuen Deals sind wir nun mit den „Werten“ einer kybernetischer Kultur und ihrem 0/1 Denken konfrontiert und verstehen, 0/1 bedeutet, dass wer nicht bedingungslos für das System ist, als Feind behandelt und aus ihm ausgeschieden wird.
Nachdem es in vier Jahren fortgesetzter Furchtkampagnen (kaputt wegen Seuche, kaputt wegen Pleite, kaputt wegen Krieg) gelungen ist, viele, vielleicht sogar die meisten, am Ende glücklicherweise jedoch keineswegs alle synaptischen Reaktionen gegen Null zu reduzieren, probieren die Systemträger derzeit, den letzten Denküberlebenden den zentralnervösen Impuls zum Widerspruch auszutreiben.
Aktuelles Hauptziel ist die Entpolitisierung des Humors. Eine Gesellschaft aber, die Satire unter Strafe stellt, fällt hinter die Frühgeschichte der Monarchie zurück.
Kein westlicher König wagte, den Hofzwerg, der ihm sein Fehlverhalten in grotesker Übertreibung vorspielte, enthaupten zu lassen. Denn was juckt es den König, welche Schweinereien der Zwerg anprangert. Alle wissen von noch viel schlimmeren Vorgängen und billigen sie.
Es ist ein altes Thema: wie bei Hans Christian Andersen spricht niemand – aus Furcht um seine Stellung und seinen Ruf – wider besseren Wissens die offensichtliche Wahrheit aus; vor die Entscheidung „Ansehen und Wohlstand oder Wahrheit“ gestellt, entscheidet man sich letzten Endes gegen die Wahrheit: wie in der scheinheiligen Gesellschaft, die ehrenwert tut, während Verbrechen gegen die Gemeinschaft begangen werden. Der bigotte Straftäter an der Spitze des Staates muss sich furchtbar entrüsten, wenn seine Ehre angezweifelt wird. So billig, wie das in der hohen Politik geht, nähme es kein Publikum den Schauspielern auf dem Theater ab.
Das ist genau der Grund, warum in der Scheinheiligkeit alles „sauber“ scheinen muss und der Schmutz, wenn er in die Öffentlichkeit gerät, von den ehrenwerten Täuschern erbarmungslos verfolgt wird. Es darf kein Zweifel entstehen. Die Bigotterie darf nicht als solche enthüllt werden, nicht einmal im Spaß.
Heute schneiden die Organe der Macht daher den Zwergen die eigenständigen Gedanken an der Zungenwurzel ab und wir Rezipienten finden das allmähliche Verstummen ganz gehörig.
Wir erinnern, dass auch in den 70er Jahren auf dem Höhepunkt der RAF-Hysterie – rückblickend betrachtet, am Anfang des Umbaus unserer lieblichen Kleingarten-Demokratie in ihre autoritäre Variante – die „klammheimliche Freude“ ein Entlassungsgrund war. Hinter den Jägerzäunen herrschte fortan Ruhe. Niemand äußerte mehr, was alle dachten. Das war Karriere-schädlich. Mut wurde immer kleiner geschrieben zugunsten einer geistigen Verbeamtung.
Die nächste Generation entschied sich folgerichtig für „No Future“: Scheiß der Hund drauf ! & Ihr Spießer! Provokation statt Aufbau einer autonomen Lebensweise. Betäubung statt Gegengift.
Keiner wollte mehr Hippie, also Teil eines „radikalen Studentenmob in Satinstiefelchen“ (39 Clocks) sein, weil es in diesen Kreisen schon damals nach Establishment stank.
Kürzlich schrieb uns AKTION-Autor Penny Rimbaud, er habe jetzt jede Identifikation mit dem Anarchismus aufgegeben und ziehe vor, das Label „Whateverist“ (Wasauchimmerer) zu tragen. Denn in der herrschenden Scheinheiligkeit schaut jede ehrliche Regung wie eine Fälschung aus.
Weniger festgelegt heisst besser aufgestellt. Denn der Wasauchimmerer bietet – ohne sein Denken zu korrumpieren – keine Flanke, auf die mit dem Vokabular der Scheinheiligkeit gezielt werden kann.
Eine Freundin aus dem Osten unseres Landes sagte einmal anlässlich einer kleinen Konferenz mit vielen weniger Festgelegten: Ihr seid nicht rechts, ihr seid keine Kommunisten. Was seid ihr dann? Irgendetwas muss man doch sein.
Nein, muss man nicht.
Das sind vielleicht alles etwas primitive Metaphern und die immergleichen Rückverweise in die jüngere Geschichte der Bundesrepublik. Überhaupt hatte ich über all die Jahre meines Lebens stets gehofft, es werde nie nötig, solche Texte zu schreiben.
Doch seit durch die jüngste Form der staatlichen Aneignung der Antifaschismus zum Cacheur für imperiale Kriegspolitik geworden ist und sich „Völkerfreundschaften“ und „bedingungslose“ politische Solidaritäten entlang der Linie von Denunziation und Menschenverachtung entwickeln, ist es unumgänglich geworden, sich alle paar Tage einmal selbst zu versichern, was wir bisher für unverhandelbar gehalten haben – und was nun doch untergegangen ist.
Denn penetrantes, das ganze freie Leben durchdringendes Framing und die Technik der Verdrehung des Wortsinns von allen nur erdenklichen Bezeichnungen darf nicht damit enden, dass wir verstummen.
Die Herrschaft über den Sprachgebrauch, die sogenannte Deutungshoheit (Definitionsmacht) ist – wie das „Wörterbuch des bunten Totalitarismus“ zeigt – wesentlicher Teil einer mehr und mehr unumschränkten Macht, die zuvorderst das Sprechen (können) unter ihren Einfluß bringt. Denn wofür man keine eigenen Worte hat – darüber kann man schlussendlich nicht mehr kritisch nachdenken.
Scheinhilfe
Gehen wir auf dem im vorherigen Beitrag „Lebensgrundlage“ eingeschlagenen Weg noch ein paar Schritte weiter.
Der Rückverwandlung der Sorge um sich selbst in die verlogene angebliche Sorge eines Staates um die „Lebensgrundlage“ und „Werte“ seiner Bürger, in Wahrheit: deren körperliche Umwandlung in Auf- bzw. Abnahmestationen für die Produkte aus den zwischen Staat und supranationalen Konzernen organisierten Deals, kommt notwendigerweise einer totalen Entmündigung gleich. Entmündigung ist unabdingbar, denn individuelle Konsumentscheidungen würden zwangsläufig zu Überhängen, zu „dead stock“ führen, die kontraproduktiv für den Erfolg der Deals wären. Deswegen ist notwendig, dass wir alle angeschafften Drogen restlos auffuttern.
So wird das Verhältnis Staat-Bürger – weit jenseits jeder Vertretung von grundlegenden Interessen – das eines Händlers und des von ihm abhängigen Süchtigen. Die Wahl ist keine politische Entscheidung, sondern Voraussetzung für die Verstetigung der Stofflieferung.
Mit der Sorge um sich selbst hatte der Neoliberalismus erwartet, eine totale Unterwerfung unter seine Prinzipien zu erreichen. Statt wie im autoritären Sozialismus, wo der Staat genau wusste, was für seine Bürger das Beste sei und sich so die Kontrolle über Abweichung erleichtern wollte, hatte die westliche Scheindemokratie erwartet, dass die Komplexität der Aufgabe, sich um alles selbst kümmern zu müssen, zwangsläufig – aufgrund der absehbaren Überforderung mit der Aufgabe – in eine stromlinienförmige Selbstunterwerfung unter den staatlich geförderten Wirtschaftskonformismus münden würde.
Als dann die nach Ende des Systemwiderspruchs 1990 frei gewordenen kybernetischen Potenziale eine nahezu präzise Konsumentenprofilierung technisch ermöglichten, wurde sukzessive klar, dass noch viel zu viel individueller Spielraum vorhanden war, um die (plattformkapitalistischen) Konzernpotentiale bis ganz unten auszuschöpfen.
Das seit Auslaufen der grossen Pharmapatente aufkommende Gesundheits-Thema war daher die genaue Umkehrung der Sorge um sich selbst: eine veritable Scheinhilfe.
In Wirklichkeit war es natürlich die Sorge um die Sicherung künftiger Pfründe.
Niemand soll sich selbst entscheiden können, was gut für ihn sei. Alle emanzipatorischen Nebeneffekte der Sorge um sich selbst müssen daher bekämpft, alle Selbstermächtigung zu alternativer „Behandlung“ und abweichendem Verhalten als rechts, als staatsdeligitimistisch oder sozialschädlich diskreditiert werden.
Der mit der Sorge um sich selbst verbundene Plan, das Gefühl für das Regiertwerden bis tief ins Intime hinein zu garantieren und sich damit die aufwändige Arbeit des Regierens gegen Widerstand weitgehend zu ersparen, ging nicht auf. Die Aufgabe der Sorge um sich selbst war zunächst zu wenig umfänglich angelegt. Für sich vollständig allein zuständig, auf sich gestellt und von der Wohlfahrt der Institutionen im Stich gelassen zu sein, hatte sogar einen eher emanzipatorischen Effekt. Zumal das Sich-Durchbeißen mit dem falschen Gefühl der Belohnung durch Erfolg verbunden war. Auch kamen die Regierten offenkundig gut damit zurecht, dass bestellbare Leistungen, die von einem leistungsstarken Wirtschaftssystem unaufhörlich geliefert wurden, die Zuwendungen des Staates ersetzen.
Schlussendlich kippte das Ganze erst dadurch, dass die Sorge um sich selbst den Grad der Selbstorganisation so weit erhöhte, dass in der Summe eine Redundanz der Kontrolleinrichtungen spürbar wurde und die Erhöhung des Kontrollgrades Kritik und nicht Einschüchterung hervorrief.
Zellgehorsam
Die etwas phantasielose, aber höchst effiziente Methode zur Wiederherstellung des vergessenen Gefühls, regiert zu werden, gelang durch das noch tiefere Eindringen ins Körperinnere: nun war nicht mehr „das Verhalten“ und seine Steuerung durch Konsumangebote, sondern die Herstellung der erwünschten Muster im Genstrang selbst der Plan. Das Phantasma, die Gesundheit gehöre in die Zuständigkeit der Regierungsorgane, knackte über Angst und Panik sogar die Schlösser vor dem bislang höchst geschützten innerzellulären und damit dem letzten, vor dem staatlichen Zugriff geschützten Bereich und organisierte – ähnlich wie jahrhundertelang zuvor das göttliche Auge – das Gefühl völligen Fehlens von Rückzugsgebieten, in die die Regierten gegebenfalls hätten abwandern, sich dem System entziehen konnten. Aus sich selbst auswandern aber kann – bislang zumindest – niemand.
Nun lagen wir alle nackt da, beliebigem Zugriff hin bis zur Änderung unseres genetischen Programmes ausgesetzt. Mit mRNA-Technik ist der Staat bis in den Zellkern gelangt.
Das scheint mir der Kern des Gesundheitsthemas. Dem Markt steht nun – mit der genmedizinischen 40-Millionen-Dosen-Option – noch die letzte bislang vor wirtschaftlichem Zugriff geschützte Nische offen.
Von anonymen Orten der Macht, von Brüssel oder Genf (WHO) aus, kann nun – symbolisch über die Bestellung von Millionen Dosen zellverändernder Wirkstoffe – durchregiert werden. Schon die Idee des Widerstands fühlt sich angesichts solcher Übermacht absurd an.
Daran, an der Überwindung dieses Ohnmachtsgefühls, hat jede künftige kritische Strategie, jede Auflehnung gegen die Zumutungen des Marktes, sich zu orientieren. Rudolph Bauers Wörterbuch hilft uns, die Scheinhilfe als solche zu entschlüsseln.
Europa wählt zur Hälfte rechts. Gleichzeitig – durch das Wahlspekatkel fast übersehen – finden gigantische, weichenstellende Deals statt.
Die EU-Kommission, selbsternannte „Hüterin“ unserer „Lebensgrundlagen“, erwartet nämlich einen neuen Feind. Sie sieht eine aviäre Influenza – die Vogelgrippe – auf uns zufliegen und kauft Drogen dagegen. Wir wiederum sehen die Plagen des Kapitalismus: Korruption, Menschenverachtung, Rassismus, Selbstbereicherung. Sittlich verdorbene Personen wollen uns also sagen, was die Grundlage unseres Daseins ausmacht. Uns fällt nicht schwer zu sagen, was fataler ist: die Viren oder ihre Bekämpfer.
Kernschmelze
Kernschmelze, sagte jemand nach der Fukushima-Katastrophe – es könnte wohl Ernst Ulrich von Weizsäcker gewesen sein – Kernschmelze sei nicht das Ende aller Tage.
Der Satz bedeutet etwas gänzlich anderes, je nachdem, auf welchen Satzteil man die Betonung legt. 2011 lag die Betonung auf „Ende“. Heute, angesichts des Endes der Demokratie, wie wir sie bisher kannten, liegt die Betonung auf „aller“. Es werden andere Tage kommen. Nur eben keine mehr in der Art wie in den letzten Jahren.
Als noch Könige und Fürsten regierten, konnte kaum jemand sich vorstellen, dass es eines Tages keine Leibeigenen mehr geben würde. Dennoch lebten auf dem brandenburgischen Hof, den wir jetzt nachnutzen, im 19. Jahrhundert noch die Leibeigenen der Gutsherrenschaft. Als die Leibeigenschaft 1822 aufgehoben wurde, ging für die, die davon lebten, eine Welt unter. Die Kernschmelze der Monarchie war nicht das Ende aller Tage für die Adligen. Aber für ihre Elite-Welt war der Effekt dennoch einschneidend.
Als sich nach 1933 die KZs füllten, sah kaum jemand die Kernschmelze des faschistischen Systems voraus, die nur zwölf Jahre später folgte: nach Verheerung der gesamten Welt, wie unsere Großväter sie kannten.
Die Kernschmelze des faschistischen Systems hat offenbar genügend aktive Atome übrig gelassen, um ein knappes Dreivierteljahrhundert danach eine neue Bombe zünden zu können. Wir wissen heute noch nicht, wie groß diesmal die Verheerungen sein werden, aber wir können sicher sein: das neue System kann auf die gute Vorarbeit des alten aufbauen.
Die Abstände zwischen den Verheerungen werden kürzer. Die Verheerungen werden umfassender. Früher wurden Landstriche unbewohnbar oder die Lebensgrundlage einiger Stände zunichte gemacht. Heute dringt die jüngste Verheerung gar bis ins Körperinnere von fast allen – ungeachtet ihrer Standeszugehörigkeit. Gleichbleibend ist wohl nur die jeweilige geistige Verheerung, die der physischen vorausgeht.
Niemals verzweifeln – immer verstehen wollen
An beiden Enden Europas, an denen ich wohne, Südfrankreich und Westbrandenburg, hat sich in den letzten Wochen jeder zweite zu einer rechtspopulistischen Partei bekannt. Zum Glück spiegelt das nicht den Landesdurchschnitt. Aber viel besser ist die nationale Lage auch nicht.
Nur einmal zuvor habe ich einen ähnlichen – damals zum Glück lokal begrenzten – Effekt zur Berlusconi-Zeit in Italien erlebt: niemand wollte Berlusconi gewählt haben, niemand wollte jemanden kennen, der Berlusconi gewählt hat. Wo versteckte sich die Hälfte der Bevölkerung?
Aber andererseits, so redeten die Männer beim zweiten Morgenespresso mit flankierendem Grappino, andererseits müsse man mal sagen: Eier! Eier habe er schon.
Ich hatte bis dahin mehr auf die gefärbte Kopfhaut und den Logen-Mitglieds-Pass geachtet. Immer am Rande der Kriminalität und oft nur von der politischen Immunität geschützt. So regiert das rechte Spektrum.
Doch die sozialliberale Fraktion ist keinen Deut besser. Die aktuellen Wahlergebnisse sind die exakten Folgen der Regierungsstils von Macron und Scholz. Niemand anders kann dafür verantwortlich gemacht werden. Es ist das Ergebnis neoliberaler Bereicherungsideologie auf privatem, wie auf staatlichem Niveau. Was soll man von Bankern (Macron) und Juristen (Scholz) anderes erwarten, als dass sie Geld machen und den Weg dahin legalisieren.
Apropos „Eier“: die Kühlerfiguren der Kern-Staaten des Abendlandes – leicht erkennbar an der Ästhetik und Performance von föderalen Bausparkassendirektoren – sind vergleichsweise nur provinzielle Staats-Verweser, die sich die Taschen voll stopfen.
Korruption und Menschenverachtung passten schon immer gut zusammen.
Dekadenz ist ein Zeichen stagnierender kultureller Entwicklung und kündigt stets den Beginn eines nicht mehr aufzuhaltenden, am Ende verheerenden Niederganges an. Wie gesagt, es werden andere Zeiten kommen – aber so ein Niedergang dauert erst einmal lange, überdauert uns gar.
Die Regimeübernahme durch die neue Rechte wird daran nichts beschleunigen, nichts ändern. Sie wird den hypertrophen Apparat der scheindemokratischen Selbstbegünstigung durch einen Clan-ähnlichen Apparat mit dem gleichen Ziel ersetzen. Im Europa Bardellas heiratet man wieder in die Macht ein.
Bardella befindet sich damit in bester Tradition der von Michel Pinçon bereits 1996 diagnostizierten Politik der „Familiendynastien“ ( Grandes Fortunes. Dynasties familiales et formes de richesse en France), so dass auch Macron nicht umhin kommen wird, eines Tages über Bardella zu sagen (wie einst Sarkozy über ihn): „Er ist wie genau ich, nur besser!„
Es wäre an sich eine Stunde zum Verzweifeln, weil alle politischen und metapolitischen Überlegungen, die in die richtige Richtung weisen, erfolgreich verteufelt, erfolgreich marginalisiert oder erfolgreich geköpft werden von der komplexen Verleumdungs- und Verdrehungskampagne, die seit 2020 den Tenor bestimmt.
Sie trägt übrigens viele Anzeichen einer globalen Think-Tank-Operation. Ihr Erfolgsgeheimnis: die Demaskierung macht sie stärker.
Wie sonst erklärt sich, dass all die Skandale vom Typus Warburg-Bank und Wirecard, all die verschiedenen zweifelhaften Impfstoffdeals all diesen Machthabern nichts anhaben können? Es ist zur juristischen Immunität eine quasi-natürliche hinzugekommen: die Politiker sind wie imprägniert durch ihre Scheußlichkeiten.
Gerade in dieser Lage ist aber Verzweifelung das Letzte, was nützt. Ziehen wir uns an den eigenen Haaren aus dem Sumpf und versuchen zu verstehen, was passiert und was dagegen hilft.
Option
In den letzten Tagen, als die Bürger gebannt auf die verschiedenen Inszenierungen der Macht starrten, auf das Wahlkampf- und Rechtsruck-Spektakel, wurde wieder mal ein neuer Impfstoff-Deal eingefädelt.
Die EU-Kommission hat eine „Option“ auf 40 Millionen Dosen Impfstoff gegen Vogelgrippe abgeschlossen.
Vermittler des Deals ist Hera: doch nicht Zeus´ Ehefrau auf dem Thron des Olymp, sondern die Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA) hat im Namen von fünfzehn Mitgliedsstaaten der EU unterzeichnet: die Generaldirektion „HERA ist ein zentrales Element der EU-Gesundheitsunion, die Präsidentin von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union 2021 angekündigt hat, und wird eine Lücke bei der Krisenvorsorge und -reaktion der EU im Gesundheitsbereich schließen.“
Bereit sein ist alles. „Lücken“-Schließen ist ohnehin Pflicht.
Das nach Banker- bzw. Börsen-Sprache klingende Wort Option sagt eigentlich schon, worum es geht: um Geld. Jedenfalls nicht um unsere Gesundheit, denn das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) schätzt das Risiko für die Bevölkerung derzeit als höchst gering ein. Selbst für Menschen, die regelmässig mit infizierten Vögeln und Säugetieren arbeiteten oder ihnen ausgesetzt seien, werde das Risiko „derzeit“ als gering bis mäßig angesehen.
Ja, warum dann alles, wenn es laut ECDC gar nicht so gefährlich ist? Hat die EU-Spitze Sorge, dass die Neue Rechte wenn sie erst im Parlament sitzt, den Deal verhindert – weil sie selbst („derzeit“ noch) nicht davon profitiert?
Überhaupt ist vielleicht das Adverb „derzeit“ das Einfallstor? Die Option läuft vier Jahre. In denen man in aller Ruhe eine hieb- und stichfeste Kommunikation aufbauen kann – beginnend mit der medienwirksamen Publikation der gekauften Option.
Oder stammt das Pochen an der Pforte vom Monster Kapital, an das wir uns längst alle gewöhnt haben wie an eine Naturgewalt, gegen die jede Impfung vergebens ist?
Ökosystem der Angst
1999 erwarb ich auf meinem ersten und einzigen Amerika-Trip „Ecology of Fear“ von Mike Davis. Das Buch wandelte mein Verständnis des mich umgebenden Traggerüstes aus Staat, Regierung, Gesellschaft und insbesondere Wirtschaft – ich möchte sagen – grundlegend. Ich verstand, dass die „Ökologie der Angst“ unser Sein mehr und mehr bestimmt und unabschaffbar ist in einem System, in das wir fugenlos eingebettet sind. Die Angst, auf die unsere Wirtschaft abhob mit ihren multiplen Sicherheitsgarantien, ließ uns keine Nische mehr, denn es ist geradezu das Prinzip des Wirtschaftens, Angst zu erzeugen. Angst treibt den Umsatz hoch.
Heute, zwanzig Jahre später, möchte ich vorschlagen, zum besseren Verständnis des aktuellen Geschehens den Titel durch eine äußerlich minimal klingende Änderung zu erweitern. Ich würde von einem komplexen „Ökosystem der Angst“ sprechen wollen, wobei ich Ökosystem so benutze, wie Konzerne dies heute tun, wenn sie beispielsweise vom „Ökosystem Auto“ sprechen, oder allgemeiner von einem geschäftlichen Ökosystem, also einem Verbund, der durch einen Orchestrator auf eine gemeinsame Wertschöpfung ausgerichtet wird – wenn also Güter durch geldwirtschaftliche Operationen sich in höherwertige Güter wandeln. Die zynische Verwendung von Ökosystem ähnelt so mehr der vergleichbaren von „Gesundheit(ssystem)“.
In jedem Fall zielt der Aufbau jenes Ökosystem der Angst auf eine immersive Einbettung in ein paranoid panisches Denken, das in einer fügsamen Öffnung der emotionalen Barrieren um das eigene Körperinnere mündet. Wir sollen, so eingeschworen, die Technik (zB Gentechnik) in uns willkommen heißen und ihr die (zelluläre/genetische) Zurichtung erlauben, die das aufwändige gewaltsame Regieren und Korrigieren erspart.
Jedenfalls hatte ich „Ecology of Fear“ noch nicht ganz verdaut, da lag „Technologies of Political Control“ von Steve Wright und der Omega Foundation Manchester auf dem Tisch und ein Projekt war geboren, das schließlich in „Demonen“ mündete, meinem Sachbuch über weniger tödliche Waffen, die äußerlich wenig Waffencharakter haben. Das Schluß-Kapitel handelte von Biowaffen.
Künstlich induzierte Krankheiten hatten wir allerdings vor zwanzig Jahren nur am Rand im Blick. Wir wussten zwar von den Forschungsprojekten mit Hasenpest und anderen Erregern bei der Bundeswehr in München: ein Horrorszenario. Trotzdem ganz und gar nicht die Sorte Krankheiten, mit denen wir heute kämpfen und die – durch den komplexen Zusammenhang von auslaufenden Medikamenten-Patenten, die dagegen anarbeitende Pharmalobby, deren Einfluß auf WHO und EU, sowie eine daraus resultierende erfolgreiche „Vergatterung“ aller Mitgliedsstaaten – schlussendlich jeden individuellen, vernunftgetriebenen Widerstand brechen.
2005 waren wir in der letzten Phase der Materialsammlung für das Buch – wir hatten gerade John B. Alexander, den Gründungsdirektor des –dem Pentagon unterstellten – Joint Non Lethal Weapon Directorate interviewt und gingen seinen Hinweisen zu den Peace Keeping Missions als Testgelände für neue Technologien nach.
Wir interviewten daraufhin Jan van Aken, seinerzeit UN-Biowaffen-Inspekteur, Gentechnik-Experte von Greenpeace und Mitgründer des Anti-Biowaffen-Projektes „sunshine project“.
Alexanders Hinweis konkretisierte van Aken durch seinen Hinweis auf das genetische veränderte Maiskorn von den Epicyte Biolabs in San Diego, einem kleinen Biotech-Labor, dessen Produkte von DuPont und Monsanto kommerzialisiert wurden.
Die im Genstrang des Mais eingebauten „anti-sperm antibodies“ sollten nützlich sein zur Langzeit-Lösung militärisch nicht lösbarer Konflikte wie in Angola, wo mithilfe des Brotes aus diesem Mais Menschen, die von diesem Brot (aus den Hilfsgüter-Lieferungen?) aßen, lebenslang unfruchtbar gemacht werden sollten. Ein unblutiges Ausrottungsprogramm.
Uns war nach dem Interview an sich schon flau genug.
Wir hätten gern lieber nichts gewußt von den herannahenden Gesundheitsspektakeln, beschrieben in Mike Davis nächstem Buch: im selben Jahr wie Demonen erschien Vogelgrippe und löste alle „Versprechen“ einer bleibenden „Ökologie der Angst“ ein.
Unkontrollierbare, beliebig waffenförmig einsetzbare GMOs und die unsichtbaren Flugobjekte, synthetisch manipuliert oder durch Umweltbedingungen epidemisch vervielfältigt, würden unser Schicksal sein.
Kurz vor seinem Tod und nach diversen Artikeln zu COVID19, so im im New Left Review erschien im Februar 2022 die erheblich erweitere Neuausgabe „The Monster Enters: COVID-19, Avian Flu and the Plagues of Capitalism“.
Wenn COVID und Vogelgrippe Konsequenzen des Kapitalismus sind, wie der Titel impliziert, vor was kann uns dann kapitalistische Konzernpharmazie schützen? Um welchen Preis?
Lässt sich daraus im Umkehrschluß ableiten, dass die Plagen verschwänden, wenn es keinen Kapitalismus gäbe?
Soziale Verachtung
Laut Apothekerzeitung ist es das Ziel der eingangs erwähnten 40-Millionen-Dosen-Option,„die Ausbreitung oder mögliche Ausbrüche der Vogelgrippe in Europa zu verhindern und die Bürger und ihre Lebensgrundlagen zu schützen“.
Deutschland beteiligt sich derzeit nicht an dieser gemeinsamen Impfstoffbeschaffung. Mit dabei sind nach Angaben der EU-Kommission Dänemark, Lettland, Frankreich, Zypern, Litauen, Malta, die Niederlande, Österreich, Portugal, Slowenien, Finnland, Griechenland und Irland. Zudem beteiligen sich die Nicht-EU-Staaten Island und Norwegen. Es ist ein Leichtes hochzurechnen, wie viele Dosen es werden, wenn die Sache Schule macht und Deutschland, Spanien, Italien etc. nachziehen.
Was genau ist eigentlich eine Lebensgrundlage?
Mutterboden ist beispielsweise eine wichtige Lebensgrundlage für Pflanzen, Tiere und Menschen. Insofern sind Atmen, Essen, Trinken wesentliche Lebensgrundlagen. Lebensgrundlage war ferner ein Wort, das Sozialhilfeempfängern aus der im Bundessozialhilfegesetz geregelten Leistung mit dem pompösen Namen „Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung einer Lebensgrundlage“ bekannt war. Sinn und Zweck der Leistung war die Förderung der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit. 2005 wurde sie mit der Umstellung der Sozialhilfe ersatzlos gestrichen.
Atmen, Einkaufen für Essen und Trinken und Sozialhilfezuschüsse erhalten könnte man unter die Grundlagen des „nackten Lebens“ rechnen – ebenso wie der Schutz vor Krieg und Mord.
Bildungs-, Freizeit- und Kulturangebote zählen zu den Lebensgrundlagen, die heute gern als „Luxus“ betrachtet, also für verfechtbar gehalten werden. Unverzichtbar für ein gesundes Leben allerdings sind intakte Beziehungen zu anderen Menschen, Freundschaft, Liebe, berechtigte und erfüllte Hoffnungen, die Freiheit, weitgehend unbehelligt zu sein wie man möchte, die Förderung der geistigen Beweglichkeit und Erholung von den krankmachenden Strapazen eines fremdbestimmten oder selbstausbeuterischen Berufslebens.
All das jedoch ist ganz sicher nicht erreichbar mit der 40-Millionen-Dosen-Option. Es ist also womöglich eine ganz andere Lebensgrundlage gemeint, noch jenseits – zumindest keinesfalls qualitativ oberhalb – der aufgezählten Kriterien für das nackte Leben.
Vielleicht kommen wir einer Antwort nur näher, wenn wir schauen, um wessen Lebensgrundlage sich der „Präsident der Superreichen“ und seine Amtskollegen kümmern. Sie sind „pognon de dingue„: verrückt nach Zaster. „Der Krieg der Klassen“, den Macron, König der Steuerabschaffungen für Reiche, ausgerufen hat, spiegelt sich besonders deutlich in der Abschätzigkeit, der „sozialen Verachtung“ (mépris social) – wie es die Autoren des zuvor erwähnten Buches, Monique Pinçon-Charlot und Michel Pinçon, nennen – gegenüber denjenigen, die – aufgrund anderer Ideale oder einer „Beisshemmung“ (Scholz über sich: er habe keine B.) – nicht den gleichen Erfolg haben wie sie. Das Buch der Pinçons über das „das oligarchische Abdriften der Macht in Frankreich“ und die Ausrufung einer „präsidialen Monarchie“ quillt über von Zitaten, die den Ungeist der hemmungslos ausagierten Überlegenheit unter Beweis stellen.
Sein sperrig-schöner Titel „DAS RAUBTIER-VERHALTEN ABSCHAFFEN – SICH ERNEUT MENSCHENWÜRDIG ENTWICKELN.“
Vaneigem schreibt, als wäre die Zeit für feine Justierungen, die Zeit der Rettung abgelaufen. Er fängt deswegen gleich mit dem Ende an. „Wir haben den Menschen zur Schande der Menschheit gemacht.“ und konstatiert folgerichtig „Was sich in der Tat durchsetzt, ist die Entstellung des Menschen.“
Nur ein verschwindend kleiner Teil dieser Ex-Menschheit befasst sich noch mit einem – dem Rest der Meute wenig aussichtsreich erscheinenden – Versuch, das Schlimmste abzuwenden.
Das sind wohl diejenigen, von denen die Selbstbereicherungspolitiker sagen, sie seien zugleich links- und rechts-extrem. Dieses Bonmot verdanken wir – und ich verspreche, sein Name wird hier nie wieder fallen – Friedrich Merz.
Vaneigem klassifiziert die Menschheit – gemäß seinem NeologismusTranshominier – als solche, die „sowohl den Raubtierinstinkt als auch den Instinkt zu gegenseitiger Hilfe geerbt haben.“
Ich würde – unter Nutzung des Vaneigemschen Vokabulars „Prédation“ und „Entraide“ – gern teilen in
– Prédhominier (die nur den Raubtierteil geerbt haben)
und
– Entraidhominier (die den Instinkt zur gegenseitigen Hilfe gepflegt haben)
Die Sisyphos-Arbeit der Entraidhominier, den Gang der Geschichte zu beeinflussen, ist notwendigerweise extrem, weil sie der Todesverachtung der anderen, dem Terror des Faschismus eine den Menschen zugewandt Perspektive entgegensetzt. Etwas mithin, das sich nicht umstandslos und nur für einige wenige Auserwählte digitalisieren, also letztendlich nicht mühelos monetarisieren lässt.
Die Prédhominier, also die Monetarisierer und ihre Adepten verstehen“ abwenden“ als sich umdrehen und nicht mehr hinschauen und glauben nicht einmal theoretisch an möglichen Erfolg. Sie beschäftigen sich daher – für welches auch immer vorgestellte künftige Ziel– ausschließlich mit dem Aneignen. Unklar, unter welchen Bedingungen dieser Reichtum konsumiert werden soll.
II. Aufgeben
Immerhin wird daran klar, dass es sich um ein sehr kurzfristiges Konzept handelt.
„Die Geschichte zeigt, dass, wenn, aus welchen Gründen auch immer, die Prinzipien, die die eigene Identität sichern, versagen, die Erfindung eines Feindes das Mittel ist, das eine – wenn auch prekäre und letztlich ruinöse – Auseinandersetzung mit ihm ermöglicht. Genau das geschieht jetzt vor unseren Augen.“
Agamben fährt folgerichtig fort:
„Es ist klar, dass Europa alles aufgegeben hat, woran es glaubte – oder zumindest jahrhundertelang geglaubt hatte: seinen Gott, die Freiheit, die Gleichheit, die Demokratie, die Gerechtigkeit.
Wenn die Religion, mit der sich Europa identifizierte, nicht einmal mehr von den Priestern geglaubt wird, hat auch die Politik längst ihre Fähigkeit verloren, das Leben der Menschen und der Völker zu lenken.
Wirtschaft und Wissenschaft, die an ihre Stelle getreten sind, sind in keiner Weise in der Lage, eine Identität zu garantieren, die nicht die Form eines Algorithmus annimmt.
Die Erfindung eines Feindes, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt, ist in diesem Moment die einzige Möglichkeit, die wachsende Angst angesichts all dessen, woran man nicht mehr glaubt, zu stillen. Und es zeugt gewiss nicht von Phantasie, als Feind denjenigen zu wählen, der es vierzig Jahre lang, von der Gründung der NATO (1949) bis zum Fall der Berliner Mauer (1989), ermöglichte, den so genannten Kalten Krieg, der zumindest in Europa endgültig verschwunden zu sein schien, über den gesamten Planeten zu führen.
Gegen diejenigen, die stur versuchen, auf diese Weise etwas zu finden, woran sie glauben können, muss man sich daran erinnern, dass der Nihilismus – der Verlust jeglichen Glaubens – der beunruhigendste aller Gäste ist, der nicht nur nicht mit Lügen gebändigt werden kann, sondern nur zur Zerstörung derjenigen führen kann, die ihn in ihr Haus aufgenommen haben.“
Soweit Agamben.
Was ich versuche, mit dem Begriff Aneignen zu beschreiben, liegt weit jenseits der „Bereicherungsökonomie“ eines Luc Boltanski. Es ist kein Synonym für Akkumulierung, Kapitalkonzentration oder monumentalen Reichtum.
Der Trieb zum Aneignen ist allumfassend, sinnleer und wahrscheinlich nihilistisch.
Deswegen geht auch jede konstruktive Kritik an ihr fehl, denn das Aneignen ist unheilbar – Krankheiten entziehen sich bekanntlich der Beanstandung, ebenso wie dem Widerstand. Sie lassen sich nicht (mehr) abwenden.
Unheilbare Krankheiten können sich nur selbst beenden.
Es ist uns eine besondere Freude, Ihnen heute den 50. Essay anzukündigen, der seit Gründung der online-Ausgabe der Zeitschrift DIE AKTION im Mai 2020 erscheint. Noch viel größer ist die Freude darüber, dass unser 50. Beitrag zum kritischen Denken von einem Autoren stammt, der schon immer auf unserer Wunschliste stand. Mit der deutschen Erstveröffentlichung von „Das Schneckenhaus“ hat uns Giorgio Agamben einen besonders schönen, geradezu poetischen Text überlassen, den er im Mai auf Quodlibet in Italienisch publiziert hat.
Wir danken unseren inzwischen 150.000 Lesern für ihr beständiges Interesse, das sich in 650.000 Seiten-Zugriffen ausdrückt und hoffen, dass die kommenden 50 Essays genauso spannend zu lesen sein werden, wie die ersten.
Doch zunächst ist es uns eine große Ehre, zu unserem Jubiläum unseren Lesern dieses Kleinod aus der Feder eines der berühmtesten lebenden Philosophen zu präsentieren. Viel Vergnügen!
Im Kreis unserer Freunde sind wir jüngst des öfteren mit einer nachdenklich stimmenden, psychologisch sogar nachvollziehbaren, dennoch höchst verstörenden Form von Grundvertrauen konfrontiert.
Das Grundvertrauen unserer Freunde bezieht sich auf die Berechtigung, annehmen zu dürfen, dass der Staat nichts entscheidet, was seine Bürger schädigt.
Wenn er also Impfstoff weitgehend ungeprüft ausgibt und sogar die Fortsetzung des sozialen Lebens von seiner Injektion abhängig macht, so meinen unsere geimpften Freunde, könne das nur – nach genauer Abwägung der Vorteile und möglichen Schäden durch staatlich bestallte Experten – zu unserem Vorteil geschehen sein.
Alles andere sei unvorstellbar. Sie gehen davon aus, dass nun vermehrt an die Öffentlichkeit kommende und somit auch ins Bewusstsein der generell unbelehrbaren Befürworter gelangende Komplikationen einer Massenimpfung mit neuen Wirkstoffen zum Zeitpunkt, als die vom Staat eingesetzten Institutionen sich für ihren Einsatz entschieden, nicht absehbar gewesen sein können.
Zweifel sind dabei grundsätzlich ausgeschlossen. Insofern kann das Grundvertrauen als eine Festung gegen die Angst vor dem inneren Zwiespalt betrachtet werden. Der Grad der Unerschütterlichkeit – dies wird in unseren Gesprächen sehr deutlich – hängt allerdings eng mit der Herkunft der Gesprächspartner aus Ost- oder Westdeutschland zusammen. Vierzig Jahre DDR und vierzig Jahre relativ unverblümter ideologischer Behauptungen, verbunden mit einer permanenten Demaskierung kapitalistischer Entscheidungsprinzipien hat die Staatsskepsis der Ostdeutschen auf ein völlig anderes Niveau gebracht, als bei den Westlern. Dieser Umstand erweist sich derzeit als einerseits geradezu utopisch – andererseits leider auch als Ursache der Bereitschaft, identitären Versprechen zu glauben.
Nach unseren Erfahrungen ganz unstrittig ist die Einstellung radikal unterschiedlich, wenn es um eine Einschätzung der Gründe und Folgen der staatlich verordneten Impfkampagne geht. Der ostdeutsche Bürger hat gelernt, dass man dem vereinigten Staat nichts glauben muss, weil er letztlich eine Interessenvertretung der Wirtschaft ist. Das allerdings hätte man auch im Westen wissen können.
„Der moderne Medizinbetrieb“, so der in Wien geborene Bremer Philosoph Ivan Illich in seinem Buch Die Nemesis der Medizin (1977), „stützt eine morbide Gesellschaft, in der die soziale Kontrolle der Bevölkerung durch das medizinische System eine der wichtigsten ökonomischen Aktivitäten ist … Menschen, die durch ihre industrielle Arbeit und Freizeit verstört, krankgemacht und invalidisiert werden, bleibt nur die Flucht in ein Leben unter ärztlicher Aufsicht, das sie zum Stillhalten verführt und vom politischen Kampf um eine gesündere Welt ausschließt.“
Wer einer solchen Struktur dennoch vertraut, sie als „Halt-gebende“ Struktur empfindet, gerät unweigerlich in einen schizophrenen Zustand. Deswegen ist er auch nur denjenigen Argumenten zugänglich, die sein Vertrauen (oft zu Unrecht) bestätigen. Defizienzgefühle, Unsicherheit, Verschlossenheit und Hass auf Andersdenkende sind so gesehen Verteidigungsreaktionen eines tief innen vorbeschädigten Gefühls.
Missbildung
Wenn wir unsere Freunde mit Fragen zum Verhältnis von Verantwortung und Verdienst konfrontieren, hören wir Ausflüchte, wahlweise sind wir Angriffen ausgesetzt: die Loyalität, mithin Integrität unserer Einstellung zum Staat wird pauschal unter Verdacht gestellt.
Es ist hier nicht der Ort, nachzuvollziehen, wie das Hypnotikum im Westen ohne ausreichende Prüfung in Umlauf gekommen sein kann – andere haben vor mir dazu hervorragende Untersuchungen angestellt, allen voran der Film von Adolf Winkelmann.
Doch es lohnt den Hinweis, dass die umfangreiche Anpassung des Zulassungsrechtes für Arzneimittel, die dem Contergan-Skandal folgte, https://de.wikipedia.org/wiki/Contergan-Skandal#Nachwirkungen hätte bewirken müssen, viele der Probleme, mit denen wir heute nach dem Einsatz von Covid19-mRNA-Impfstoffen konfrontiert sind, zu vermeiden.
Doch zu dem Zeitpunkt hatte Frau von der Leyen schon zu viele bindende Bestellungen per SMS versendet. Die Umsatzaussicht hatte mal wieder über die Sorge um die Gesundheit gesiegt.
Bereits 1958 brachte der FDP-Politiker Mende eine Anfrage im Bundestag ein, ob vermehrt auftretende Missbildungen mit Strahlung durch Atomtests zusammen hängen könnten und wurde abschlägig beschieden: Die Bundesregierung wies in ihrer Antwort die Annahme mit Hinweis auf statistische Daten als abwegig zurück und stritt jeden Zusammenhang mit Kernwaffen ab.
Irrtum? Fahrlässigkeit? Ignoranz? Vergessen? Nagasaki und Hiroshima lagen zu dem Zeitpunkt ja schon lange 13 Jahre zurück … Missbildung ist vor diesem Hintergrund ein Wort, das man zweimal lesen kann.
Die Geschichte lief weiter: Atomenergie wurde nun zur „beherrschbaren“ Technologie erklärt. Die Folgen der Bomben brachten zu wenige Menschen in den Entscheiderpositionen in gedanklichen Zusammenhang mit der „zivilen Nutzung“ in den Kraftwerken. Vor den Toren deutscher Großstädte war die Strahlung „unter Kontrolle“. Deutsche Ingenieure können das.
Grundvertrauen?
Staatliche Fördermittel – 203,7 Milliarden Euro für den Zeitraum von 1950 bis 2010, also 4,3ct per Kilowattstunde – konnten per se nicht in fatale Technologien fließen. Es wurde ja alles geprüft.
Ausserdem sollte Deutschland „den Anschluss nicht verlieren„. Selbst die weitgehende Haftungsbefreiung für Energiekonzerne machte kaum jemanden stutzig. Die Volkswirtschaftler Peter Hennicke und Paul J. J. Welfens sahen darin zwar einen „absurde(n) Investitionsanreiz, (der) den Wettbewerb in der Strom- bzw. Energiewirtschaft grotesk verzerrt und völlig unnötige Risiken für Milliarden Menschen befördert“.
Dass die ominösen „Risiken“ Krebs zur Volkskrankheit machten, sagt der Satz, ohne Krebs konkret zu benennen.
Doch wer es wissen wollte, konnte es wissen. Denn es gab nicht nur das erfolgreiche Buch „Krebswelt – Krankheit als Industrieprodukt“ des Biochemikers und investigativen Journalisten Egmont Koch. Auch Robert Jungks Bücher erreichten Rekordauflagen.
Geändert hat es wenig.
Sakrosankte Bärte
Um die Jahrtausendwende und mit den deutlichen Zeichen des deutschen Atomausstiegs stellte sich die „Enlager-Frage“ erneut. Inzwischen gehörte es zur Allgemeinbildung, dass der staatlich sanktionierte Sondermüll eine Million Jahre weiterstrahlt. Aber immer, wenn wir Besuchern unserer in Sichtweite des Zwischenlagers liegenden Wohnstätte erzählen, dass 400 Behälter in Gorleben oberirdisch in einer Art Tennishalle stehen und über die vierzig Jahre, die die ältesten Behälter schon dort sind, ihre eigenen Schutzhüllen aus massivem Gußeisen zu Strahlungsprojektoren aufgeladen haben oder dass es bis heute aller Forschung zum Trotz keine Lösung gibt, wie sie dort von der Erdoberfläche eines Tages verschwinden könnten, weil die Schutzbehälter nicht in den Milliarden-teuren Fahrstuhl passen, mit dem wir sie einst vor der Wende unter das Staatsgebiet der DDR unter der Elbe durchschieben wollten, denn niemand weiß, wie er die Polluxe mit den Brennstäben aus ihrer Castorhülle herausbekommen soll, wenn wir solche durch einen kleinen Ausflug ins Wendland nachprüfbaren Dinge erzählen, dann werden wir ungläubig angeguckt. Antietatistische Verschwörungsgläubige seien wir. In unserem Staat könne so etwas nicht vorkommen.
Den Menschen hilft eine Stigmatisierung gegen den Schock der Wahrheit. Ein paar Spinner und ihre Behauptungen sind das kleinere Übel als ein politisches Konstrukt, das systematisch Katastrophen produziert. Wie schon Sudelbuch-Autor G.W. Lichtenberg 1779 wusste, ist es schier unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch das Gedränge zu tragen, ohne den Leuten den Bart anzusengen.
Bärte aber sind heute mehr denn je weit verbreitet – und absolut sakrosankt.
2014 wurden gar Pläne der Kernkraftwerksbetreiber E.on, EnBW und RWE publik, ihre Kernkraftwerke in eine neu zu gründende und in Staatsbesitz befindliche Stiftung abgeben zu wollen. Diese soll die Kernkraftwerke bis zu ihrem Laufzeitende betreiben und anschließend als sog. Bad Bank fungieren und für den Rückbau, die Endlagerung und „alle sonstigen Risiken“ aufkommen. Bad Bank – so lösen Konzerne Probleme – eine abstraktere Form der Vernichtung.
Langsam, sollte man denken, stellt sich – statt Urvertrauen – nun Unvertrauen ein.
Die „soziokulturelle Geburt“ durch die atomkritische Forschung stellt die Menschen in der modernen Industriegesellschaft vor das täglich zu lösende Problem, dass man eben nicht allen Situationen und Menschen vertrauen kann.
Genau das aber ist eine solche Überforderung, dass ihr die meisten Zeitgenossen mit Verdrängung begegnen. Es überrascht uns nicht, dass die eingangs erwähnten Freunde, befragt zu Quellen ihres unerschütterlichen Staatsvertrauens, sich beim Thema „Atomenergie“ mit grotesken Konstruktionen wie „grüne Energie“ oder „Kohle ist auch keine Lösung“ behelfen, um ihr Staatsvertrauen zu bewahren.
Die Autorin unseres 49. AKTION-Beitrages war nun Anfang des Jahres vom TÜV Hamburg zu einem Vortrag geladen worden, in dem es – ganz typisch für einen technischen Überwachungsverein – um Sicherheit von Atomkraftwerken und Zwischenlagern angesichts autonomer Kriegstechnologien wie Drohnenschwärme – besonders vor dem Hintergrund eines denkbaren strategischen Angriffs auf strahlende Ziele – gehen sollte. Offenkundig glaubte die versammelte Expertenrunde, einen Vortrag bestellt zu haben, der sie in ihrer Hoffnung bestätigt, dass kein Problem bestünde (weil es sonst unlösbar wäre – wenn die beiden Technologien unvereinbar wären: Atom/Müll und die Revolution der Luftwaffe). Webers Erkenntnisse und Bedenken führten daher verständlicherweise zu vehementen Protesten, von denen traurigerweise nicht wenige frauenfeindlichen Charakter hatten. Eine „Notwehrreaktion“ des bartbewehrten Patriarchats angesichts schlagender Beweise für die Berechtigung zu massivem Unvertrauen in den Staat und seine Wirtschaftskonzepte?
Derweil fliegen die Starfighterpiloten (Beitragsfoto oben: Bundeswehr-Kampfflugzeug beim Überflug über das wendländische Zwischenlager Mai 2024) mit grenzenlosem Technikvertrauen weiter ihre täglichen Runden und wenden genau über der Gorlebener Tennishalle am anderen Elbeufer, in dem die vierhundert Altlast-Bomben schlummern.
Anmerkungen:
Der im Titel von Weber verwendete Begriff „Zwischenlager“ bezeichnet einen Ort, an den „abgebrannte“ Brennstäbe aus Kernenergieanlagen und andere radioaktive Abfälle verbracht werden, um dort ihre „Nachzerfallswärme“ abzugeben, bevor sie planmässig in Endlager hätten verbracht werden sollen.
Die Nachzerfallswärme kommt dadurch zustande, dass die vorhandenen, kurzlebigen Spaltprodukteradioaktiv zerfallen.
Ein weiterer erklärungsbedürftiger Begriff ist „der Staat“ – also eine organisatorische Struktur, die stellvertretend für und teilweise über die Interessen ihrer Bürger hinweg entscheidet. Der Begriff Staat meint in diesem Text die politische Ordnung mit bestimmten Gruppen in priviligierter Stellung, nicht das Land mit seiner Bevölkerung.
Nachdem wir im letzten Artikel „Überlebensfrage“ probiert haben, dem psychotechnischen Einsatz von Widersprüchlichkeiten, von Wirrnis bis hin zum Wahnsinn als zu politischen Zwecken erwünschte Mittel der Lenkung der Ansichten eine sprachliche Gestalt zu geben, beschäftigen wir uns heute mit einer weiteren Form der Korrektur von Meinung: der Vergatterung.
I. Richtig denken
Der aus der Militärsprache entlehnte Begriff Vergatterung bezeichnet dem Wortstamm nach eine ‚Palissadenvermachung‘ (Grimms Wörterbuch), einen mit Brettern vernagelten, „mit gattern versehenen raum“ zur Schweinehaltung. Vergatterung heisst in der Armee die Unterstellung bestimmter Personen unter andere. Im übertragenden Sinn bedeutet es dann später, dass innerhalb des Gatters niemand die Freiheit hat, sich zu bewegen wie es ihm beliebt oder noch weitergehend: zu denken, zu sagen und zu tun, was oder wie es ihm gefällt. Der Begriff hat zu Anfang der Gerhard-Schröder-Ära als sogenannte Kanzlervergatterung (der Presse) Karriere gemacht. Seither finden – insbesondere seit dem Jahr 2020, das sich mittlerweile rückblickend als das Wendejahr in Sachen Meinungsbildung präsentiert – permanent Vergatterungen statt. Der Begriff ist also aus seinem urprünglichen Bedeutungsfeld der Einzäunung von Tieren tief hineingeraten in das Assoziationsfeld der Steuerung der richtigen Vorstellung von einer Sache.
Kollegen aus der Berliner Kulturszene erzählen uns in diesem Zusammenhang, dass seit dem Entstehen der Idee, öffentlich geäußertes kritisches Denken könne den Staat deligitimieren und damit einen verfassungsrechtlichen Straftatbestand erfüllen, Podiumsdiskussionen zu schlimmen Gratis-Beklemmungen bereits in der Vorbereitungsphase führen, also zu einem Zeitpunkt, zu dem noch niemand auch nur ein Wort gesagt hat. An den Nachmittagen vor den Abendveranstaltungen finden deswegen mittlerweile bei allen fördermittelempfangenden Institutionen (also bei allen) Vergatterungen insbesondere der teilnehmenden Künstler statt, bei denen festgelegt wird, was über die brisanten Themen der Gegenwart (Ukrainekrieg, Gaza etc.) zu denken richtig sei und dass es am besten wäre, wenn diese Themen auf dem Podium ganz ausgespart blieben. Das ist das Ergebnis einer jahrelangen medialen Umerziehung: nicht mehr „Denken, das an der Zeit ist“ (auf der Suche nach der Folgephilosophie nach dem Ende der Aufklärung oder in sloterdijkscher Diktion: „nach der Auflösung eines einheitlichen Vernunftsinns“) – sondern in correctiv-scher Manier „Denken, was richtig ist“. Wozu also überhaupt noch an Podien als Zuhörer Interesse nehmen? Das Resultat des „Meinungsabtauschs“ steht offenkundig schon vorher fest, ebenso wie die Grenzen der Ausuferung.
II. Korrekte Einstellung
Einstellung ist ein Wort, das man – in Überschreitung von Karl Kraus‘ Bonmot – dreimal lesen kann. Zunächst in der Bedeutung von „Überzeugungen“ oder „Ansicht(en)“ – hierzu zitiert Grimms Wörterbuch folgenden Quellen: „(ansichten) des lebens, der natur, der welt; den dingen eine heitere ansicht abgewinnen. nach meiner ansicht, wie ich die sache ansehe; nach einer verbreiteten ansicht, wie die meisten sie betrachten.“ Eine andere Sorte Einstellung kennen wir vom Justieren von Geräten, bei der Senderwahl im Radio, bei der Festlegung von technischen Parametern, die ein (gewolltes, bevorzugtes) Erleben nach sich ziehen. Ein dritte interessante Form der Einstellung findet in der Medizin weite Verbreitung: man wird unter den Einfluß von Medikamenten gestellt, an deren Dosierung solange herumgeschraubt wird, bis der Patient die (starke) Wirkung nicht mehr als unangenehm oder körperfremd erlebt. Ein so behandelter Patient ist „gut eingestellt“.
Beeinflussung ist in jedem Fall die Schnittmenge. Man fummelt solange herum, bis der gewünschte Zustand herauskommt. Auf Nebenwirkungen wird keine Rücksicht genommen. Nur das Ergebnis zählt.
Die Veränderung unserer Einstellung führt – ähnlich wie im vorhergehenden Artikel das Wort „Doppelkatastrophe“ benutzt wird – zur Unterdrückung unerwünschter Effekte: ob nun durch einen pharmakologischen Cocktail oder durch Potpourri von empfindlichen Strafen für Fehlverhalten – Sei kein Sympathisant, Sympathisanten sind selbst Terroristen. Oder zahmer: Du sollst nicht an Meinungskundgebungen teilnehmen, die sich kritisch zur allgemein akzeptierten Linie verhalten. Die effizienteste Korrektur der Einstellung wird durch direkte Ansprache vorgenommen: eben durch „Vergatterung“. Eine Gleichschaltung steht stets dahinter, wenn abweichendes Verhalten erfolgreich korrigiert ist. Wir meinen dann alle das Gleiche.
III. Schwere Operation
Im vergangenen Spätsommer musste ich mich unerwartet einer schweren Operation unterziehen. Der nachfolgende Lähmungszustand kam vor allem durch eine komplexe pharmakologische Sedierung meiner Organfunktionen zustande. Vorher befand ich mich im Widerspruch zu allem, was um mich herum passierte. Nach der erfolgreich durchgeführter Einstellung war mir alles rundherum egal. Ich fühle mich nicht in der Lage, meinen schweren Hintern von der Ofenbank hochzukriegen. Das erste Mal in meinem Leben machte ich die Erfahrung, dass man aus der Senke nur rauskommt, wenn man sich mit aller Gewalt überwindet und den Zustand, in dem der Körper einem einflüstert, sich zu schonen, ignoriert. Überwindung gegen jedes eigene Gefühl der Möglichkeit. Ich erlebte in diesem Zustand der Paralyse den 7. Oktober 2023 in Gaza, die Veröffentlichung der Corona-Protokolle und einiges mehr an politischen Ereignissen, zu denen ich keine aktive Haltung einnehmen konnte.
Doch ganz deutlich spürte ich eine fatale Parallele zwischen der politischen Lage und meinem gesundheitlichen Zustand.
Die Fahrt in den Zellkern von mehreren Milliarden Menschen, der genetische Eingriff in den Körper, diese schwere pharmakologische Operation an der Mehrheit der Weltbevölkerung, deren Nebenwirkungen massiv erst 2023 spürbar wurden, zeitlich überlappend mit der allen humanitären Idealen spottenden, doppelkatastrophischen Vorfällen in Gaza und die Lähmung, die uns alle befiel, obwohl die empörenden Tatsachen auf dem Tisch lagen und ein Handeln – nicht nur theoretisch – erforderten.
Hätten wir auf die aktuellen Kriege genauso reagiert, wenn es den Corona-Vorlauf, die kollektive Vergatterung nicht gegeben hätte? Die Meinung noch nicht so erfolgreich eingeebnet gewesen wäre wie nach der „Operation Pandemie“?
An dieser Stelle möchte ich gern einfügen, dass viele unserer Freunde bis heute große Schwierigkeiten haben, die Verletzung des „contrat social„, den die Pandemieverordnungen und ihre medizinische Umsetzungen kennzeichnen, als solche anzuerkennen und entsprechend sich (dagegen) zu positionieren. Jeder dieser Freunde würde zustimmen, dass man gegen einen Staat, der foltert, köpft, vierteilt oder Leichen zur Abschreckung am Galgen vergammeln lässt, vorgehen muss. Die Verletzung des Grundvertrauens ist ihnen hier so offenkundig, dass es ihre Empörung auslöst.
Der Staat, der auf Millionen Jahre hinaus die eigene Bevölkerung verstrahlt und Millionen von Menschen in den Krebstod schickt, indem er die Frage der generellen Sicherheit von Atomkraft nicht gelöst hat, der Staat, der durch pure Behauptung Atomkraft zur sauberen Energie erklärt und noch darüberhinaus die Konzerne, die damit gut verdienen, Atomkraftwerke zu betreiben, von jeder Verpflichtung freistellt, die Entsorgung alter Brennstäbe nachhaltig zu lösen, dieser Staat geniesst also das Grundvertrauen unserer Freunde. Wie dieser Staat das geschafft hat, wird einem erst klar, wenn man die relativ unverhohlen durchgezogene Gesamt-Bevölkerungs-Vergatterung am Anfang der Pandemie-Zeit sich noch einmal ins Bewusstsein holt: eben jene Kommunikationstechnik der Inversion aller Werte, die jetzt auch in jedem seither folgenden politischen Fall wieder benutzt wird.
Die gesamte kritische Intelligenz der westlichen Welt – und nicht nur diese – kriegt nun den Hintern nicht mehr von der Ofenbank: sie sind meinungsgelähmt. Es sind nicht die Sprechverbote, die natürlich ihren Teil dazu beitragen, dass keine Auseinandersetzung stattfindet. Es ist auch und vor allem die Ratlosigkeit, die uns alle ergriffen hat, wie man mit einem paralysierenden Zustand dieser Dimension umgehen, mit welchem Trick man aus ihm herauskommen soll?
Gibt es für das aktuelle Geschehen ein Muster? Nur ein einziges Mal in meinem Leben habe ich zuvor eine vergleichbare gesellschaftliche Verformung erlebt: während der gigantischen konzertierten Hetze gegen das sogenannte Sympathisantentum. Dies war in jenen fünfzig Jahre zurückliegenden Zeiten, als die Rote Armee Fraktion ihren bewaffneten Kampf gegen den Kapitalismus führte und die „BRD“ den Popanz einer Fundamentalbedrohung durch einige ganz wenige, jedoch wild entschlossene Figuren aufbaute. Wir hockten handlungsunfähig vor dem Fernseher und schauten uns an, wie aufgrund jener völlig frei erfundenen Behauptung, dass zwanzig Personen in der Lage seien, einen der reichsten und bestausgerüsteten Staaten der Welt zu zerstören, das Land umgebaut wurde zum „Sonnenstaat des Herrn Herold“. Jedermann, der über diese Ereignisse sprechen, sich mit ihnen kritisch auseinandersetzen wollte, wurde sofort zum Terroristen gebrandmarkt. Die Stigmatisierung war ein voller Erfolg. Eine zuvor weithin – insbesondere in universitären Kreisen bestehende – Solidarität wurde massiv abgedrängt. Jede Auseinandersetzung wurde über Jahrzehnte verhindert und jede Form von Verständnis für die Quellen (Faschismus), Gegenstände und Ursachen (Fortbestehen faschistischer Eliten in der Bundesrepublik) des bewaffneten Kampfes erfolgreich abgedrängt. Damals wie heute schien das Land in Fassungslosigkeit erstarrt. Behaftet mit allen Charakteristika einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (Dissoziation, begleitet von Freeze-Effekten). Damals wie heute war die Republik von einer schweren Koprolalie befallen: eine Art gesellschaftlicher Infarkt hatte dazu geführt, dass die Mehrheit eine der Vernunft schwer zugängliche, wirre Rede führte. Nichts davon schien seinen Ursprung in der Identität der Bürger zu haben, sondern erweckte den manifesten Eindruck, es sei von außen in sie eingeführt worden. So wie ich mich das ganze Jahr 2023 fühlte. Medikamentös sediert und postoperativ verstimmt, hatte mich eine depressiv getönte Lähmung erfasst. Sie kam mir wie eine leistungsoptimierte Variante meines Zustandes im März 2020 vor, ein nun persönlich ausgeformtes Lockdownsyndrom, das mich an den Zustand sozialer Vereisung erinnerte, in den wir alle durch eine beklemmende Gegenwart und eine ungewisse Zukunft und eine dazugehörende, den Geist verwirrende Kommunikation geraten waren.
IV. Auflösung
So gesehen zielen die im Text „Überlebensfrage“ als Leistung der modernen Soziologie (Heinz Bude) beschriebenen, vorsätzlich ausgelösten Traumata durch „Angstkommunikation“, wie sie das deutsche Inneministerium bei willigen deutschen Wissenschaftlern beauftragt hat, auf Dissoziation, also auf „Auflösung einer geordneten Vorstellungsverbindung oder eines normalerweise vorhandenen Bewusstseinszusammenhangs“. Dissoziation ist eng verbunden mit Trauma-Erleben, wie es durchaus durch die politisch verfügten Lebensumstände seit 2020 als für die Mehrheit der Weltbevölkerung als gegeben angenommen werden darf. Der Posttraumatischen Belastungsstörung gehen definitionsgemäß ein oder mehrere belastende Ereignisse von außergewöhnlichem Umfang oder katastrophalem Ausmaß (psychisches Trauma) voran. Dabei muss die Bedrohung nicht unbedingt unmittelbar die eigene Person betreffen, sondern kann auch bei anderen beobachtet und erlebt worden sein (z. B. als Zeuge eines schweren Unfalls oder einer Gewalttat). All diesen psychologischen, pharmakologischen und genetischen Prozessen ist eins gemeinsam: dass sie für den Betroffenen im Wesentlichen unmerklich ablaufen mit verschiedenen Graden der Intensität.
Entscheidend für ihre Wirksamkeit und verändernde Kraft ist, ob sie dauerhaft unbemerkt bleiben oder an einem bestimmten Punkt auffällig werden. So auffällig, dass sie in uns Widerstand erzeugen.
Deswegen nimmt derzeit die aktive Beeinflussung der Einstellung eine so zentrale Rolle ein. Ist die „Einstellung“ der Bevölkerung erst einmal erfolgreich gelaufen, sind also Überzeugungen durch gezielte Beeinflussung erst einmal gefestigt, sinkt das kritische Potenzial gegen null. Ich hoffe, wir wissen, was wir zu tun haben!
In „Pleite“ haben wir kürzlich untersucht, wie Armut als strategisches Mittel zur Unterdrückung der politischen Emanzipation nutzbar ist. Heute, aus Anlass des Erscheinens der „15 Thesen für einen neuen Antiimperialismus“ der Initiativgruppe Sozialismus oder Barbarei in DIE AKTION, schauen wir auf eine weitere Form der Zurichtung des Menschen: auf den methodischen Irrsinn als Mittel zur Beugung.
Fraglos: die 15 Thesen sind brilliant und voller Kraft formuliert. Sie sind sämtlich klug und richtig, wahrhaft und Hoffnung weckend. Doch in welche Zeit fallen sie? Wie wirken sie angesichts der grassierenden Nichtung von Wortsinn?
Befinden wir uns nicht gerade mitten in einer kollektiven Hysterie? In einer Orgie der Verdrehung, Verleumdung, Verwirrung? Sicher, es passiert nicht das erste Mal in der Geschichte, dass für unerschütterbar gehaltene Einsichten und Lebenslagen ins Rutschen kommen – durch pure Behauptung des Gegenteils. Das funktioniert wie bei einem Gerücht an der Börse, es läuft blitzschnell um, reisst alle mit und die Streuer des Augensandes machen Kasse dabei. Machthaber regieren mit der Strategie der Verwirrung, brechen Widerstand dadurch, dass sie ihre Gegner irre machen, Zweifel solange schüren, bis nichts mehr glaubhaft ist. Eine unbewiesene Behauptung fällt in die Gruppe der Aktionswilligen und schon liefern sie sich gegenseitig ans Messer. Das ist das Strategem der Neo-Inquisition. Wer es bislang geflissentlich ignorieren konnte, dass unser Körper, unser Gehirn das Schlachtfeld der Zukunft sind, wird es spätestens in den letzten vier Jahren kapiert haben: „Schlachtfeld“ ist keine Metapher. Wir leben in der Ära eines „Manhattan Projekt des Geistes“ (Alfred W. McCoy in „Embedded Art„) Wie lebt es sich, nachdem die Bombe gezündet hat?
I. Doppelkatastrophe
„Die Weltgesellschaft und der Planet treiben auf eine Doppelkatastrophe zu: Auf eine neue Ära verheerender Großkriege, die möglicherweise mit Atomwaffen geführt werden, und auf eine genauso bedrohliche Umweltkatastrophe. Angesichts dieser Entwicklung ist es zur Überlebensfrage (die HRSG. möchten ergänzen: nicht nur) der Linken geworden, gerade jetzt das Undenkbare zu versuchen. Ihre Aufgabe besteht darin, sich wieder global zu assoziieren und eine weltweit wirksame Gegenmacht aufzubauen, die dem Amoklauf der imperialistischen Großmächte und der Naturzerstörung ein Ende setzt. Wagen wir einen neuen antiimperialistischen Anlauf. Wenn es gelingt, ihn mit den Kämpfen der arbeitenden Klassen und den sozialen Bewegungen gegen die Umweltzerstörung zu verbinden, hat der neue Aufbruch eine Chance. Nutzen wir sie!“ (These 15)
II. Der Knacks
Doppelkatastrophen ringsum. Erst ein Knacks. Gleich daneben plötzlich ein Riss. Zunächst bemerkst Du nichts. Dann kommt es Dir vor, als wenn das leise knisternde Bröseln, mit dem er sich seinen Weg bahnt durch zuvor fest gefügte Struktur, schon immer da war. So beschreibt es F. Scott Fitzgerald: als eine Porzellanmetapher. Die Schüssel tönt mit einem Mal dumpf, wenn du prüfend mit dem Knöchel dagegen pochst. „Im Grunde ist alles Leben ein Prozeß des Niedergangs.“ (FSF)
Wen wundert´s also?
III. Mentaler Malstrom
Auf meinem Tisch liegt ein hübsch illustrierter Fachartikel über ein Spezialproblem des “global warming”: es geht um die Temperatur, bei der unser Gehirn stockt. Was sagt das politische Barometer? Steigt die Hitze im Staat? Laufen wir Gefahr, demnächst als pochiertes Ei auf zwei Beinen durch die Welt zu staksen? Staus und Stockungen. Schon wieder eine Doppelkatastrophe. Der Knacks macht Schule. Staus und Stockungen aufgrund eines stark erhöhten Anfragevolumens von Teenagern mit Angststörungen, denen die Bundesgesundheitsministerin statt Behandlungsplätzen eine App (Junoma) zu bieten hat. In Kürze werden wir Sie hierzu persönlich kontaktieren – sehen Sie aber bitte von wiederholten Anfragen ab, da dies zu einem höheren Bearbeitungsaufwand und zu weiteren Verzögerungen führt. Wir melden uns schnellstmöglich wieder bei Ihnen. Immer das Gleiche, schreibt uns ein Freund mit Bezug auf die Meldung, dass man im RKI während der Anlaufphase der Pandemie auf politische Weisung hin die Daten manipuliert habe, um den Lockdown “wissenschaftlich” zu begründen. Noch ist der Name des Politikers geschwärzt – aber er wird gerade freigeklagt. Eine Überraschung wird es nicht geben.
IV. Ausschlachten
Ein Mitautor des sog. Corona-Panikpapiers des Innenministeriums, der Soziologe Heinz Bude, aalt sich eitel in der medialen Sonne und versucht, nicht nur aus seinen Schweinereien (siehe PDF “Wir müssen Folgebereitschaft herstellen” ) Kapital zu schlagen, sondern jetzt zusätzlich noch von seiner Selbstentblößung als Soziologe zu profitieren, einer staatsdienlichen Wissenschaft, die voller Verachtungauf “die Leute” schaut.
Auschlachten ist alles, Anstand ist nichts.
Das Wort Anstand ist Leuten wie Bude wahrscheinlich ohnehin nur aus der Jägersprache vertraut als Bezeichnung für den Ort, an dem man hinterhältig lauert, um unbemerkt auf die Waldbevölkerung zu schießen. Wir sitzen vor unseren sehr sehr großen Bildschirmen und glotzen, sitzen vor unseren sehr sehr kleinen Geräten und glotzen, solange bis aus Menschen “die Leute” geworden sind, deren “Irrsinn” Heinz Bude gern mit autokratischen Methoden nach dem Vorbild Chinas korrigieren möchte – mit einem Modell, “das so ein bisschen wissenschaftsähnlich ist”.
Ein bisschen Scheindemokratie scheint heute überhaupt kaum jemandem noch schädlich. Der nächste Schritt gemäß der Logik des Irrsinns: Experimente an “den Leuten”. Oder haben diese Experimente bereits stattgefunden?
Immerhin ist vom Blickwinkel der Wirkung aus betrachtet die Soziologie auf dem Vormarsch, weil sie daran mitarbeitet, den Körper aller Bürger zum Schlachtfeld zu machen. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Verstand. Sind manche Leute deswegen so ekelhaft geworden, dass sie ein Genozid richtig und Kritik falsch finden? Immer das Gleiche, schreibt der Freund und weiter: seit Jahrtausenden. Die parasitäre kleptokratische Oligarchie hat sich nunmehr (fast) des Ganzen bemächtigt. Faktenbasiertes Wissen dringt nicht durch die Glaubenssätze hindurch.
Die Verlautbarungen der Oligarchie – ob zur Pandemie, zum Krieg in der Ukraine oder im Gaza oder zu Klimawandel und Klimaprotest – haben alle die gleiche, im Grunde schnell durchschaubare Struktur: das Gegenteil von dem behaupten, was der Fall ist. Im Kopf “der Leute” erzeugt das einen Malstrom der Verwirrung. Sie kleben an der Wand des Strudels und spiralisieren langsam hinab ins geschichtliche Dunkle.
V. Methodische Demenz
Aus dem geleakten Strategiepapiers des Bundesinnenministeriums, Verschlußsache. Nur für den Dienstgebrauch: „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden. Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, schuld daran zu sein, weil sie vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann. Eine Politik des Zugriffs auf das Verhalten der Einzelnen bedarf starker Rechtfertigung. Es geht darum, Zwänge zu verordnen und Zustimmung zu gewinnen und dabei die Deutungshoheit in der Hand zu behalten.“
Verrückt! Aber hernach zum Glück wieder richtig herum hingestellt. Richtig. Wahr. War Ihnen das nicht auch ohne den Leak klar, wie das lief? Oder haben Sie es schon wieder vergessen? Sie leiden wohl unter politischer Demenz? Was machen wir mit dem Irrsinn der Leute? Die Angstkommunikation stellt sicher, dass sich die Eltern an die Maßnahmen halten, auch wenn ihnen das Herz bricht.
Lethal. Herz zerbrochen. Lethargie. Lethe, Grenzfluss zwischen Leben und Tod. Hauptstrom der Unterwelt. Aus ihm trinken die ankommenden Toten, um die Erinnerung an ihr Leben zu verlieren, ebenso wie die Seelen, die wieder verkörpert werden sollen, in ihn eintauchen, um die Unterwelt zu vergessen. Darauf verweist Lethes römischer Name Oblivio. Der Grenzfluss. Lethe wäscht die Lust von denen ab, die in ihn eintauchen. Die starken Triebe versinken, doch nur auf kurze Zeit. Wie die Larve ihre Haut abstreift, sucht der in Lethe Gereinigte den neuen Anfang. Er ist danach ein Anderer. Strom des Vergessens. Schmerz, Schuld, Trauer, Tod werden weggespült. Im Bild der Flüssigkeit verlieren sich die harten Konturen der Realität. Wer Lethe durchschwimmt, trifft ohne Überraschung auf den Tod. Liquidieren fasst Hinrichten als einen Sonderfall des Verflüssigens auf. Hier ist von Übergang die Rede. Eine Gesellschaft ohne Vergessen ist unerträglich (Wolfgang Sofsky). Ohne Vergessen bleiben wir angeschmiedet an eine endlose Kette von Gegenrechnungen.
Die nationale Demenzstrategie hat sich mit all der ihr zur Verfügung stehenden Energie dem Eingliederungsmanagment verschrieben. Wie viel Demenz ist in die Sprache selber eingetragen? Wie viel methodisches Vergessen, sich und andere täuschen? Wie können wir den unabwendbaren Zustand der grassierenden Vergesslichkeit gesellschaftlich nutzen? Aus der gesundheitspolitischen Defensive entworfene allzu offensive Demenzbekämpfungskonzepte und -techniken laufen stets Gefahr, das Maß des gesellschaftlich Nützlichen aus dem Auge zu verlieren, indem sie nicht nur zu vermeidbaren, ökonomisch sinnlosen und sicherheitspolitisch unfruchtbaren Widerstandshandlungen und Auseinandersetzungen führen, sondern pauschal auch die Unterdrückung, Ausschaltung oder zumindest unvernünftige Beeinträchtigung der als kriminal-, rechts- und gesellschaftspolitisches Medium geradezu unentbehrlichen Demenzmomente im routinemäßig überschau- und erfass-, relativ aufwendungsbescheiden beherrsch- und daher weitgehend risikolos duldbaren Um- und Unterweltbetrieb festzuschreiben drohen; eine aufgeklärte, emotionslos sach- und gelassen zukunftsorientierte Demenzbekämpfungspolitik wird demgegenüber Hand in Hand mit einer kalkulierten Demenzpflege einhergehen wollen, die durch eine abgestufte und geordnete, notfalls beschwichtigende Verwaltung der Demenz diese zwar hinreichend eindämmt und isoliert, aber zugleich für den Abfluß der ihr unleugbar immanenten produktiven Elemente in den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozeß und dort für ihre sowohl theoretische wie praktische Funktionalisierung sorgt. Könnten Sie vielleicht so nett sein und daraus zwei Sätze machen, damit ich das besser verstehen kann? Danke. Dankeschön. Was passiert denn hier gerade? Etwas Wesentliches wird verschoben. Etwas Wahnsinniges. Verrückt. Manhattan Project of the Mind. Knall. Knacks. Riss. Einsatz der zweiten Demenzion.
Jedem lesenden oder reisenden Menschen im Westen ist klar, was Armut ist. Arm sind Leute, die eine Niere verkaufen, um überleben zu können und später ihre Cornea obendrauf geben, um die Schulden loszuwerden für die überteuerte Anschaffung, zu der sie der Organhändler beschwatzt hat. Arm sind Bauern, die einen Mikrokredit nicht abzahlen können und sich deswegen umbringen. Kleine Schulden sind das tägliche Brot der Armen. Die gigantischen Schulden der Superreichen sind nur ein Steuersparmodell.
Arm sind Strassenkinder, die an einem Sack Heroin krepieren, den sie geschluckt haben, um ihn als Kuriere für ihre älteren Brüder auszutragen, die damit die Kohle machen. Die Brüder haben ihnen nicht gesagt, dass die Polizei sie in der Anbahnungsphase der Kontrolle zu deren eigener Sicherheit zunächst mit dem Taser lähmen wird und dabei die Beutel platzen: Bruder, lass dich nicht fassen, denn dann sind wir alle arm, weil das schöne Heroin in deiner Leiche bleibt.
Miete essen Seele auf
Armut steht in den deutschen Wörterbüchern als „Betrübnis erzeugend“, Mitleid erweckend, eben ein jämmerliches Leben führen.
Geld haben hingegen verspricht in allen Fällen – nicht nur den Armen – ein Leben in Autonomie, sowie in relativer geistiger und körperlicher Unversehrtheit. Geld bedeutet die Freiheit zu genießen, denken, sprechen und leben zu können, wie es einem beliebt. Arm und sexy gibt es nicht. Der verflossene Bürgermeister, der uns das weiß machen wollte, hat schlicht gelogen. Was für Reiche wie den Bürgermeister sexy aussehen mag, fühlt sich von innen nicht sexy an. Armut ist kein Gefühl, das man durch eigenen Willen los werden kann.
Deswegen ist Armut keine relative Größe, sondern eine Plage: immer existenziell. Wer heute in Deutschland seine Miete nicht mehr zahlen kann, muss gehen. Oft genug weit weg. Er kann nicht mehr bleiben, wo er bleiben muss (um zu Arbeiten) und bleiben will (weil es außer Arbeit auch noch Verwurzelung gibt, also einen Ort, an dem allein man lebenswert leben kann). Armut bedeutet daher immer Entwurzelung. Wer die Miete nicht mehr zahlen kann, muss nicht zwingend bitter arm sein, aber es langt eben nicht. Das kann allein an der exorbitanten Höhe der Miete liegen. Armut ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, zumindest im unteren Segment. Oben und unten sind mehr als Bestimmungen der Wirk kraftrichtung des Erfolgs. Es sind manifeste soziale Ortsbestimmungen. Seit das gewaltige Betriebesterben mit dem Corona-Lockdown angehoben hat und „Einzelhandelsgeschäft“ wie ein Begriff aus dem vergangenen Jahrhundert tönt, sind zunehmend mehr Menschen mit der Tatsache konfrontiert, dass neben ihnen in einem aufgeteilten ehemaligen Mietshaus schon Leute wohnen, die ohne mit der Wimper zu zucken das achtfache für ihre Wohnung zahlen können, während sie selber vor dem Aus stehen, wenn die Miete zum x-ten mal um „nur“ 30,00 € hoch geht. Armut wird dieser Tage sehr konkret. Umso konkreter, je mehr unser Wohlfahrtsstaat abgebaut wird. Das geht derzeit rasant. Jeder Leser kennt die einschlägigen Zahlen. Ein Freund sagte einmal zu mir: Solange Wildbrücken gebaut werden, damit Rehe schadlos die Autobahn queren können, ist unser Land noch nicht verloren. Haben Sie in den letzten vier Jahren gesehen, wo eine Wildbrücke gebaut wurde? Vielleicht geht es inzwischen dem Wild besser als dem unteren Drittel des Landes?
Geld und Geist
Armut ist psychisch destruktiv, auch wenn sie sich oberhalb eines sozialen Auffangnetzes abspielt, das im Moment noch nicht soviel Löcher hat, wie der Begriff „Netz“ nahelegt. Aber immer mehr Menschen sind so schlank, dass sie durchrutschen. Wer wie ich selbst seit geraumer Zeit kein Gas kaufen kann, weil das Konto das nicht hergibt, weiß wovon ich spreche. Zum Glück haben wir Öfen – und trockenes Holz. Plötzlich betrachtet man beim Spazierengehen im Park zurückgelassenen Forstschnitt mit ganz anderen Augen. Den Weg zurück ins vergangene Jahrhundert will uns eine Regierung demnächst abschneiden, deren Exponenten sich barfüßig vor ihrer Potsdamer Villa zeigen, um den Anwohnern zu erläutern, wie grün die Zukunft wird.
Mit einem Babboe Pedelec Carve Mountain zu 6.000,00 € Anschaffungspreis liessen sich erhebliche Quantitäten Fallholz abtransportieren. Nur nutzt keiner der Besitzer es so. Die, die den Laderaum des Superbike mehr als nötig hätten, können sich keines erlauben. Der Abstand wird größer. Ich spreche hier nicht allein vom Geldbeutel. Viel dramatischer ist, dass in der pekuniären Zweiklassengesellschaft diejenigen, die es geschafft haben, im Moment des Erfolges von einer speziellen Amnesie befallen werden, die es verunmöglicht, die andere Seite mitzudenken. Das ist nicht nur eine Frage der Herzlosigkeit. Armut hat auch etwas von einer Verfolgungs-App für Infektionskrankheit, die den Reicheren meldet: Kontakt meiden!
Im Club
Wenn Du merkst, wie deine reicheren Freunde skeptisch ihre Stirn in Falten legen, wenn Du von gescheiterten Verdienstaussichten sprichst und, statt einzuspringen mit einem Darlehen, Dir sagen: „Darauf hättest Du aber nicht bauen dürfen.“, dann bist Du bei uns angekommen: Willkommen im Club!
In der Clique der chronisch Mittellosen, zu der ich gehöre, geht seit vielen Jahren die dumme Rede von der Resilienz. Meine Clique ist natürlich kein eingetragener Verein, erst recht nicht organisiert. Ob Organisation beispielsweise im Stil einer Gewerkschaft helfen würde, ist unter Künstlern zu Recht umstritten. Der letzte Gewerkschaftsfunktionär, den wir anlässlich einer von uns vorgeschlagenen Ausstellung über die sozialen Verwerfungen nach der Finanzkrise kennen lernten – ein Projekt, dass natürlich nie zustande kam – erzählte uns nach seinem Aufstieg in den Vorstand unaufgefordert Einiges von der „Kreativität“ der private equity manager, die jetzt seine Entourage bildeten.
Das Problem sitzt tiefer als jene Probleme, die durch gewerkschaftliche oder Netzwerk-Arbeit zu beheben wären.
Die Rede von Resilienz ist deswegen dumm, weil sie die Unfreiwilligkeit der Armut nicht einbezieht. Es ist ein wohlfeiler Spruch, wenn die Verkleinerung der Oberfläche alternativlos ist. Wer pleite ist, muss sich beschränken oder aufgeben. Sich in der Pleite so einzurichten, dass es Spaß macht, ohne Geld zu leben, ist sicherlich eine Herausforderung. Man könnte sie gar zu einer kreativen antikapitalistischen Haltung umdeuten. Aber das ist alles scheinheilig. Wenn bildende Künstler von Museumsdirektoren oder Kuratoren, sämtlich fest bestallt und regelmäßig bezahlt, „kreativ“ genannt werden, dreht es sich in den allermeisten Fällen lediglich darum, uns zu überzeugen, dass wir auch mit einem kleineren Budget eine inhaltlich vernünftige Arbeit realisieren können. D.h. unser Kultursystem geht – und das möchte ich fast systemerhaltend nennen – davon aus, dass wir mangels eines besseren Jobs auf Geld verzichten und der uns gegenüberstehenden Clique der Kultur-Manager durch unterbezahlte Produktion ihr Gehalt sichern.
Armutszeugnis
Um von vornherein kritischen Rückfragen zu begegnen, möchte ich mir und einigen meiner Kollegen ein hervorragendes Armutszeugnis ausstellen und festhalten, dass zur Clique der mittellosen Künstler durchaus renommierte Figuren gehören, deren Arbeit von hoher Qualität ist. Dies nur um klarzustellen, dass Qualität keinerlei Einfluss auf Einkommen hat und Reichtum nur aus solcher Arbeit erwächst, in der Qualität nicht an erster Stelle steht. In den seltenen Fällen von Reichtum durch Kunstproduktion steht die Karriereplanung, die Systemzugehörigkeit und ein verschmerzbar geringes Maß an Lust auf Opposition oder Subversion im Vordergrund.
Noam Chomsky hat einmal in einem Beitrag für unser Buch „Supramarkt“ geschrieben, dass das Maß an Kritikfähigkeit, sprich die Relevanz, die eine künstlerische Arbeit für die Erhaltung einer humanitären Zivilgesellschaft hat, dadurch beschränkt wird, dass eine Karriere heutzutage in der Regel mit Schulden beginnt, die abgetragen werden müssen, sobald man die Universität verlassen hat. Schulden abtragen und Kritik äußern passen nicht zusammen.
Manch ein Leser mag vielleicht denken, das ist Jammern auf hohen Niveau. Aber der klassische Verlauf einer strukturell prekären Biografie wie der meinen geht so, dass es immer wieder gut bezahlte und erfolgreiche Projekte gibt und dann riesige Lücken ohne Einkünfte – manchmal über Jahre. Den besten Verdienst meines Lebens bei der Weltausstellung Expo 2000 habe ich in ein Folgeprojekt zum Thema künstliche Intelligenz und Gewalt gesteckt und bin von jener – übrigens sehr bekannten – Traditions-Galerie, die Projektträger war, nicht bezahlt worden. Erst nach einer Arbeitsniederlegung mit großem Trara wurde das uns von einer Förder-Institution für das Projekt bewilligte Geld teilweise ausgezahlt. Der Scheck kam mit dem Taxi: an eine Flasche Champagner angebunden. Das war der Höhepunkt des Zynismus. Als ich später erfahren habe, dass mit unserer Subvention die Stromrechnung der Galerie bezahlt worden war, wurde mir klar, dass auch renommierte Läden oft in die Klemme geraten können. Man mag das für die Folge von Mißmanagement halten. Aber es bleibt ein Geschmäckle: nicht nur mir fehlt das Geld und es wird sicher niemals fließen, solange es sich um Projekte handelt, die in jüngster Diktion als „staatsdeligitimistisch“ gelten.
Staatsdeligitimistisch? War das nicht immer die zentrale Aufgabe der Kunst: nichts bedingungslos anzuerkennen – um unsere Gesellschaft besser zu machen. Heute jedenfalls ist Staatsdeligitimierung der „kiss of death“ für jeden Künstler.
Streichung
Faktum ist, dass im Kulturbetrieb quasi niemand – abgesehen von den zahllosen festangestellten Verwaltungskräften, Haustechnikern und Direktoren und insgesamt keine Einrichtung unterhalb des Niveaus systemrelevanter Institutionen – sich auf regelmäßige und unantastbare Einkünfte verlassen kann.
Insbesondere über den mutigeren Institutionen, die sich wagen, Themen anzufassen, über die kein Konsens besteht, schwebt das Damoklesschwert der Züchtigung durch Streichung.
Manch ein Leser mag denken, das dass zumindest meine Romane, die ja durchweg ganz gut besprochen wurden von den relevanten Medien, regelmäßig Geld abwerfen müssten. Aber zum einen ist mein Verlag am Ende der Corona-Zeit abgewickelt worden, wie es so schön heißt.
Zum anderen erzeugen schwierige Texte keinen nennenswerten Umsatz, geschweige denn Gewinn.
Dumm gelaufen. Aber selber schuld, ich hätte ja auch etwas Leichtes, Schönes, Schwebendes mit viel Liebe drin, besser noch: Softsex und vielleicht sogar über eine diverse Beziehung schreiben können, etwas, das den Lesern eine sanftmütig stimmende Ablenkung von den täglichen Fehl-Entscheidungen der Politik beschert und durch hohe Auflagen belohnt wird. Ich hätte ja, im Rahmen dessen, was heute so als kreative Arbeit gilt, die Zeichen der Zeit deuten und Influenzier werden können.
Dann hätte ich sicher bald die Bodenhaftung verloren und würde voller Verachtung auf die armen Schweine unter mir gucken, die gerade aus der Stadt, in der sie jahrelang in einem billigen Atelier vor sich hindümpelten und schöne Sachen malen konnten, wegziehen mussten, weil sie die Miete nicht mehr stemmen können.
Ich würde dann automatisch so denken, wie einer der Investoren, die in der Arte-Doku Capital B vorkommen, so schön sagt: Leute, die nichts auf der Naht haben, müssen sich mit dem Gedanken anfreunden, nicht mehr in bevorzugter Lage zu leben.
Nullnummer
Die Kernfrage zum 1. Mai ist daher: was gilt 2024 ff. als Arbeit? Wie systemkonform muss es sein? Wer verdient denn überhaupt noch mit Arbeit sein Geld? Wer von unseren heutigen Regierungsmitgliedern hat denn irgendwelche Meriten verdient mit echter Arbeit? Aber das ist gefährlich: echte Arbeit, ohne die unsere Gesellschaft an sich nicht auskommt, führt heute stets ins Prekariat. Deswegen sind ja alle so scharf auf die nächste Wirecard, das Abschöpfen in Sekundenschnelle und dann weg…
Muss man also gemäß solcher Vorbilder für Erfolg nicht vielmehr auf groß oder klein angelegten Betrug umsatteln?
Schließlich werden Leser, die sich mit Blogs befassen, sagen: er hat doch mehr als 100.000 Leser: warum monetarisiert er das nicht? Ich will als Antwort ein Beispiel geben, das mit der einzigen nennenswerten Form von gewerkschaftsähnlicher Organisation in unserem Metier zu tun hat. Ich bin als Autor und bildender Künstler natürlich Mitglied nicht nur der VG Bildkunst, sondern auch der VG Wort.
Die VG Wort bietet Autoren die Möglichkeit, ihre Internet-Publikationen durch das Setzen von sogenannten Zählmarken in Geld zu verwandeln. Zumindest ist dies theoretisch vorgesehen. Aber für wen?
Abgesehen davon, dass das Verfahren, einen Blog mit solcher Technologie auszustatten, die in der Lage ist, den Traffic zu ermitteln und an die VG Wort zu übermitteln, schon intrikat genug ist und keinerlei transparente Kriterien kommuniziert werden, ab wann die Mühe lohnt, ist das Geschäft eine reine Nullnummer. Die unbekannten Grenzwerte, von denen manche Kollegen, die auch gescheitert sind behaupten, sie lägen bei 15.000 Klicks pro Artikel, liegen in jedem Fall so hoch, dass es sich um eine Art von Beschäftigungstherapie handelt, zu versuchen, seinem privaten Blog auf diese Weise zu kommerzialisieren.
Almosen
Apropos „Nullnummer“: Derzeit arbeiten wir mit einem Freund an einem Zeitungsprojekt, der Neuen Berliner Illustrierten Zeitung. Es ist keine klassische Obdachlosenzeitung, wenngleich sie nach dem selben Prinzip von Obdachlosen vertrieben wird. Es wäre nicht nur zynisch, Einkünfte aus einem solchen Projekt zu kreieren, sondern ist auch schlicht unmöglich. Wir befinden uns mit einem solchen Projekt am unteren Ende der Almosen-Kultur. Freunde, die gut gehende Clubs oder Geschäfte haben, schalten Anzeigen, die den Druckpreis decken. Trotzdem ist dieses Projekt ein wichtiges Projekt – für mein geistiges Überleben. Ich will kurz erklären warum.
Beginnend mit der Corona-Zeit, bei genauer Betrachtung sogar schon einige Zeit davor, wurden jüngst in unserem Land die allerletzten Nischen ausrasiert, in denen wir Guerilleros der Kultur unser Leben fristeten. Betrachten wir für dieses Gedankenspiel unsere Einkunftsmöglichkeiten und Lebensräume wie ein riesiges Getreide-Feld, das von der industriellen Landwirtschaft beackert wird. Unsere Nischen waren die winzigen Dreiecke, die die große Maschine beim Wenden nicht mit abgemäht hat. Die winzigen Nischen boten in überschaubarem Maß alles, was nötig ist zum Leben: Nahrung, Schutz, sogar einen gewissen Hinterhalt, aus dem heraus wir unsere Inhalte lancieren konnten, ohne gleich plattgemacht zu werden.
Harun Farocki hat vor vielen Jahrzehnten dieses schöne Bild einmal entworfen, als man für eine kritische Meinung noch nicht sofort gesteinigt wurde. Ich habe mich in diesen Farocki-Dreiecken immer ganz wohl gefühlt. Dabei saß ich der irrigen Ansicht auf, dass sie immer bestehen bleiben würden, weil zwar das ganze Feld bepflanzt wird, aber die Optimierungsnotwendigkeit des Kapitalismus und der Preis der Maschinenstunden zwangsläufig dazu führen müssten, dass diese Rückzugsorte als eine Art unwillentlich erzeugte Allmende Bestandsschutz hätten. Den Kulturbetrieb hatten wir aus dem Club der Mittelosen als eine Art Schutzraum missverstanden, in dem man ungestraft, so wie ich es jahrelang gemacht hatte, über Auschwitz, Stammheim, über die Abgründe der inneren Sicherheit und die Katastrophen der KI sich verbreiten könne.
Unterwerfung
Aber es kam anders. Péter Halász, ein ungarischer Performance-Pionier (Squat Theatre), hat uns einmal aus eigener Erfahrung berichtet, dass die Steuerfahndung das effizienteste Instrument des Kapitalismus zum Abschalten von unerwünschter Meinung sei. Seine Stücke und sein zum Theater umgebauter Wohnraum wurden oft von der Polizei überfallen und ausgeplündert. Dann spielte man woanders weiter, zum Beispiel auf der Straße, oder bei Freunden in einem Raum, den die Polizei noch nicht entdeckt hatte. Sein Projekt war jedoch endgültig bankrott, als die Steuerfahndung ins Spiel kam.
Wir sprechen hier über eine Zeit, die mehr als 40 Jahre zurückliegt. Inzwischen hat der Kapitalismus zur Befestigung seiner Macht und zur Abschaltung aller Kritik etliche Instrumente zusätzlich zur Steuerfahndung ersonnen. Das weitaus effizienteste Mittel zur Verhaltenskontrolle ist nicht, wie einige denken mögen, der Eingriff in die Grundrechte und die freie Meinungsäußerung.
Rache
Wesentlich effizienter ist die methodisch eingesetzte Armut. Man schneidet die Leute einfach von Verdienstmöglichkeiten ab, wie geschehen mit Freunden, die intelligente Kritik an der damaligen Regierungspolitik im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie geäußert haben. Sie bekamen schlicht keine bezahlten Jobs mehr in ihrem Metier. Armut ist das zentrale Werkzeug zur Zurichtung des Menschen.
Von vielen, insbesondere den namhaften Berliner Kultur-Institutionen berichten die Kollegen, dass vor einer Podiumsdiskussion eine Vergatterung stattfindet, bei der die Themen, die öffentlich besprochen werden dürfen, und die genaue Meinung, die man dazu haben soll, verbindlich festgelegt werden. Andernfalls drohen sofortiger Abbruch der Veranstaltung und Zahlungsstop. Wir werden wegen der Ansichten, wie wir sie im Blog (olaf.bbm.de) vertreten, schon lange nicht mehr eingeladen.
Zu den grundsätzlich schon schwierigen Verdienstmöglichkeiten im künstlerischen Feld tritt also nun die vom Kulturbetrieb angewandte Methode der gezielten „compliance“: Unterwerfung durch Verarmung.
Wie sagte Chomsky so richtig: Schulden sind eine Waffe, mit der Anpassung erzeugt wird.
Ein Land ohne kritische Intelligenz und ohne kritische Kultur aber ist ein Getreidefeld, dessen wirtschaftlich nicht verwertbarer Restaufwuchs mit Glyphosat vernichtet wurde: wie aus Rache.
Es heisst, dass wir die Art von Gesellschaft, die wir uns wünschen, an den Technologien erkennen kann, in deren Entwicklung und Verbreitung wir unsere Energie stecken. Der Elektrotechniker Daniel Erni und die Techno-Feministin & AKTION-Autorin Jutta Weber hatten mich Anfang März 2024 eingeladen zu ihrem Zukunftsworkshop „ubiTag – die digitale Neuordnung der Welt“ im ikonischen SANAA_Gebäude auf Zeche Zollverein Essen.
Jede neue Technologie hat ihre spezifischen und nicht immer nur schönen Auswirkungen auf Mensch & Gesellschaft. RFID-Tags kommen künftig aus dem Drucker und landen beispielsweise direkt auf der menschlichen Haut – wie ein temporäres Tatoo. Der digitale Stempel ist derart billig (ein Zehntel Cent pro Stück), dass begeisterte Befürworter in ihm das Heil für die Medizintechnik und eine Revolution in der globalen Logistik erblicken.
Die neuen druckbaren Transponder besitzen anders als ihre technischen Vorfahren keinen Chip und können ohne Sichtkontakt gelesen, sowie umstandslos auf jedes Paket, jeden beliebigen Alltagsgegenstand und jede global zirkulierende Ware, die man lokalisieren möchte, oder eben gleich direkt auf die Haut aufgebracht werden. Die Tinte der „verräterischen“ Antenne besteht entweder aus Polymerstoffen oder aus leitender Farbe.
Was macht die Technik mit uns, wenn unser Körper dank des aufgedruckten Funketiketts wie ein Warenpaket maschinenlesbar wird? Wie die absehbar pandemische Verbreitung der Markier-Technik zu einer gesellschaftlichen Verwerfung neuer Dimension führen könnte, untersuche ich im heutigen Beitrag.
Leben wir vielleicht schon morgen in einer flächendeckenden “Tag-Welt” der perfekten Total-Überwachung, in einer – noch dazu gerichtlich abgesegneten – Kontroll-Hölle, in der jetzt schon die Mitarbeiter von Amazon schmoren?
Sind die „Chiplosen“ ein gefährliches Spielzeug oder ein sinnvolles Helferlein im Alltag? Um die Frage zu entscheiden, wie brisant solche Innovationen sind, haben sich die beiden Einladenden für die Konferenz ein überraschendes Format ausgedacht. Es waren neben namhaften Forscher- und Expert:Innen wie Susanne Öchsner,Christoph Rosol, Thorben Mämecke oder Rena Tangens von Digitalcourage auch bekannte Autor:Innen wie Sibylle Berg, Dietmar Dath, Anne Freytag und Theresa Hannig mit Auftragsarbeiten zu hören.
Meine Aufgabe war, aus meinem Roman Unterdeutschland zu lesen und den Juristen und Datenschützer Thilo Weichert kritisch zu kommentieren. Der Text der Replik auf Weicherts Vortrag ist nachstehend zu lesen.
I. Daten
Das Wort Daten stammt bekanntlich vom lateinischen Wort „dare“ (geben) ab. Schon im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1852) heisst es diesbezüglich:
„ähnlich ist (geben) im rechtsleben das recht (zu) geben und (zu) nemen oder umgekehrt, (eine) zusammenfassende bezeichnung des rechtsverfahrens in seiner zweiseitigkeit oder unparteiischen allseitigkeit.“ oder, so ein weiteres Zitat bei Grimm „bis zum urtheilsspruche, wo das recht gleichsam vertheilt wird, die parteien durch geben und nehmen nach rechtsweisung so zu sagen wieder ins gleiche kommen.“
Die Frage, die wir hier diskutieren mit Bezug auf ubiquitär verbreitete Technologien, ist im Kern die Frage nach dem, was bei Grimm „ins Gleiche kommen“ heisst: herrscht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Geben und Nehmen? Besteht ausreichender Schutz zu verhindern, dass es zur Schieflage kommt?
Insofern ist mit Bezug auf das Stammwort „geben“ die zentrale Frage, ob die Daten freiwillig oder unfreiwillig, also mit oder ohne Kenntnis oder Zustimmung des Datengebers erhoben wurden, also letzlich, ob der Datengeber, der in diesem Kontext besser Dateneigentümer heißen sollte, sich dessen bewusst war oder die Datenübergabe heimlich stattfand?
Unabhängig von einer politischen Bewertung der Zwecke der Datenerhebung ist ein entscheidendes Kriterium zur Bewertung der gedruckten RFIDs, ob mit diesem technischen Verfahren das Potenzial des heimlichen Abzapfens erhöht und damit die Verletzung der Integrität des Persönlichen erleichtert wird?
Die für den Laien gegebene Erkennbarkeit des Erhebens oder Abzapfens von Daten ist dabei kein trivialer Vorgang.
Denn wenn wir bewerten wollen, ob der derzeit durch rechtliche Bestimmungen, also durch Grundgesetz und DSGVO gegebene Schutz, hinreichend ist, um einem solchen technologischen Schritt, wie ihn printable RFID bedeuten, um bestehende Schutzbedürfnisse im Binnenverhältnis Konsument-Konzern oder Bürger-Anwender abzudecken, müssen wir zunächst verstehen, dass und wie aus der potentiell epidemischen Verbreitung durch radikale Vereinfachung und Senkung des Herstellungspreises sich zwangsläufig, man möchte fast sagen „automatisch“ unsere Umwelt verändert.
Denn eines ist sicher: mit oder ohne hinreichenden Daten-Schutz werden wir allein durch diese technologische Innovation recht bald in einem smart room, einer smart city and am Ende in einer smart world leben, in der alles und jeder überall jederzeit track- und trace-bar ist.
Damit langen wir wieder beim „Sonnenstaat des Horst Herold“ an, jener 70er Jahre Idee der Totalüberwachung durch automatisiertes Erkennen.
Im Kontext der Verfolgung der RAF hatte der spätere BKA-Präsident Herold die sogenannte negative Rasterfahndung erfunden, also ein Verfahren, die gesamte Bevölkerung, den ganzen von ihr produzierten Datenbestand anonym zu lesen, um am Ende einige wenige Auffälligkeiten wiederum mit Identifikatoren zu verbinden, die dann in einer Verhaftung der verdächtigen Datenproduzenten mündeten: eine Art digitales Aussieben.
Für die technische Möblierung der BRD als Sonnenstaat änderte der Gesetzgeber schon vor 50 Jahren das Notwendige passend ab, damit das Verketten von personenbezogenen Daten aus bisher streng getrennten Quellen künftig legal sei.
Schon damals bewirkte die Inszenierung einer angeblich ins Mark der Demokratie treffenden Bedrohung jene nachhaltige Veränderung der Gesetze: das Recht ist also ein flexibler Mantel für den staatlichen Willen, von Institutionen „gegeben“ und nicht natürlich geboren.
Wir gelangen mit der smart world am Ende auch notwendig in das Verfahren der ubiquitären Kontrolle von Konformität und Wohlverhalten, wie es der chinesischen Staat bereits mit seinem Sozialpunktesystem installiert hat. Das Vorhandensein von ausreichend Technologie für Totalüberwachung ist die einzige Voraussetzung und – wie wir am Beispiel China sehen – folgen Mentalität und Gesetz den technologischen Möglichkeiten dann schnell nach.
Wir stehen hier letztlich vor der Frage, ob in einer zunehmend komplexen Welt voller intrikater Systeme, die unseren Alltag regeln, Gesetze dazu verdammt sind, den Innovationen „hinterher“ zu regulieren und ihnen den Rahmen zu bieten für ihre Anwendung?
II. Schutz
Freiwillige Selbstkontrolle, beziehungsweise die geschickte Verführung dazu stellt uns vor eine rechtliche Problematik, mit der ich mich bereits vor exakt 20 Jahren intensiv beschäftigt habe: siehe mein Sachbuch „Demonen“ und den Artikel über die Unterhaut-Injektion von RFID aus meiner Reihe für die Süddeutsche Zeitung, Spür den Peer in Dir .
Was passiert, wenn die Kontrolltechnologien zum Gadget, zum begehrenswerten Körperschmuck werden, den die Menschen freiwillig oder im Namen vermeintlicher Freiheit oder beispielsweise zum Gesundheitsschutz anlegen?
Ich gebe ein Beispiel: 2004 wurde ein sechstklassiger Schauspieler und Mitwirkender in der spanischen Big Brother Serie „Gran Hermano“ über Nacht berühmt, weil er sich einen RFID implantieren ließ.
Der jüngst verstorbene Conrad Chase hatte eine gute Geschäftsidee: er zeigte der Welt, wie Party-Gäste halbnackt in seinem Club tanzen und wenn sie sich dem Tresen nähern, um ein Erfrischungsgetränk zu bestellen, sie keine VISA-Karte aus der Badehose fummeln müssen: der Körper des Kunden selbst, also eigentlich das Implantat in seinem Oberarm, wird gescannt und der Preis des Getränks von seinem Konto abgebucht.
Die Idee vom „intelligenten Reiskorn unter der Haut“ machte Furore: Clubgänger meldeten sich in Heerscharen, um sich das 1,2 mm dicke und 12 mm lange Röhrchen mit dem gerollten RFID spritzen zu lassen.
„Any privacy issues?“ wurde Chase gefragt? Er könne keine erkennen, man habe volle Kontrolle über seine ID.
Das preiswerte und weitgehend schmerzfreie Verfahren, das rund um 2004 nur in Hundeohren ausprobiert worden war, verbreitete sich rasant: Krankenkassen träumten schon von einer Komplettverchippung aller Versicherten, die damit täglich ihre Gesundheitswerte an den Versicherer melden sollten, auf dass der Beitrag „dynamisch“ der Gesundheit angepasst werde. In Mexiko, dem Land der Entführungen und Lösegelderpressungen, chippte die Regierung hohe Beamte und reiche Leute ihre Kinder. Es gab dann auch gleich die Reaktion der Gegenseite: die Entführer schnitten den Entführten erst einmal prophylaktisch den Oberarm auf, um sicher zu gehen, dass sie nicht verfolgt würden.
Seit Conrad Chase und seinen body modifications sind zwei Jahrzehnte vergangen. Alle technischen Devices sind kleiner, billiger, leistungsfähiger und mehr geworden. Insofern ist der druckbare RFID keine Überraschung. Jedenfalls nicht technologisch, nicht quantitativ, auch nicht wirtschaftlich.
Was sich jedoch radikal geändert hat, das ist das gesellschaftliche Klima, von dem solche Gadgets aufgenommen und verbreitet werden. Der qualitative Wandel hat fraglos mit der Corona-Pandemie eingesetzt. Das einmal in Bewegung gesetzte Rad dreht niemand mehr zurück. Praktisch Jedermann ist heute daran gewöhnt, vornehmlich aus egoistischen Motiven, zu seinem eigenen Schutz, alle möglichen Tracking-Tools auf seinem Handy aktiv zu schalten und andere, die für ihn eine Gefahr darstellen könnten, entsprechend derselben Sicherheitsversprechen als vermeintliche Gefährder zu verfolgen.
Tracking und Tracing hat fraglos bereits auf kurzer Strecke nachhaltig unser Verhalten verändert. Zu Zeiten, als ich „Demonen“ schrieb, nannte man das „mood management„. Heute heißt es „grammar of action“, die Alltagsdeformation des Verhaltens, die im Dreisprung dem „thread & response“ als „societal shift“ folgt, so wie wir ihn 2009 in dem bis heute bahnbrechenden Buch zur Ausstellung „embedded art“ präzise beschreiben haben.
Insoweit ist in unserer Tik-Tok-Welt beim täglichen Gerangel um die peinlichste Selbstentblößung die Chance gering, dass mit dem Verweis auf Intimssphäre, Privatleben, Integrität und Würde heutzutage irgendjemand etwas unternehmen oder ein wirksames Gesetz auf den Weg bringen würde gegen die Einführung eines preiswerten und effizienten Werkzeugs zur Massenkontrolle.
Was also nützt das beste Gesetz, wenn die Konsumenten es freiwillig unterlaufen, weil sie die von ihm reglementierte Technik für sexy oder sinnvoll halten?
III. Logik
Wir bewegen uns mit der Technologie RFID im Feld von Erkennen und finden – merken oder vergessen. Rechtliche Rahmenwerke können maximal regeln, ob und wie lange gemerkt, und wie nachhaltig vergessen wird. Wenn Mißbrauch für den Mißbrauchten schwer oder gar nicht mehr nachweisbar ist, sind gesetzliche Regelungen hinfällig. Überhaupt gilt: Wo dem Menschen per Gesetz erst einmal ein Recht zuerkannt werden muss, hat er es an sich schon weitgehend verloren.
Gedruckte RFID-Token gehören somit zwar zu den prinzipiell sozialschädlichen und umweltbelastenden Produkten, da sie bei hoher globaler Verbreitung durch die Maschen aller Regelwerke schlüpfen und gigantische Mengen Sondermüll produzieren. Sie sind Produkte der Wegwerfkultur, überflüssig nach dem Auslesen. Doch es ist nicht die Verschmutzung von Luft, Boden und Wasser, die uns die größte Sorge bereitet.
Viel größer ist die Gefahr, die von ihrem erkennungsdienstlichen Nutzen ausgeht, dem Potential, überall und jedem schnell angeheftet und quasi durch die Wand erkannt zu werden – wie eine chiplose Wanze. Damit solche Arten der Anwendung Erfolge erzielen, müssen Anwender zunächst notwendigerweise das rechtliche Rahmenwerk erodieren.
Denn eingeschränkte Totalüberwachung gibt es nicht.
Tracking und Tracing sind so gesehen die Muttermilch des Totalitarismus, mit der immer neue Angstobjekte groß gefüttert werden. Die Angstobjekte, das sind letztlich wir alle, weiche Ziele in einem harten technischen Visier.
Ziele sind – im militärisch-technischen Weltverständnis, das täglich zunehmend alle anderen Möglichkeiten von Weltverständnis verdrängt – Ziele sind dazu da, getroffen zu werden. Die kürzeste und genaueste Formulierung hierfür hat uns der Drohnenkrieg geliefert, jene Inkarnation von Tracking und Tracing im globalen Maßstab. Die 3F des Drohnenkriegs, find, fix and finish, sind das letzte höchste und vielleicht einzige Ziel aller Markierungs- und Verfolgungstechnologien. Solches Vorgehen – übrigens im Namen einer völlig frei erfunden Sicherheit, für die man nicht Orwell gelesen haben muss, um sie als Unsicherheit zu identifizieren – solches Vorgehen sollen wir nicht nur hinnehmbar, sondern wünschenswert finden: darauf stimmen uns all die Chips, Tags und Tokens ein, zu denen auch die gedruckten und massiv verbreiteten RFID gehören. Auf eine bestimmte Art ist die Schlacht ohnehin längst verloren, denn wir alle tragen freiwillig bereits Massen von RFIDs permanent in unseren Hosentaschen durch die Gegend: ein qualitativer Sprung ist durch druckbare Technologie kaum noch zu erwarten. Aber das Raster wird beständig dichter.
Es ist leider eine Frage der Logik, dass kein Dekret, kein Gesetz der Welt, so wasserdicht es auch formuliert sein mag, in der Lage sein kann, die fundamentale gesellschaftliche Störung zu heilen, die sich an solcher Technik zeigt. Denn die Logik, die das Problem erzeugt hat, kann es nicht wieder aus der Welt schaffen.
Heute veröffentlichen wir den 47. Essay seit Neugründung der Zeitschrift DIE AKTION im Jahr 2020. Der Psychoanalytiker, Sachbuchautor („Rechtsruck im 21. Jahrhundert„) und Hörbuchregisseur Andreas Peglau fragt in seinem neuesten Essay „Sein, Bewusstsein, Klassenbewusstsein“ nach grundlegenden, unsere Existenz im Kern berührenden Einstellungen, nach psychischen Dispositionen, die das herrschende Machtgefüge stützen. Erleben wir Unterjochung nur unbewusst? Sind wir bereits entdemokratisiert? Wie lautet die Ermutigung, die uns ermächtigt, praktische Konsequenzen zu ziehen und uns zusammenzuschließen?
Peglau erhebt, um diese Fragen beantworten zu können, zunächst vier Einwände gegen Marx und unternimmt dann im zweiten Teil des Essays den Versuch, mit Wilhelm Reich den laufenden „Krieg gegen die Köpfe“ zu gewinnen.
Peglau, mit dem wir auf diesem Blog bereits in den Beiträgen Wirklichkeitsspaltung und Emotionelle Pest Gedanken ausgetauscht haben, studierte von 1976 bis 1981 Klinische Psychologie an der Humboldt-Universität und war dort von 1981 bis 1984 stellvertretender Leiter des Zentralen FDJ-Studentenklubs. Von 1985 bis 1991 arbeitete er als Redakteur im DDR-Rundfunksender Jugendradio DT 64. Seit 1990 veröffentlichte er zahlreiche Beiträge zu psychosozialen Themen, Psychoanalysegeschichte und Wilhelm Reich. 2013 wurde er an der Berliner Charité Berlin promoviert mit dem Buch „Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“.
Die sogenannte „Ampel“ hat uns in kürzester Zeit in einen Abgrund gestürzt. Jetzt kommen die Falschen, um uns aus dem Loch zu fischen. Steuerprivilegien, Energiewende und Rechtsruck: was ist zu halten von den Bauernprotesten?
„Brandgeruch“ ist Teil 5 der „Aasgeier“- Reihe über Fragen der Landwirtschaft, Natur und Politik.
Teil 1: Lobpreis der Aasgeier Der Wald brennt. Die Oder stirbt. Die Felder um Berlin stinken. Windhosen legen gesunde Baumriesen nieder. “Klima-depressive” Experten geben uns fünf, maximal zehn “gute Jahre”.
Teil 2: Vergeudung Über die aktuelle Kreislaufkollapswirtschaft, die Rache, die wir an ihr üben müssen und über die Konspiration, das Zusammen-Atmen, den Kniff, in verpesteter Luft „einen gemeinsamen Geist zu teilen“.
Teil 3: Mein Leben als Idiot Die “Umweltbewegung der Reichen” (Peter Dauvergne) war und ist ein Desaster. Gegenwärtig versucht sie, uns in das Phantasma einzuspinnen, dass wir mit Superausbeutung im planetarischen Maßstab ruhig weitermachen können und trotzdem wird alles gut, solange es nur unter grüner Parteiobhut passiert.
Teil 4: Gründlich ruiniert Durch das „Notfallthema Bevorratung“ soll das deutsche Volk begreifen, dass die Lage ernst ist – und dass es „das richtige Handeln in der Notsituation“ sei, sich selbst zu helfen. Will die Regierung uns weiß machen, wir seien gründlich ruiniert, damit wir endgültig die Klappe halten?
I. Das Heu und der Igelkolben
19. Dezember 2023. Wir stehen. Stundenlang. Eigentlich sitzen wir: im Auto. Und zwar fest. Vor uns auf der Landstrasse durchs Wendland warten bei laufendem Motor zwei, drei, vier, fünf Kilometer LKW. Stoßstange an Stoßstange. Alles dicht. Dieselgeruch hängt in der Luft. Vermischt mit Brandgeruch von Feuern, die beängstigend nah am Strassenrand brennen. Riese Heuhaufen sind entzündet worden – über mehr als 20 Kilometer. Die Botschaft ist eindeutig. Erst verbrennen wir unser Futter, dann euch.
Auf einer Kreuzung im Wald südlich von Dannenberg blockieren 2,5 Millionen Euro Anschaffungspreis in Treckerform jeden Verkehr. Die 2,5 Millionen Euro Anschaffungspreis lassen den Motor laufen. Niegelnagelneue Traktoren. Keiner älter als zwei Jahre. Die Botschaft lautet: noch ist uns egal, was der Diesel kostet, den wir hier verballern. Aber wenn er teurer wird, schalten wir den Motor ab und lassen die 2,5 Millionen Euro Anschaffungspreis auf der Kreuzung stehen und ihr könnt sehen, wie ihr weiter kommt. Zukunft habt ihr in jeden Fall nur mit uns. Ohne uns ist der Ofen aus.
Die bedrohlichen Flammen, der Brandgeruch, die wortlose Wut der Proteste. Zwiespältige Gefühle beschleichen mich. Ich denke an die Wutbauern der niederländischen „Farmers Defense Force“, die militante Vorhut von Geert Wilders, die auch in Deutschland schon Anhänger hat.
Im Text zu dem Würstchen-Foto wird uns ein „Tsunami“ angekündigt, der dem „politischen Erdrutsch“ folgt: „Die niederländische Landwirtschaft und Fischerei sind zu wichtig, als dass sie der Klimahysterie und der Stickstoffrhetorik geopfert werden dürfen. Nach der Abrechnung am 22. November 23 werden wir wieder Volldampf geben!“
Volldampf? Ja klar, dafür braucht man jede Menge Sprit. Folgerichtig sind es immer wieder die Dieselpreise, die den Zorn auslösen. Ich denke an die „Barbecue Anti-Marcon“, das gemeinschaftliche Grillen auf französischen Kreiseln, das bisweilen an den Film Themroc erinnert: an das Schlachten und Rösten der politischen Feinde.
So schillernd das anarchische Spektakel, so schrecklich seine Folgen. Ein franzöischer Freund schreibt mir zum Jahreswechsel: „2024! Willkommen im Jahr von Jordan Bardella!“
Die Zeichen stehen in ganz Europa auf Sieg für die Faschisten.
Nicht nur im EU-Superbauern-Land: Orbán, Wilders und nun auch bald Frankreich in den Händen EU-erfahrener, alerter, wohl gebildeter Faschisten vom Typus Bardella?
Eine Ampel baumelt am Strick. Da denke ich natürlich an „Hängt Merkel“ und die adretten Mini-Galgen, die Pegida immer vorne weg trug. In jedem Fall sind die „Ährenmänner“ mit 2 km Treckern und LKW in 3 Reihen aufgelaufen: ca. 40 Millionen Anschaffungspreis. Arme Leute sind es nicht gerade, die hier zusammen gekommen sind, um für den Ausbau ihrer Gewinnmargen zu kämpfen. Und für das Privileg der Risikominimierung durch Subventionen.
Überhaupt wird mit Galgen nicht gegeizt. An einem hängt das Schild: „Stirbt der Bauer, stirbt das Land“. Ist das eine Drohung – analog zu den Feuern, die uns symbolisch sagen, dass wir alle brennen werden, wenn wir unsere Steuergelder nicht zur Rettung der Bauern einsetzen –, eine Drohung, dass immer, wenn ein Bauer stirbt, zehn von der Ampel hängen werden? Dass am Schluß wir alle ins Gras beißen, wenn erst einmal der große Zorn sich Bahn gebrochen hat? Weil keiner mehr leben soll, wenn es den Bauern schlecht geht?
Also voran, „Fuck Greta“ und nieder mit der Stickstoffrhethorik!
Man muss also nur auf Essen verzichten und kein Igelkolben sein, dann ist die Sache „unkritisch“.
Wussten sie eigentlich, wozu Glyphosat um diese Jahreszeit benutzt wird? Ja genau, der Großbauer spart damit Treckerarbeitsstunden beim Runterbringen der Winterdeckung, jener üblen, von der bösen Natur erzeugten Ackerverkrautung. Bei den Dieselpreisen ist jede Fahrt runinös. Da nützt auch wenig, dass man den Bulgaren hinter Lenkrad nur 6,50 € zahlt.
Symbolische Galgen, Brände, mit denen Tierfutter vernichtet wird, Todesdrohungen: das mag einer für schlecht gewählte, ungeschickte Kommunikation halten, die dennoch richtige Ziele hat. Ein anderer mag dahinter Mentalitäten vermuten, die nichts Gutes verheißen für die Zukunft von Europa, die Gesinnung der Menschen und die Grundlagen unserer Zivilisation.
Eins sollte man jedoch nicht vergessen: die Fehlgriffe in der Zeichensprache haben Tradtion. Bauern haben schon früher immer wieder mal höchst fragwürdige Formen für ihre Demonstrationen gewählt wie zum Beispiel das öffentliche Vernichten von Lebensmittel. Wenn der Preis, den sie dafür erzielen konnten, ihnen nicht passte, haben sie sie lieber auf die Straße gekippt. Ich habe das Bild zermalmter Tonnen von Gemüse oder Butter, weil es ein ständiger Begleiter meiner Kindheit war, nicht vergessen. Genauso wenig habe ich vergessen, welch klare solidarische Linie sie während der Castortransporte eingenommen haben. Ich bin aber sicher, dass es keine personellen Überschneidungen zwischen den beiden Gruppen Bauern gibt: die Castor blockieren und die, die Nahrungsmittel vernichten.
In jedem Fall, das dürfte unstrittig sein, geht es bei der der aktuellen Bauernrevolte um Geld.
II. Der Ährenmann und die Agroindustrie
Wer meint, ich würde es nicht wissen: es gibt große, sogar sehr große Bauern, die nach jüngsten statistischen Analysen im Jahr 150.000,00 € und mehr verdienen, es gibt aber auch mittlere und kleine Bauern, die runter bis ans Existenzminimum übrig haben: mit 1.500,00 € im Monat zurechtkommen müssen. Es gibt, sogar in Deutschland, Subsistenzbauern, die gar nichts mehr verkaufen, weil es nicht lohnt, aber auf dennoch höchst nachhaltige Weise sich und ihre gesamte Familie aus minimalem Landbesitz mit wenigen Einzeltieren ernähren. Ich habe einen davon zum Nachbarn. Ich rede gern mit ihm über die Unterschiede unter den Bauern.
43 k € sind vielleicht kein „Rekordgewinn„. Aber Bauernverband und „stern“ haben immerhin 45 Prozent Umsatzsteigerung im Betriebsergebnis gegenüber dem Wirtschaftsjahr 2021/2022 ausgemacht und nennen es (zu recht?) ein „Allzeithoch“.
Vor diesem privatwirtschaftlichen Hintergrund (wie gesagt: im Durchschnitt, nicht im Einzelfall) findet der Dieselpreisprotest statt.
Ich kenne das Stichwort „Höfesterben“ genauso gut, wie den „Energiebauern“, der seine Tiere nur zum Scheißen benutzt, damit die Gasanlage läuft und noch viele viele „Güllebomber“ aus ganz Mitteleuropa dazu bestellt, damit ihm der Füllstoff für seine Anlage nie ausgeht. Auch die Existenz von streng geführten Biohöfen ist mir bekannt. So unterschiedlich wie die gesamte Bevölkerung, so verschieden sind auch die Landwirte. Jeder wirtschaftet anders.
Wir reden über diejenigen, die mit jener erwähnten Zeichensprache protestieren. Über die, die Millionenkredite aufnehmen können und wollen. Die agroindustrielle Standorte mit hohem Fahrzeug-Einsatz entwickeln, um unter Zuhilfenahme vieler Tausend Speditionsfahrzeuge Gülle- und Gärrestbestände in weit entfernten Methangasanlagen zu verklappen und dazu mit Welt-Konzernen kooperieren, die „blühende Zukunften“ vor Augen haben und messerscharf „Transparenz, Vertrauen und Akzeptanz als Garanten“ für volle Taschen erkennen und daher das Ganze als die ersehnte „Energiewende“ verkaufen. Die endloses Wachstum und „land grabbing“ für legitime Methoden des „Überlebens“ halten – und die letztlich in jeder Branche arbeiten könnten, in der man mit Geschick, der nötigen Brutalität und mit dem sich-über-alles-Hinwegsetzen eine hübsche Stange Kohle machen kann. Und wir reden vor allem über diejenigen Landwirte, die eine Agentur zur Akquise von Fördermitteln beschäftigen.
Des weiteren macht es Sinn, die Bauern auch im Zusammenhang mit ihren Verbänden, den Brüsseler Lobbyisten, den Ministerien, den Geräteherstellern, mit den die sündhaft teuren Anschaffungen der Geräte finanzierenden Banken, also im Kontext des Systems zu sehen, das die Art Bauern aus ihnen macht, die ich zuvor beschrieben habe.
Während einerseits alles zum Großen und immer Größeren drängt, fragt sich angesichts an sich solider Zahlen bei gleichzeitig hoher Abhängigkeit von Subventionen, von politischen Richtungsvorgaben und den dafür nötigen Rieseninvestments, ob es bei dem Protest nicht doch um etwas anderes geht als kleine Einbußen durch erhöhte (für uns Bürger „normale“) Spritpreise?
Etwas, das viel beängstigender ist, als der Anstieg der Lebensmittelpreise oder drohende Masseninsolvenz der kleineren Betriebe, die unser Essen erzeugen.
Fürchtet mancher Bauer die Ampel, weil er fast die Hälfte (48,5 Prozent) seines Einkommens aus staatlichen Direktzahlungen und Zuschüssen erhält, die in Frage stehen, wenn man nicht den Typus Landwirtschaft führt, den die Regierung vorschreibt? Oder hasst man einfach grundsätzlich rot-grün, weil die widersinnigerweise immer noch als links-öko gelten und man selbst schwarzbraun ist?
Am Ur-Anfang der Bauernrevolte scheint mir die Eroberung des Bodens durch das Kapital zu stehen. Die Aneignung von Grund und Boden zählt zu den wesentlichen Kapiteln der Geschichte des Kapitalismus. Doch wer dahinter nicht lebendige Menschen denken, handeln und kämpfen sieht, verkennt den Charakter sozialer und politischer Auseinandersetzung. Aber überraschend: Die vermutliche Mehrzahl der Bauern, die heute für ihre Steuerprivilegien und den Austausch der Regierung kämpfen, sind keine entrechteten Armen, denen das Wasser bis zum Hals steht.
Sie sagen: Deutschland soll lieber in Flammen aufgehen, ehe es in falschen Hände bleibt. Keine Frage: der konservative Block macht mobil.
III. Der Bauer und die Bombe
Ich schreibe diesen Text und denke darüber nach, ob mein Verdacht paranoid ist, statt des Kampfes um gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen ginge es beim aktuellen Bauernprotest vielleicht schlicht um den europaweiten Rechtsruck und wer ihn in Deutschland in Szene setzen könnte.
Da erreicht mich etwas, das ich ansonsten geflissentlich ignoriere: nämlich eine Email mit einem hineinkopierten sog. „facebook post“, noch dazu von einer Gruppe, deren Ziele ich nicht kenne. Er kommt von Noh8, die androhen „we´re watching you!“
Ich lese: „Seit Monaten hetzen CDU/CSU mit Unterstützung der Springer-Medien massiv gegen die Ampel und im speziellen gegen die Grünen. Diese Hetze spiegelt sich in den Bauernprotesten haargenau wieder. Keiner von denen erwähnt auch nur im Ansatz die CDU oder die CSU. Man liest immer nur von den Grünen oder der Ampel. Doch schauen wir mal, wer in den letzten Jahren die Landwirtschaftsminister stellte: • 2005 – 2008 Horst Seehofer CSU • 2008 – 2013 Ilse Aigner CSU • 2013 – 2014 Hans-Peter Friedrich CSU • 2014 – 2018 Christian Schmidt CSU • 2018 – 2021 Julia Klöckner CDU. Erst ab 2021 übernahmen die Grünen (Cem Özdemir) dieses Amt. Und jetzt sollen sie an allem Schuld sein?
Allein in der Amtszeit von Julia Klöckner haben 11.000 Höfe aufgegeben. Nie war die Lobbyverbindung zur Agrarindustrie größer (siehe Nestlé). Im Bundestag haben CDU und CSU vor drei Wochen für die Abschaffung des Agrardiesel gestimmt.“
Ist das Wahn der offenbar pro-Grünen nohateonfacebook? Die CDU/CSU stimmt also gegen ihre eigenen Interessen, um die „Ampel“ fertig zu machen? Oder ist es Einsicht in eine perfide politische Strategie? Bin schließlich doch fasziniert von der Kongruenz in der Schlußfolgerung:
„Die zentrale Figur im Deutschen Bauernverband Präsident Joachim Rukwied, selbst Mitglied der CDU, besetzt mindestens 18 wichtige Posten in der Agrar- und Finanzwirtschaft und zahlreichen Verbänden, darunter in den Aufsichts- und Verwaltungsräten der BayWa AG, Südzucker AG, Land-Data GmbH, R+V Allgemeine Versicherung AG, Messe Berlin (Grüne Woche) und der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW).
Bereits 2019 hatte der NABU in einer vielbeachteten Studie schonunglos das geheime Netzwerk der Agrarindustrie rund um Joachim Rukwied offengelegt.
Wer hat denn bereits im vergangenen Jahr, verstärkt in den letzten Monaten, Neuwahlen gefordert? Neben der AfD waren es die CDU und CSU. Federführend dabei Friedrich Merz und Markus Söder. Merz sagte sinngemäß, 2024 kann sich die Ampel warm anziehen. Und gleich Anfang des neuen Jahres tauchen, bildgewaltig in Szene gesetzt, die Bauern mit ihren monströsen Traktoren auf.„
In Hans Falladas zuvor erwähntem, nicht ganz zufällig 1931 erschienenen Roman „Bauern, Bonzen, Bomben“ boykottiert die Bauernschaft in der fiktiven mecklenburgischen Stadt Altholm fast ein Jahr lang das Wirtschaftsleben, hetzt Deutschnationale gegen Sozis auf. Wer gewonnen hat, weiß jeder von uns aus den Geschichtsbüchern.
Wir freuen uns, dass unsere Kooperation mit der NBIZ (Neue Berliner Illustrierte Zeitung) am 06.01.2024 positiv von Mark Siemons in der FAZ besprochen wurde und im Artikel prominent gleich zwei Beiträge aus unserer Produktion Erwähnung finden.
Das ist ein guter Start ins Neue Jahr! Möge es so weitergehen. Wir wünschen der NBIZ viel Erfolg für die Nummer 1, die wohl im April 2024 auf dem Markt sein sollte!
Wir können nur sagen: wenn es nach uns ginge, würde auch weiterhin wenig Anlass zu einer „Konzession an die Mitte“ bestehen, denn es schadet nichts, die „Härten der Gegenwart“ weiter im „Zwielicht früherer Utopien“ zu betrachten. Doch wir versprechen zugleich, weiter intensiv an künftigen Utopien zu arbeiten!
Wollen Plattformkapitalisten mit dem Supergehirn „AGI“ eine „böse Basis bauen“ oder retten sie die Welt mit künstlicher Intelligenz?
Es gibt aber auch einen Geist, der widermenschlich ist: sein Merkmal ist wohl orientierte Überlegenheit. Max Horkheimer, Gegen Bescheidwissen in: Aufzeichnungen Entwürfe, Dialektik der Aufklärung
Als Neujahrsgruß erhielt ich von meinem Onkel (87 Jahre alt) einen Brief. Er macht sich Sorgen um unsere Zukunft. Seine Frage an mich: ob sich „unser Gehirn selbständig macht“ (mittels eines künstlichen Zusatzgehirns)? Im Anhang des Briefes befand sich ein am 03.11.2023 in der Schweizer BAZ erschienenes Interview mit dem „Genie Demis Hassabis“. Der Supergehirnmensch und selbsternannte Heilsbringer Hassabis, Erfinder und Mitgründer von Google Deepmind, behauptet, dass wir zerknitterten und ihre Ressourcen nicht anständig nutzenden Menschen erst mittels seiner AGI „zur vollen Entfaltung“ gelangen können.
Das Thema „AGI“ verlangt täglich mehr nach intensiver Beschäftigung. Kommunikation, autonomes Fahren und Fliegen, autonome Waffen, Erschließung futuristischer Energiequellen. Eine Welt ohne künstliche Intelligenz scheint kaum noch vorstellbar.
Trotzdem scheint mir die Frage, ob sich „unser Gehirn selbständig macht“ zu „technisch“ gedacht. Auch die von den Autoren des Textes aufgeworfene zentrale Frage, ob das Zusatzgehirn uns bald überflügelt, ist nicht ganz treffend. Meines Erachtens kommt es auf etwas Anderes an. Nicht darauf, was technisch „möglich“ ist oder wozu es bestenfalls dienen könnte, sondern wozu es am Ende wirklich benutzt wird.
Es ist zu ahnen, dass das, was meinen Onkel umtreibt, jene Mischung aus Faszination und Furcht ist, die uns alle befällt angesichts solch vollmundiger Versprechen, wie Hassabis sie pausenlos gibt. Zu fragen wäre daher, wie ehrlich dieser Mann es mit uns meint, wenn er, den Ehrendoktortitel der Lausanner Universität EPFL frisch in der Tasche und eilig unterwegs zu einem „experimentellen Kernfusionsreaktor“, schnell noch ein philanthropisch gefärbtes Interview gibt.
Es ist an meiner sarkastischen Formulierung ablesbar, dass ich dem Mann nicht über den Weg traue, der sich da in Lausanne hinter ein von Rolex gesponsertes Rednerpult stellt und die Rettung der Menschheit durch Software propagiert.
Trotz großer Lust auf eine ätzende Replik möchte ich meinem Onkel so präzise wie möglich antworten, zunächst mit sieben Vermutungen. Zum Schluß einiges zur Person Hassabis, das der BAZ-Artikel unerwähnt lässt.
Vermutung 1
Hassabis hat einen schweren Ramon-Llull-Komplex. Es reicht ihm nicht, halbe Milliarden mit Softwareverkäufen zu verdienen. Er will gleich Weltfragen klären. Llull (1232- 1316) suchte mit der „ars magna“, seiner „famosen Argumentationsmaschine“ und den auf ihr notierten Begriffen wie Mensch, Wissen, Wahrheit, Ruhm, Wohl, Quantität, logische Operation, Unterschied, Übereinstimmung, Widerspruch und Gleichheit das Rätsel der göttlichen Schöpfung mathematisch zu lösen – mithilfe einer aus Scheiben bestehenden Maschine, einer dreiteiligen Drehscheibe, die diese Begriffe in Bezug setzen konnte. Deswegen gilt Llull heute als Ur-Erfinder des Computers. Die „mechanische Unterstützung“ ist aus einem Minderwertigkeitsgefühl entstanden: jüdische und arabische Argumentation schienen ihm der christlichen so derart weit überlegen, dass es mit diesem technischen Trick versuchte. Es ist trotz des massiven Einflusses von Llull auf die Denker, Künstler, Architekten und Komponisten folgender Jahrhunderte sicher nicht sein Verdienst, dass am Ende das Christentum in der westlichen Welt obsiegte, aber sein Ziel war es schon, die Superiorität des Westens unter Beweis zu stellen und Koran und Tanach zu widerlegen.
In ähnliche Richtung arbeitet Hassidis, nur dass er sich wenig für Religion und mehr für Übermacht interessiert.
Seine AGI (die generelle allumfassende künstliche Superintelligenz), die bislang größte Zauberei des kapitalistischen Forschungsbetriebes, scheint mir eine neue „ars magna“ sein zu wollen. Das ist nicht gänzlich überraschend, denn jede Erfindung beruht auf einer früheren. Aber weder die Kombinatorik der „ars magna“ konnte die Welt verändern, noch wird es die AGI tun. Veränderungen bringen allein die Männer hinter der Drehscheibe / an den Knöpfen der AGI auf den Weg. Auch Vernichtung ist ein Typus der Veränderung. Wenn auch wahrscheinlich der radikalste.
Vermutung 2
AGI ist als typische Gottesmaschine eine Idee von Weltrettung, nicht deren Praxis. Die Anwendung und die Wirkung sind von ihr zunächst nicht bestimmt. Doch die Stichworte, die Hassabis gibt – auf Seite 11 des Interviews in der BAZ lese ich einiges zu den Wundern, die AGI im Bereich Gesundheit, Energie und Leben auf anderen Sternen bewirken soll – sprechen eine deutliche Sprache. Nicht von ungefähr steht gleich neben der Bekämpfung von Seuchen und einer Kernverschmelzung, die mehr Energie abwirft als kostet und frühestens ab 2050 einsatzbereit seit dürfte, die Raumfahrt. Raumfahrt ist eine typisch kapitalistische Idee. Wir haben unsere Welt ruiniert, lasst sie uns wegwerfen und in die Erfindung einer neuen Welt jenseits des Mondes investieren!
Das scheint mir aus dem Logbuch von Hassabis´ bestem Kumpel und reichsten Weltbürger Elon Musk abgeschrieben. Sie verkennen aber beide (oder lassen uns vorsätzlich im Unklaren darüber), dass Probleme, die aus Technikeinsatz entstanden sind, sich nicht mit Technik reparieren lassen. Es ist ganz eindeutig ein falsches Versprechen, dass das funktioniert. Denn die jedem technischen Werkzeug immanente Katastrophe wäre nach einem (technischen) Reparaturversuch (der Technikfolgeschäden) nicht nur nicht aufgehoben, sondern würde verstärkt. Das Auto ist dafür ein Paradebeispiel: oder glaubt irgendjemand, dass die CO2-Probleme der Biosphäre tatsächlich durch E-Autos gefixt werden können? Das so zu sehen, ist keine Meinung, sondern eine Frage der Logik. Aus ihr folgt keineswegs der Schluss, es ginge alles gut, wenn der Technikeinsatz nur hinreichend „technikgerecht“ wäre.
Vermutung 3
Der von Hassabis gezogene Schluß, dass es möglich sei, mit einer Maschine jedes Problem der Welt zu lösen, weil sich ja gezeigt habe, dass seine Maschine selbst die besten Schach- und Go-Spieler der Welt geschlagen hätte (was für unmöglich gehalten wurde, weil hierfür Intuition und Strategie nötig seien, zwei exklusiv menschliche Eigenschaften), ist falsch. Die Erde ist kein Brettspiel, sondern operatives Feld für militärische, wirtschaftliche und ideologische Schachzüge von höchster Perfidie. Die von Hassabis stets als Leistung der AGI benannte Lösung des Proteinfaltungsproblems ist – wie die Autoren des Interviews-Beitrags zurecht sagen – elementarer Teil einer „Verkaufspräsentation“ und ein Witz gegen die Tatsache, dass Jahrhunderte der Ausbeutung genau jene Probleme wie Seuchen, Energiemangel und Elend für viele und Reichtum für wenige erzeugt hat. AGI soll helfen, dass wir „für immer“ so weitermachen können, wie jetzt und nichts ändern müssen an unserem Verhalten, unserer Beziehung zu Mitmenschen und zur Natur. AGI baut bestehende Machtverhältnisse aus.
Vermutung 4
Auf Seite 12 des Interviews lese ich mit Unbehagen etwas von einem „ultimativen Werkzeug“. Abgesehen davon, dass ich bei „ultimativ“ sofort „das letzte (und dann Feierabend)“ lese, scheint mir der Hasibissche Slogan von einer „neuen Aufklärung“ wenige Zeilen später verräterisch: es geht um Herrschaftsverhältnisse, um Macht.
Angesichts aus dem Ruder laufender Technologie geht es nicht um (immer höhere) Rechenleistung, um mit ihr die Probleme des „aus dem Ruder Laufens“ zu beherrschen. Angesichts aus dem Ruder laufender Technologie geht um Ethik und die die Anerkennung von Grenzen. Ethisches Operieren aber ist statistisch nicht erfassbar. Der Konflikt ist vorprogrammiert. In der Arena stehen unsere übergroß aufgeblasenen „Bedürfnisse“ den „ultimativen“ Apparaten gegenüber und kämpfen um absolute Befriedigung – auf Sand, der im Boden verschwindet.
Vermutung 5
Die Frage nach einer effizienten Kontrolle der AGI, so sie einmal „lebt“ (Hassabis „Sorge“ auf Seite 13 und 14, 2. Spalte), zeigt, dass sie: a) brandgefährlich b) furchterregend c) potentiell, insbesondere in falschen Händen, nicht kontrollierbar ist. Wenn nämlich die AGI wirklich ein so tolles, humanitäres, den Menschheitsuntergang verhinderndes, universelles Rettungswerkzeug wäre, warum fürchtet der Urheber dann das autonome Agieren der Maschine?
Ausserdem scheint mir diese Sorge der letzte Schritt vor der endgültigen Implementierung zu sein. So war es bei der Nanotechnologie (viel Gerede um eine effiziente Kontrolleinrichtung – was ist davon geblieben?). So war es bei der Entführung von mRNA (die Kontrollbehörden für die Neueinführung von Medikamenten auf der ganzen Welt haben den Validierungsprozeß den Herstellern überlassen. Interessenkonflikte? Keine!) Die endgültigen Implementierung und Massenanwendung gelingt natürlich am besten, wenn man allen Entscheidungsträgern und den interessierten Kreisen aus Wissenschaft und Mittelstand klar macht, dass sie sich keine Sorge machen müssen. Wer bei diesem Satz seine Pistole nicht entsichert, hat seinen Untergang bereits verschlafen. Wenn er aufwacht, sind seine Taschen leer und er ist dankbar, nicht tot zu sein. Mit dem Rest arrangiert man sich schon!
Vermutung 6
Auf Seite 14 des Interviews fällt im Zusammenhang mit der Beschreibung der Treffen mit anderen „Leitern von AI-Organisationen“ der Begriff „Wettbewerb“. Wer es bis dahin nicht kapiert hat, wird hier mit dem Holzhammer belehrt: AGI ist ganz einfach ein Geschäft, die derzeit dickste Sau, die durch das Dorf getrieben wird, bis ein neuer Hassabis eine dickere gefunden hat. Kapitalistischer Wettbewerb hat seine Regeln. Sie sind brutal, nicht ethisch.
Vermutung 7
Auf Seite 15, letzte Spalte, ist Hassabis wahrscheinlich die Konzentration flöten gegangen oder er hält uns alle für total verblödet Seit wann kann denn „niemand ohne Smartphone leben“? Es gibt den schönen Witz, der sich von Elvis Presleys Platte „50 Million Fans…“ ableitet: auf einer Comic-Zeichnung liegt ein dicker fetter frischer Haufen stinkender Scheiße. Daneben steht: „50 million flies can´t be wrong!“ Das wir „von Technologie abhängig“ sind, hat Hassabis messerscharf erkannt. Aber er (und seinesgleichen) sind die Dealer, die uns abhängig gemacht haben. Der Entzug mag schmerzhaft werden. Aber tot sind wir deswegen noch lange nicht.
Zum Schluss noch zwei biographische Links. Was macht Hassabis eigentlich den ganzen Tag lang, seit er Milliardär ist nach dem Verkauf seiner besten Firma? Na? Klar! Er trifft sich mit anderen Milliardären und denkt sich die Rettung der Welt aus. Rettung? Vor Leuten wie ihm?
Wir wissen etwas von Hassabis´ täglicher Agenda: er arbeitet derzeit als Regierungsberater der Milliardärs-geleiteten Regierung Großbritanniens. Versuchen Sie sich vorzustellen, dass er in diesen Kreisen vor dem ungezügelten Einsatz von AGI warnt und sich dafür stark macht, den Umsatz mit seinem Produkt google-deepmind zu begrenzen: gelingt Ihnen diese Phantasie, dann hat Hassabis erfolgreich Promotion betrieben hinter seinem Rolex-Pult.
Die unersättlichen und auf ewiges Wachstum geeichten Plattformmilliardäre handeln mit der Ware Wissen, aber sie wissen nichtm wann sie damit aufhören sollten. Grenzen sind für sie Herausforderungen. Sie dienen dazu überwunden zu werden. Sie berauschen sich daran, auf die andere Seite der Grenze zu gelangen: aus einem recht männlichen Prinzip. So bleiben sie ewig jung. Daher vermutlich auch ihre Affinität zu schier unlösbaren Spielen. Wie die Kinder ruhen sie nicht eher, als bis sie alle knacken – und nennen es Weltrettung.
Doch zurück zum Berufsleben von Hassabis. Seit Juni 2023 ist er, zusammen mit seinem Milliardärsfreund & Chef der Alphabet-Holding Sundar Pichai, Mittäter beim weltgrößten Militärdienstleistungsanbieter Google.
Warum gründet man eine Holding? Genau! Um die Menschheit vor Krise, Krankheit, Hunger, Wucher, Energiemangel und Ungerechtigkeit zu schützen! Das klingt schon ein wenig nach Kirchenvater: Ramon Hassabis, Kardinal der voll entfalteten Menschheit! Reich sind sie, die Menschheitsretter, aber eitel auch.
Letzte Frage: Warum hostet ein nicht gerade kleines Mitglied der Alphabet-Dachgesellschaft (nämlich Google LLC) die kritischen Militärdaten aus aller Welt? Genau! Um unsere Sicherheit zu garantieren! Mit autonomen Waffen, die ohne AI nicht arbeiten können.
Die „Ritter der digitalen Tafelrunde“ (SZ) sitzen zusammen und martern sich die Gehirne, wie sie uns helfen können – wahrscheinlich nicht ganz umsonst: es geht mindestens um den Preis der Weltherrschaft! Das ist nicht spintisiert: Hassabis hat schon vor zwanzig Jahren ein Spiel zur Erringung der Weltherrschaft erdacht. Es heisst „Evil Genius“.
Mit solchen Spielen trainiert Hassabis die AGI. Seit seiner „Kern“-Fusion mit Google hat sie das Potential, mächtig Energie zu produzieren. In „Evil Genius“ hieße das, die „böse Basis bauen“. Die Ritter der digitalen Tafelrunde denken groß und riskieren viel. Sie schmeißen alles Wissen in eine Maschine. Das klingt nicht zufällig nach Schöpfung – und ein bisschen nach Wahn.
Meinem Onkel antworte ich daher: Es ist nicht unser Gehirn, das sich selbständig macht. Es ist der Plattformkapitalismus. Er dreht immer freier – bis zum totalen Sieg.
Dank an Evelyna, Michael und Janneke für Hinweise und Rat!
Nach Corona zu erklären, wer Brüggemann ist, erübrigt sich wohl. Denn entweder man hasst oder achtet ihn, spätestens seit #allesdichtmachen: für beide emotionalen Beziehungen dürfte sein bodenloser, entlarvender Zynismus der Grund sein (das Exlexikon und Onlineportal zur Ächtung unerwünschter Ansichten, wikipedia.org, listet das Projekt stilecht als „Kontroverse“ ) Oder man verehrt ihn bedingungslos, seit man „Materialermüdung“ atemlos in einem Rutsch durchgelesen hat. So schmerzhaft wie seine Kritik ist, so brachial ist sein Humor, diese in der Gegenwartsliteratur quasi ausgestorbene Begabung, schonungslos zu sein, ohne zu deprimieren.
Fassungslos und höchst amüsiert zugleich beobachten wir in SIE SAGEN ES WIRKLICH mit den Augen des Filmemachers eine Familie unter Einfluß.
Brüggemanns Sätze dringen in den Körper der Sippe wie Instrumente der endoskopischen Chirurgie, minimalinvasiv und dennoch voll ins Mark treffend: ein schonungsloser Trip in den Hohlraum der Verwandschaft. So gelingt ihm die lang überfällige Ablösung für Heinrich Bölls „Nicht nur zur Weihnachtszeit“.
Der Autor treibt vorsätzlich gefährlichen Umgang mit Vorurteilen: er verhohnepiepelt Einstellungen, die in jüngster Zeit als unantastbar gelten. Er zeigt damit in aller Schärfe, warum er auf das politische Sakrileg abonniert zu sein scheint – weil es nämlich die einzige brauchbare Technik ist, die Ungeheuerlichkeiten aktueller Meinungsbildung als das zu entlarven, was sie sind: Denkverbote.
So gelingt ihm ein Kleinod der Klischee-Verarschung. Wobei das Klischee trüberweise ziemlich nah an der Realität klebt. Das macht insbesondere die Passage über den Nachbarn unter AfD-Verdacht klar. Unwillkürlich fragt sich der Leser, ob nicht schon seit geraumer Zeit Ram Charger Pickups serienmäßig mit einem „Fuck Greta“-Aufkleber ausgestattet sind?
Erst dadurch, dass Brüggemann weder den vermeintlich inkorrekten Witz scheut, noch sich von sauertöpfischem „Ticket“-Denken (Hendrik Wallat) einfangen lässt – jener blinden Meinungsgefolgschaft, hinter der sich alle, die schon gratis, ohne es je versucht zu haben, eine abweichende Meinung zu formulieren, aus Angst vor dem Shitstorm verbergen –, öffnet sich der Blick in den Abgrund, der seit Böll alljährlich mit Bergen von Gänsekeulen und Spekulatius verfüllt wird.
Das schön gestaltete und reich bebilderte Buch SEEK ist jüngst bei Spector Books Leipzig erschienen – was jedoch die Leser nur hier bei uns finden, ist dieser Essay, der exklusiv für DIE AKTION um ein neues Schluß-Kapitel erweitert wurde.
Dammbeck geht anhand einer bahnbrechenden Kunstausstellung (SOFTWARE, 1970) der Frage nach, ob nicht Kybernetik und alle mit ihr verknüpften Technologien, mit denen wir heute unser Leben organisieren, notwendig in „Kontroll- und Steuerungswahn“ münden, mit dessen Hilfe unsere als „offen“ propagierten westlichen Gesellschaften notwendigerweise „autoritär“ enden.
Die Entblößung der Kybernetik als Herrschaftstechnologie ist nicht neu. Schon das 2007 erschienene und von unserem bis heute unvergessenen Freund und Mitstreiter Ronald Voullié (1952-2020) kongenial übersetzte „Kybernetik und Revolte“ der französischen Autonomen-Gruppe Tiqqun geht der Frage auf den Grund, wie weit der „kybernetische Kapitalismus“ bereits die beherrschende Ideologie des Westens geworden ist und welche Mittel der Revolte dagegen möglich sind. Der Wunsch nach Ordnung und Gewissheit, so argumentieren Tiqqun, zeige die Verwandtschaft zum Totalitarismus. „Der kybernetische Kapitalismus entwickelte sich, um es dem vom Kapital verwüsteten Gesellschaftskörper zu ermöglichen, sich zu reformieren und sich für einen weiteren Zyklus dem Akkumulationsprozess zur Verfügung zu stellen“.
Dammbeck weitet in seinem Essay diesen Ansatz gleich in zwei Richtungen auf: zum einen konstatiert er, dass der Fokus seines Buches SEEK zu sehr auf dem Westen läge. „Warum fanden im Osten die Ideen von Kybernetik, Systemtheorie, Psychoanalyse oder Sozialwissenschaft zwar eine Anwendung, zum Teil sogar früher als im Westen, konnten aber nie zu einem so wirkungsmächtigen Faktor werden wie im Westen?“ Eine Frage, die es in aller Genauigkeit noch zu beantworten gilt!
Zum anderen identifiziert Dammbeck dankenswerterweise einen oft übersehenen Aspekt der Kybernetik, von Software und der von ihr propellierten „künftigen Lebensform“, als Ausdruck des ihr immanenten Ekels vor dem Lebendigen. So führen „die Glorifizierung der Technik, die Ökonomisierung des Lebens und der Wille zur Unterwerfung der Natur“ schließlich zu jenen horriblen Chimären, die uns heute befallen und quälen. Die Faszination für Biogenetik, Biochemie oder Genetic Engineering und andere kalte glatte abstrakte Technologien entpuppe sich als lebensfeindliche Männerphantasie, die zwangsläufig wie ein Golem operiere.
Nachdem wir in den beiden letzten Beiträgen, „Gift„, und „Das imperiale Ego“ – und in jenen Thesen von „Wie alles anfing„, die sich mit den „Arschlöchern“ befassen, ein wenig Mentalitätsforschung betrieben haben und uns mit dem günstigen Wachstumsklima für gemeingefährliche, zerstörerische und zersetzend wirkende Charaktere befassten, richten wir heute unserem Blick auf die sich daraus ergebenden Herrschafts-Strukturen und Machtverhältnisse in Wissenschaft und Forschung.
Warum keine davon tatsächlich realisiert wird, ergibt sich unseres Erachtens nicht allein aus radikaler Spezialisierung, also aus einem für unsere Kultur typischen Anti-Universalismus, der vielfach Vernunft verhindert, sondern aus der Analyse des destruktiven Charakters, der die Durchsetzung seiner Ziel immer (und völlig unnötigerweise) zum Schaden Andersdenkender betreibt.
Wie sollte ein Wissenschaftler, der unter dem Eindruck vollständiger Monetarisierung seines Arbeitsbereiches steht, und mit Tricks, Ausbootung der Konkurrenz und Ellbogen sich seine Drittmittel und Forschungsetats beschafft, in der Lage sein, „frei“ arbeiten und unabhängig forschen zu können? Müsste er nicht zunächst bis zu seinem tief verschütteten guten biologischen Kern (Wilhelm Reich) vordringen, um sich selbst in seiner Rolle, in seiner Funktion innerhalb der Expertokratie erkennen und aus ihr austreten zu können?
Stellen Sie sich einen vollständig aktiven, das Verhalten bestimmenden guten biologischen Kern vor. Er strebt nach Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Mit anderen Worten: nach Humanismus. Nach Mitgefühl. Fairness. Schutz der Schwächeren. Viele Verhaltensweisen und Ziele, die heute ohne jede kritische Befragung durchgehen als „normal“, würden sich aus der Perspektive eines voll aktiven gesunden biologischen Kerns von vornherein verbieten: als sozialschädlich, ausbeuterisch, egomanisch, insgesamt also rücksichtslos und von dem Wunsch nach dem größtmöglichen eigenen Vorteil bestimmt, von Profitmaximierung und von dem Streben nach persönlichen unbegrenzten Reichtum getrieben.
Beständig wird von komplexen Strukturen und harten Bedingungen geredet, so als seien diese naturgegeben. Was aber davon ist nicht Menschen-gemacht?
Die wirtschaftliche Ausbeutung von Wissen und seine (durch Lizenzen und Patente erzeugte) Privatisierung gehorcht den gleichen Gesetzen wie die kapitalistische Ausbeutung von Menschen und Natur. Während alles Wissen der Weltgemeinschaft gehören und zur freien Verfügung stehen sollte, ist der Zugang faktisch hierarchisiert und an Geld gekoppelt. Sradj und Sosna benutzen hierfür den Begriff „Herrschaftswissen“. Ihr Hinweis auf Jason W. Moore und sein Konzept der „4 cheaps“ (billigste oder kostenlose Arbeitskraft, billiger oder kostenloser Zugriff auf Nahrungsmittel, Energie und Rohmaterial) macht deutlich,dass Kapitalismus nur funktioniert, weil die wesentlichen Ressourcen von Konzernen unbezahlt angeeignet und genutzt werden. Insofern, so argumentieren Sradj und Sosna, könnte man Wissen als das 5th cheap ansehen. In der Vorbereitung der Publikation der 10 Thesen zur Weltauffassung im 21. Jahrhundert haben wir mit dem Autor diskutiert, ob nicht beispielsweise die gerade hinter uns liegende Impfkampagne hier als Beispiel für destruktive Expertokratie firmieren müsste. Wir haben gesehen, wie aus dem Nichts unbekannte Personen aus vergleichsweise engen, esoterischen Feldern des Wissens (Epidemiologie, Infektiologie) an die Spitze von Staaten aufrückten und Alltag und Leben der Menschen mit drastischen, wie wir heute wissen: wenig fundierten, invaliden wissenschaftlichen oder als wissenschaftlich vermarkteten Einsichten bestimmten, von denen nur eines sofort sichtbar war, dass sie trotz mangelnder Validität Milliardenumsätze generieren (Kontaktverbot–Lieferservice; Zugangsbeschränkung–PCR Test, um nur kurz zwei Beispiele zu nennen) Sradj und Sosna haben gute Argumente, um das Thema auszusparen. Sie sagen (Zitat aus der Emailkorrespondenz mit den Autoren): „Weil eben genau diese Art von betriebswirtschaftlich befeuerter Schädigung von Natur und Menschheit, die von der Expertokratie abgesegnet wird, ein alter Hut ist. Der sogenannte Corona-Impfstoff – oder wie man das auch immer nennen mag –, ist sicher die kapitalistisch-evolutionäre Spitze einer Abfolge bewusster oder zumindest in Kauf genommener rücksichtsloser Schädigungen und der Vernichtung von Leben, aber eben nicht neu. Die Liste ist endlos: Feinstaub, Contergan, Uranmunition im Irak und auf dem Balkan, Glyphosat, der bewusst aufrechterhaltene Hunger in der Welt, der täglich 30.000 Leben dahinrafft, 110.000 Drogentote in den USA usw. usw. usw. Und weil ein Aufreger den nächsten jagt, und dabei aber der Kern der Sache durch die Emotionen verdeckt wird, nehmen wir dramatische Vorfälle der Vergangenheit als sachliche Beispiele und lösen uns bewusst aus der Aufregung der Gegenwart. Ich möchte allerdings betonen, dass die vorgestellten Lösungen weder im Parlamentarismus zu finden sind, noch vor irgendeinem „Experten-Gericht“ eingeklagt werden können oder gar den Institutionen oder dem organisatorischen Überbau entspringen. Entweder wenden sich die Menschen vom System ab – mit allen Konsequenzen – oder der Mutter aller Veränderungen, Gewalt, wird das Zepter via Ausnahmestaat in die Hand gedrückt. Wenn das passiert, und bis dahin keine Weltsicht verankert wurde, die an die Stelle nationaler und ökonomischer Ideologien rückt, (könnte es passieren, dass) die Gesellschaften in einen anomischen Bürgerkrieg stürzen.“
Der Psychologe, Soziologe und Sportwissenschaftler Sosna, einigen Lesern sicher vertraut durch seine Mitarbeit an den online-Magazinen „Neue Debatte“ und „Rubikon“, arbeitete einige Jahre als Handballtrainer und Journalist, bevor er in der Unternehmenskommunikation und Werbung tätig wurde. Er ist Initiator einer Zukunftskonferenz, die 2021 und 2022 unter dem Slogan «Weil es anders geht» in Wien stattfand. Sein Interesse gilt der Militarisierung, dem gesellschaftlichen Wandel und den destruktiven Auswirkungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems auf Natur und Menschheit. Gemeinsam mit dem Facharzt für Augenheilkunde, Wissenschaftstheoretiker und Entwickler medizinischer Geräte Nadim Sradj, dessen Arbeit ihm durch Mitarbeit in zahlreichen europäischen und internationalen Fachorganisationen und der American Association of the Advancement of Science 1995 einen Eintrag im „Who is who in the World“ sicherte, hat Sosna im November 2023 das vorliegende Manifest entwickelt.
Wer durch Verbreitung oder/und Unterzeichnung des Manifestes, bzw. durch konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Thesen und ihrer Umsetzung in der Praxis beitragen möchte, soll sich gern per Email GlobalScience21@protonmail.com an die Autoren wenden.
Der Text erscheint hier zuerst auf Deutsch – noch vor der französischen Originalfassung. Moses Dobruška entlehnt sein Pseudonym bei einem böhmisch-jüdischen Alchemisten, Schriftsteller und kosmopolitischen Häretiker, geboren 1753 in Brünn, guillotiniert 1794 in Paris.
Der Autor hat mit dem Titel seines Textes ein wildes Referenz-Spiel entfesselt, das sich beinahe selbst überschlägt:
die „Straßburger Thesen“ sind die erste Fassung der kommenden „Montevideo Thesen“; aus Montevideo stammen die Tupamaros, die wiederum die „Tupamaros West-Berlin“ inspirierten und von Dieter Kunzelmann, einem Mitglied der Kommune 1, gegründet wurden; die K1 zielte – in einer Zeit, die hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Spaltung unserer jetzigen fatal ähnelte – darauf ab, die „Privatsphäre zu destruieren“, in der nach Überzeugung der Kommunarden das falsche Leben hauste; sie sprengten damit die bürgerlichen Abhängigkeitsverhältnisse radikal auf. Der Oberkommunarde Bommi Baumann hat all das in seiner 1975 bei Trikont erschienenen (und kurz darauf polizeilich beschlagnahmten) Stadtguerilla-Fibel „Wie alles anfing“ beschrieben – von der sich Dobruška den Titel angeeignet hat.
Letzte Volte im Spiel der Verweise: Straßburg ist die Stadt, in der der böhmisch-jüdische Alchemist Dobruška seinen Name in „Junius Frey“ abänderte – als Pseudonym ist Frey ein Autorenname, den man wiederum in Berlin gut kennt, durch seine Publikation „Kosmotechnik und Kommunismus“ bei Matthes und Seitz. in der er, unter Bezug auf die Arbeit des Tiqqun-Kollektivs, die Durchsetzung der westlichen Moderne durch die Etablierung eines instrumentellen Begriffs von Technik diskutiert und sie zu einer neuen Doktrin verwandelter kommunistischer Politik führt. Das Tiqqun-Kollektiv wiederum ist für Texte wie Der kommende Aufstand, An unsere Freunde oder Jetzt bekannt, die unter dem Herausgeber-Namen „Das unsichtbare Komitee“ bei Edition Nautilus in Hamburg erschienen, von denen wir wiederum das Label „Die Aktion“ übernommen haben.
Doch zurück dazu, wie alles anfing: Der Verweis auf Baumann nötigt sicher manchem Leser ein Schmunzeln ab, insbesondere wenn er in den „Straßburger Thesen“ den voll Verve vorgetragenen Satz „Wir sind die Kämpfer für eine Welt ohne Arschlöcher“ liest. Baumann hat in seiner durchaus selbstgefälligen Historisierung der Bewegung 2. Juni nicht vermeiden können einzugestehen, dass er den Einfluß des Verfassungsschutzes auf die Aktionen der radikalen Linken komplett verkannt hatte.
Das genaue Gegenteil ist der Fall in den „Straßburger Thesen“. Sie lesen sich wie eine Antwort auf die Beobachtungen, die 2020 unter dem Titel „Wir haben gesehen“ notiert wurden. Seither ist die Analyse dessen, was manche als Paradigmenwechsel bezeichnen, während es Dobruška schlicht als „weltweiten Staatsstreich“ entblößt, weiter vorangeschritten: Höhepunkt der Auseinandersetzung ist fraglos das „Konspirationistische Manifest“, auf das Dobruška sich in These 32 deutlich bezieht.
Im Gegensatz zum Haschrebellen und Kommunengründer weiß der Autor der Thesen ganz genau, das eine der größten Gefahren darin lauert, zum „Handlanger einer ganz bestimmten Bullenstrategie“ (Baumann) zu verkommen. Deswegen geisselt er „unangebrachten Triumphalismus“ (Th.28) der Linken ebenso unnachgiebig, wie er sentimentlos klarstellt „die politisierten Menschen haben zu viel soziales Kapital zu verlieren, um nicht dumm und feige zu sein“ (Th.31).
Mancher Leser mag sich fragen, welche Partei gemeint ist, wenn es unter These 39 heißt: „Die Partei stärkt sich, indem sie sich von ihren opportunistischen, nihilistischen, skeptischen, covidistischen, perversen, narzisstischen, postmodernen usw. Elementen reinigt.“
Mit Autoren wie Amadeo Bordiga und seinen Freund und Schüler Jacques Camatte ist festzuhalten, dass es einen wesentlichen Unterschied gibt zwischen einer „formellen Partei“ (die Organisation) und einer „geschichtlichen Partei“ („parti historique“), die tatsächlich nicht zu organisieren ist, jedoch fraglos besteht.
Die Reinigung, von der wir am Ende der These lesen, verweist zum einen auf Ferdinand Lasalle und die „Purifizierung“, die er in einem Brief an Marx vom 24. Juni 1852 erwähnt:
„Daß die Parteikämpfe gerade einer Partei Kraft und Leben geben, daß der größte Beweis der Schwäche einer Partei das Verschwimmen derselben und die Abstumpfung der markierten Differenzen ist, daß sich eine Partei stärkt, indem sie sich purifiziert, davon weiß und befürchtet die Behördenlogik wenig!“
Zum anderen ist nicht nur die These 39, sondern der gesamte Text eine vehemnte Absage an die „falschen Freunde“ und ein Lob der Spaltung, durch die allein es wieder möglich wird, ohne falsche Rücksichten klare Ziele zu stecken und eine Antwort zu geben auf „die zentrale politische Frage des 21. Jahrhunderts“: „wie wir kollektive Realitäten konstituieren können, die nicht auf Opfern beruhen.“ (Th.34)
Selten bekommen wir in unseren Zeiten des „Barbie-Feminismus und der Pfizer-Linken …, der Pro-Zensur-Anarchisten und der Pro-NATO-Autonomen, …der grünen Atomkraft und des Impfstalinismus“ einen Text von dieser Kraft zu lesen. Die Energie des Autors teilt sich in jeder Zeile mit. Es ist die Kraft der Ehrlichkeit. Wir können nur hoffen und daran arbeiten, uns aus der Umklammerung der „sozialen Magie“ (Th.16) zu befreien und aufzubrechen in eine Zukunft jenseits der Gewalt.
Die Phrase „See you on the outside“ (Th.32) verweist genau auf diese Perspektive. Im amerikanischen Gangster-Rotwelsch, in der Sprache der Gefangenen, meint sie die Zeit nach dem Ausbruch, wenn die Menschen nicht mehr zwischen Mauern weggesperrt sind. Solange der Gefangene der Kontaktsperre unterliegt, kann er sich nicht mit Gleichgesinnten organisieren. Der Ausruf „Wir treffen uns eines Tages auf der anderen Seite“ beinhaltet also die Hoffnung, dass es gelingt, aus der Gefangenschaft von destruktiver Expertokratie und „autoritärem Horizontalismus“ (Th.2) auszubrechen und zur Freiheit zu gelangen.
Ab dem 14. Dezember 2023 erhalten Sie die gedruckte Ausgabe der Neuen Berliner Illustrierten Zeitung mit dem Text „Wie alles anfing“ (und dem Text „Nullnummer – 50 Jahre No Future“ von Olaf Arndt) bei Ihrem Lieblings-Straßenzeitungs-Verkäufer in ganz Berlin.
Halten Sie zudem die Augen offen: die NBIZ wird auch als Wandzeitung Stadt-weit plakatiert!
(Falls Sie ein gedrucktes Exemplar haben möchten, schreiben Sie mir bitte eine Email – ich versuche mein Möglichstes)
In meinem letzten Beitrag „Gift“, in dem es um gut getarnte Formen von Faschismus in der gegenwärtigen Kultur ging, habe ich vom eingebildeten Recht auf Begünstigung gesprochen, von dem unsere Gegenwartskultur mehr und mehr beherrscht wird. Von „einem Denken, das auf der Setzung fusst, es gäbe geboren Höherwertige“ (=Berechtigte), woraus folgt, dass der Rest als Ausschuß anzusehende Andere sind. Ist die Frage aus der Luft gegriffen oder verzeichnen wir im Verhalten unserer Mitmenschen derzeit einen grundlegenden Wandel?
Bevor wir in den kommenden Tagen zwei Thesenpapiere veröffentlichen – „Wie alles anfing – Die Straßburger Thesen“ des französischen Autonomen mit dem „nom de guerre“ Moses Dobruška, sowie das Papier „Global Science – Zehn Thesen zur Weltauffassung im 21. Jahrhundert“ von Nadim Sradj und Gunther Sosna – hier einige grundsätzliche Überlegungen.
Schaut euch bitte um. Dreht euch dazu einmal 360 Grad im Kreis und fragt dabei: was ist aus meinem Lebensumfeld geworden? Was erkenne ich wieder und was ist anders? Auf welche Art anders?
Ich versuche nicht, euch auf Dinge hinzuweisen, die gänzlich neu oder vollkommen verschieden sind von allem je zuvor. Für diese Form von Andersartigkeit gibt es womöglich (noch) keine Worte, keine Kategorien, auch wenn ihr merkt, sie ist schon da.
Ich probiere euch lediglich für den Grad der Radikalisierung in unserer Gesellschaft zu sensibilisieren. Ich spreche hier von der Radikalität der augenscheinlich ganz normalen Leute. Ruhig bleiben. Die Radikalität der augenscheinlich ganz normalen Leute ist weder unverständlich noch radikal neu. Doch sie ist final. Das Radikale geht dem Ende des Bisherigem voraus. Leider nur sehr kurz voraus. Aber wartet. Vielleicht lohnt eine schnelle Auflehnung gar nicht. Vielleicht ist es um das Bisherige gar nicht schade und sein Ende wünschenswert, gar eine Chance?
Radikales räumt die bis dahin gut mit Bewuchs bestandenen, bisher für lebenswert gehaltenen Räume restlos leer: es reisst, wie der lateinische Wortstamm radix sagt, den bestehenden Bewuchs mit der Wurzel aus.
Wie viele solcher verwüsteten Gelände seht ihr gerade bei eurer 360-Grad-Drehung?
Für alle, die sich nicht mit der Wüstung ringsum abfinden wollen: Es drängt. Wir haben wenig bis keine Zeit, unseren Umgang mit dem wilden Nichts zu erlernen. Wir müssen intuitiv und mit aller Kraft reagieren. Selber radikal werden. Aber dabei sind wir in bester Gesellschaft.
Wie verhalten sich unsere Bekannten? Unsere Verwandten? Die Leute, auf die wir uns blind verlassen zu können glaubten? Sind sie „wie immer“ oder hat sich etwas verändert? Sind sie nach all den Einschlägen der letzten Jahre die Gleichen geblieben? Oder sind sie kriegstauglich geworden durch die Unzahl bedrohlicher Situationen, denen sie sich ausgesetzt fühlten? Radikale aus Notwehr?
Der Grad der Radikalisierung drückt sich vor allem in der Veränderung persönlicher Beziehungen aus. Doch man verkennt die Bedeutung der Veränderung, wenn man sie lediglich für persönlich, also privater Natur hält. Nichts daran ist individuell. Alles ist Symptom. Ausdruck sozialer Destruktion.
Zunächst das Ich. Es steht weiter vorn als je zuvor. Ich kann es nicht beurteilen. Ich habe nichts falsch gemacht. Ich glaube, das bildet ihr euch ein. Ich habe nichts dergleichen bemerkt. Ich war daran nicht beteiligt. Ich vertraue den Experten – warum sollten sie uns belügen? Ich kann daran nichts Verkehrtes finden. Ich war schon immer so. Das habe ich nie gesagt. Ich trage daran keine Schuld. Der Ich-Modus spricht allen Anderen das Recht auf Existenz ab.
Dann das Du. Du schätzt das falsch ein. Du solltest darüber nachdenken, ob Du verantworten kannst, durch dein Verhalten andere zu riskieren. Das ist das maskierte „ich“.
Es unterstellt Dir „Anti-(x)“ zu sein, obwohl Du für etwas bist – allerdings für etwas Anderes als das Ich. Es erklärt Dir, warum dein Verhalten inkorrekt ist. Das ist das Ende jedes Gesprächs. Es verneint die zentrale Funktion der Auseinandersetzung. Wer die Relativierung der eigenen Meinung von vorn herein ausschließt, unterhält sich nicht. Er befiehlt. Oder verurteilt, von vornherein. Deswegen ist die Frage nach deinem Verhalten immer die Frage nach deiner Unterwerfung unter das Gesetz des Befehlenden. Mitmachen. Nicht ausscheren. Unterwerfung ist die Ader, aus der unser Wirtschaftssystem sein Gold zieht.
Was denkst Du denn, warum das notwendig ist? Die Ausrede auf die Notwendigkeit, auf das Unabdingbare ist der zentrale Modus der Inquisition. Mit Inquisition werden alle aus dem Weg geräumt, die das ungestörte Funktionieren des Ich-Modus stören. Die Inquisition lebt davon, das alles, mit was sie dich konfrontiert, ein Fehler von Dir ist. Das Inquisitorische ist das zentrale Merkmal von Beherrschung. Die peinliche Befragung will jeden Widerspruch im Keim ersticken. Mit Pein. Letztes Ziel der peinlichen Befragung ist die Auslöschung des Körpers. Damit sind alle Fehler korrigiert. Tote widersprechen nicht. Nur wer zu allem schweigt und überall mitmacht, ist ein guter Bürger. Der beste denkbare Bürger ist daher ein Toter. Das ist die Logik des imperialen Ego.
Doch Vorsicht! Gemäß des Lehrsatzes, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, verstärken sich die fünfzehn einzelnen Rezepte gegenseitig und ergeben ein Super-Menü, das Qualitäten besitzt, um innerhalb weniger Monate ein ganzes Land zu vergiften.
Ich sage es lieber gleich eingangs: ich bin prinzipiell kein großer Freund der allfälligen Faschismusvergleiche, insbesondere nicht mit Bezug auf die Pandemie. Als ehemaliger Punk, dem jedermann, der ihm nicht passte, ein Faschoarschloch war, fürchte ich heute die Verwässerung eines potenten Begriffs durch unreflektierten Gebrauch.
Ich gebe trotzdem zu, dass die gegenwärtige politische Situation in gewisser Weise dazu einlädt. Ich lache auch herzlich über jeden Führer-Bart, der mit Edding dem Kanzler oder Gesundheitsminister unter die Nase gemalt wird. Die Gesichter haben mit Bart plötzlich etwas Charaktervolles, Durchsetzungsstarkes, grundsätzlich Einleuchtendes.
Aber ich bin zutiefst überzeugt, dass wir uns, um zu verstehen, was eigentlich stattfindet, erst einmal eingestehen müssen, dass wir eine – ach, was sage ich: viele – Spiralwindung(en) höher angekommen sind als in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Damit will ich nicht mutmaßen, dass Altonaer Blutsonntag oder die Kristallnacht Erscheinungen sind, die nie wieder vorkommen können.
Aber sind wir wirklich schon auf dem Dackel-Weg in den Untergang? Ist die Demokratie wirklich faktisch schon komplett ausgehebelt wie 1933, inklusive all ihrer Organe und Rechtssicherheiten? Hat nicht jene Nazi-Propaganda, die in den dreißiger Jahren des verflossenen Jahrhunderts eine enorme Wirkungsmacht entfaltete, eine grundsätzlich von der jetzigen deutlich verschiedene Qualität? Zugegeben, 100 Millarden Euro für die militärische Aufrüstung: da streikt mein Online-Inflations-Rechner. Gefühlt, also rein geschätzt könnte das Budget der Bundesregierung für die Bundeswehr Hitlers Start-Investment in die Weltkriegstauglichkeit ebenbürtig sein. Vielleicht ist die Entscheidung hierüber auch nur eine Frage des wording. Vielleicht sind Hollerithmaschinen und Hochleistungsrechner dasselbe in Bezug auf ihre soziodestruktive Wirkung einer totalen Erfassung. Ich bin unsicher.
Wenn heute Framing-Experten und hoch dotierte Agenturen einen vollständig herbeifantasierten Zusammenhang zwischen Impfverhalten und angeblichem politischen Bekenntnis herstellen und medienpotent verbreiten, dann kann man mit Grüneklee nur festhalten, dass diese Agenturen und Experten daran arbeiten, den rechten Bewegungen Publikum in die Arme zu treiben. Ob und in welcher Weise es für die Parteien der sogenannten Mitte wirtschaftich profitabel und und wählerstimmenmässig wirkungsvoll ist, ein solches Feindbild zu konstruieren, mag zunächst dahinstehen.
Deutlich sichtbar ist allerdings die Tendenz der gegenwärtigen Regierungspolitik, sich der Strategien militärischer Propaganda und geheimdienstlicher Aktivität zu bedienen bei der vorsätzlichen Veränderung der Einstellungen der eigenen Zivilbevölkerung. Dass alle diese Strategien „dual use“, also integraler Bestandteil kapitalistischer Wertschöpfung sind, darf dabei nicht unterschätzt werden.
Es stellt keine Kritik an den fünfzehn Thesen von Grüneklee dar, wenn ich an dieser Stelle deutlich auf die herausragende Bedeutung des Egoismus verweise, den unsere Wirtschaftsordnung wie nicht zweites fördert. Häufig zu hörende Sätze unserer Zeitgenossen wie „das habe ich mir verdient„, „ich denke mir steht zu, dass ich …“ oder „ich genehmige mir mal eine kleine Ausnahme von der Regel, weil ich es ja nicht ständig mache, nur ausnahmsweise“ hören sich wie zeitgemäße Fassungen von „jetzt aber erst recht“ an. Sie reklamieren ein Recht auf bevorzugte Begünstigung – quasi als sei es verbrieft. Es entspringt einem Denken, das auf der Setzung fusst, es gäbe geboren Höherwertige und natürlicherweise als unmündiger Ausschuß anzusehende Andere. Grüneklee hat darauf in der Passage über die Superyachten hingewiesen. Ich halte es dringend für notwendig, hier zu ergänzen: dies gilt genau so für ganz normal verdienende Leute, die sich einen zweimotorigen Tesla, eine Wochenendflugreise nach Lissabon oder einen 24-€-Espresso aus Katzschenscheißebohnengönnen. All das ist m.E. eine Frage der Mentalität, und nicht so sehr des Einkommens.
Wer also den Irrglauben verbreitet, faschistische Gedanken seien eine Art magmatischer Eruption aus den Untiefen einiger weniger schwer deformierter Seelen und das stelle für die gesunde Mitte unserer Gesellschaft keine ernsthafte Bedrohung dar, macht sich mitschuldig am Wiedererstarken solcher Ideologie. Die Lava faschistoider Bekenntnisse, die sich derzeit unter dem doppelten Kriegsdruck und einer von der Regierung forcierten allgemeinen Verunsicherung über die Zukunft von Klima und Wohnen über Deutschland ergießt, stammt aus den wahrscheinlich nur mühselig unterdrückten, rechten Strukturen im Herzen unserer Gesellschaft, wo sie schon immer hauste, wie Wolfgang Kraushaar in einem brillianten Essay über den „Extremismus der Mitte“ nachgewiesen hat.
Gerald Grüneklee sagt in seinen fünfzehn Thesen nichts, was nicht andernorts schon mit anderen Worten behandelt worden wäre. Er stellt keine unerhörten, keine unhaltbaren Spekulationen auf. Er konfrontiert uns nur ziemlich massiv mit vielen solchen Zeichen und Merkmalen des Rechtsrucks gleichzeitig – und rechnet solche dazu, die die meisten von uns nicht in diesem Kontext stellen, bzw. als faschistische Gedanken verstehen wollen.
Grüneklee wird dafür nicht geliebt werden. Denn wie schon Georg Christoph Lichtenberg vor knapp drei Jahrhunderten feststellte, ist es praktisch unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch die Menge zu tragen, ohne den Leute die Bärte zu versengen: eine Einsicht, die sich angesichts der zunehmenden Masse stark bebärteter Protagonisten mit großem Ego sehr zeitgerecht liest.
Die Anzahl der Ereignisse, die mich verstummen lassen, nimmt täglich zu. Nach oder seit der Pandemie gab es schon unübersehbar viele solcher Ereignisse – größere und kleinere, jedoch in ihrer Struktur, in den damit verbundenen Kommunikations-Kampagnen, ebenso wie in ihrer Bösartigkeit sehr ähnliche Ereignisse –, die sich offenbar gegen das Leben an sich wenden. So komme ich mittlerweile zu der Auffassung, dass all das, was wir spätestens seit Anfang 2020 erlebt haben, eine Art „Manhattan Projekt“ des kollektiven Bewusstseins sei: eine geistige Kernspaltung.
Wir erleben dieser Tage eine konzertierte, globale Kampagne zur Ausrottung all jener Errungenschaften, für deren Erringung hunderte von Generationen gekämpft und gelitten haben und die leider nur allzu vage umrissen sind mit Begriffen wie Aufklärung, Humanismus, Zivilisation.
Es ist fatal: Ich konnte und kann kaum einen belastbaren, klaren Gedanken fassen zum Ukrainekrieg, nichts, was mir nicht Minuten später entgleiten würde, weil es zu viele Widersprüche zeigt, zu viele unlösbare Fragen aufwirft, gegen zu viel anderslautende Informationen steht.
Aber noch unfassbarer ist mir das kriegslüsterne Verhalten unserer rotgrünen Regierung. Am schlimmsten von allem: die breite Zustimmung unserer Bevölkerung. Das wiederum verblüfft nicht, denn jedes Land hat die Regierung, die es verdient.
Ich kann keine feste Meinung fassen zu den Vorfällen in Israel und Palästina. Jedesmal, wenn ich versuche, ein „mindestens aber steht doch fest, dass es sich um … handelt“ zu formulieren (Genozid? Wirtschafts- oder Religionskrieg? Rassenhaß?), kommen mir Zweifel, ob ich alles überschaue. Noch entsetzter aber als diese Unsicherheit macht mich quasi jede einzelne Reaktion Dritter, ob Zeitgenossen, Politiker oder Journalisten: alles, was ich zu hören bekomme, ist das genaue Gegenteil von dem, was ich bislang glaubte, erwarten zu dürfen.
Ein drittes Beispiel, auch zu einem Krieg, allerdings der „anderen Art“:
Ich war schon 2022, als ich mich intensiv mit „project defuse“ befasste, von einem gewaltigen Grauen erfasst angesichts der Vielzahl der Dokumente, die meine Vermutung zu stützen schienen, dass ein aus dem Ruder gelaufenes biotechnologisches Experiment unsere gesamte Biosphäre in eine komplett durchseuchte, faulige Kammer verwandelt haben sollte.
Über Twitter von EU-Politikern verbreitete (inzwischen längst wieder gelöschte) Sätze, wie „Wir haben von Anfang an nur die lab-leak These untersucht.“ hallten mir in den Ohren. Klar, das erklärte zumindest das weltweite koordinierte Reagieren auf SarsCov2.
Für Leute wie mich, die sich bereits zwei Jahrzehnte lang mit dem Thema Biowaffen befasst hatten, kam das alles nicht ganz unerwartet, war aber bei seinem tatsächlichen Eintreffen doch erschütternd. Jetzt waren wir wirklich „dran“. Noch erschütternder war, dass auf das Bekanntwerden von Project Defuse quasi keine nennnenswerte Reaktion erfolgte – sieht man einmal vom massiven Einsatz der zuvor erwähnten Universalwaffe ab (Nichtung jedes Faktums durch konzertierte kommunikative Kampagnen). Immerhin – auch wenn das keine Erleichterung verschafft – gab es eine gewisse negative Plausibilität in der Tatsache, dass es sich um die schief gelaufene Entwicklung einer Waffe handelte. Eine unangenehme Tatsache, wenn man an die verschiedenen Gaskriege des 20. Jahunderts oder an das erste „Manhattan Project“ denkt.
Kürzlich kam noch eine neue Perspektive hinzu: sie kursiert schon eine Weile unter dem Schlagwort „Process 2“ und wird öffentlich ebenso schwach wahrgenommen wie Project Defuse. Jedenfalls habe ich noch keinen Aufschrei des Entsetzens vernommen, der selbst dann schon gerechtfertigt wäre, wenn nur 10% der jetzt vorgelegten Fragen als Fakten belegbar würden.
Process 2 ist – in aller gebotenen Kürze, denn die Details sind mit Suchmaschinen leicht auffindbar – eine von einem Konzern (Pfizer) öffentlich gemachte, aber mittels einer „fatalen Strategie“ (Baudrillard) = durch Veröffentlichung verborgene Tatsache über die bewusste, vorsätzliche, sagen wir: betriebswirtschaftlich gewollte Verunreinigung von mRNA-Impfmaterial.
Dies verstehe ich als eine zumindest billigend hingenommene Ausrottung, für die Pfizer sogar schon vorab Prozentzahlen (40% mehr relevante Nebenwirkungen, 45% verunreinigte Chargen etc.) errechnet und publiziert haben – all dies allerdings geschickt verborgen in einer nahezu unüberschaubaren Masse von Informationen, 10.000enden von Dokumenten, die unter Druck der Food and Drug Adminstration publiziert wurden.
In Kreisen von Waffenentwicklern gilt eine neue Erfindung als militärisch effizient, wenn 20% der mit dieser Waffe „Behandelten“ sofort tot sind. Das Maß orientiert sich an der Tödlichkeitsrate eines Maschinengewehrs, das auf eine dicht gedrängte Gruppe Menschen abgefeuert wird. Wir reden bei der doppelten Prozentzahl also nicht über eine irrelevante Größe von Sterblichkeit.
So verstanden, erinnert Pfizers Benamung von „Process 2“ an Phase IV, einen beeindruckenden 70er Jahre-Film über das Ende der Menschheit.
Schon aufgrund der Dimension des Problems (und einer reibungsfrei ineinanderfassenden Mechanik von Konzernen, Zulassungsbehörden, Ärzteschaft, Presse und impfwilligen Massen) bin ich ratlos, an wen zuerst ich mich wenden sollte mit meinen strafrechtlichen Verfolgungsphantasien, meinem Zorn; an wem ich mich abarbeiten müsste mit meiner auf das Ganze (Gesellschaft, System) bezogenen Niedergeschlagenheit? Wenn ich spüre, wie rasch in mir alles umschlägt, wie aggressiv und – Minuten später – wie euphorisch mich jede Veröffentlichung zur nächsten monumentalen Schweinerei macht, wird mir klar, dass der erste Totalschaden, den das neue Manhattan Projekt verursacht hat, ein kollektives Borderline-Syndrom ist: wir leben nun mit einer epidemisch verbreiteten Persönlichkeitsstörung, die unsere Meinungen, unsere Urteilskraft nichtet.
Warum aber sollen wir – gemäß des Kalküls von Wirtschaft und Politik – sterben? Ist das ein zynisches demographisches Projekt? Sollen wir alle weg sein, bevor sich herausstellt, dass Habecks Erdwärme nicht für die Milliarden Menschen in den winterkalten Zonen reicht? Will uns diese technologisch amplifizierte, gezielte Ausrottung effiziente Mittel für einen sudden death bereitstellen, die uns das langsame Erfrieren in unseren mit Heizverbot belegten Häusern oder das klägliche Ertrinken in den steigenden Weltmeerwassern ersparen?
Ich wäre dankbar, wenn ich eine Antwort geben könnte. Aber ich habe keine. Daher mein eingangs erwähntes Verstummen.
II. Ausrotten
Das wechselseitige Ausrotten ist keine Erfindung der jüngsten Geschichte.
Der immer wieder hilfreiche Blick in die einschlägigen Kapitel von Grimms Wörterbuch zeigt, dass mit Ausrottung die Vorstellung verbunden ist, etwas nicht nur einzukürzen, abzuschneiden, in seinem Wuchs zu hemmen oder einfach niederzumähen, sondern es gleich „mit Stumpf und Stil“ zu roden, mit der Wurzel auszureißen, damit – zumindest an dieser Stelle – nie wieder etwas Gleichartiges wachsen könne. Das Ziel der Ausrottung ist, dort, wo man ausrottet, eine Wüste zu schaffen, eine unfruchtbare, bleibend leere Stelle.
Zu Grimms Beispielen für Ausrottung zählen: ein „bawm“ (Baum), der schon in der Bibel (Jer. 11,9) „aus dem lande der lebendigen“ augerottet wurde; weiter heisst es bei weish. Sal. 4, 4: „kann man ohn schaden ein baum nicht ausrotten, so soll man ihn beschneiden und stümmeln.“
Es folgt der Grimmsche Kommentar: „bildlich sehr oft in der bibel, z.b. des seele soll ausgerottet werden aus seinem volk.“ In den Büchern Mose werden zudem Bilder ausgerottet (das erinnert nun stark an die Kampagnen-gesättigte Gegenwart!), in der Bibel werden andernorts sogar Namen ausgerottet und sehr konkret wird es im 1 kön.11, 16: „alles was mannsbilde war“ wird dort ausgerottet.
In der Neubearbeitung des Grimm geht es noch deutlicher zur Sache. Bei Luther heisst es „nu seind noch viel, die ein solche usruttung der wahrheit nit willigen haben wollen.“ Kleist deutet den Satz „zur ausrottung aller ketzer“ richtig aus, wenn er anfügt: „also auch zu deiner und meiner ausrottung.“, während Nietzsche bereits die „symptome einer völligen ausrottung und entwurzelung der cultur“ erkennt, die ich eingangs schon beklagt habe.
Wenn man sich in den Grimm hineinliest, drängt sich der Gedanke auf, dass Ausrottung integraler Bestandteil menschlicher Existenz ist.
Aber warum werden wir dann trotzdem immer mehr? Hat unser Vernichtungs-Regulativ versagt? Braucht es deswegen diese Vielzahl an Ausrottungsprojekten? Oder würde unser Wirtschaftssystem schlicht nicht funktionieren, wenn es Ausrottung strikt vermiede?
Am Ende jeder Ausrottung steht jedenfalls fraglos das Verschwinden ganzer biologischer Arten (derzeit erst 20% – da ist also noch „Luft nach oben“).
Montag 28.8.2023 Edu-Irritainment-Snacks als quasi-Briefe an die Jugend.
Bert Papenfuß hatte eigentlich vor, noch ein wenig länger „auf dem Kotball, auf dem Damenseidenstrümpfe verkauft werden“ (so Walter Serner über das, was die Erde ist, in seinem Handbrevier für Hochstapler: „Letzte Lockerung“) streitlustig und lustig-vorwitzig als ein in Spelunken vortragender Dichter und als schreibender Chronist regionaler und überregionaler Entwürfe, Auswürfe und Verwerfungen der Insurrektion seitens antiherrschaftlicher Herrschaftszeiten in allerlei Blätterwald und digitalen Spielwiesen sich zu veräussern und auszuschweifen. Und das als Piraten-Oma (frei nach Kerstin Cmelka und meinethalben wurde die späte Erscheinung Papenfuß’ so betitelt). Der Piraten-Oma-Style: ein unvergänglicher Look (neben Papenfuß wären weitere bekannte stolze Träger dieses Looks zu nennen: die Angelsachsen Hawkwind und Motörhead sowie Julien Cope). Dieser Look wird eigenhändig besorgt und zusammengestellt. Die Karl-Marx- Frisur am Haupt und im mürrischen Gesicht, der wache Blick wird mit einer Lederschiebermütze vertont, um dann den mächtigen Anarchistenbatzen an Körperlichkeit mit Lederjacke, Camouflagehose und festen schwarzen Militärboots zu umgarnen. Doch es kam anders und seit dem Morgen des 26.Augusts 2023 ist sein Stern AT THE CENTRE OF ALL INFINITY aufgegangen.
Dort wird jetzt unendlich Space Rock durch das Sternengestirn donnern, wie Papenfuß sie von Yuri Gagarin, die ein ganzes Album „At the Centre of Infinity“ betitelten, bis zuletzt liebte und in einem seiner Traktate bewarb. Space Rock wird unendlich im Unendlichen, nebst dem unvermeidlichen Sludge Rock à la Melvins. (Papenfuß hat meiner Erinnerung nach doch irgendwann aufgegeben, alle Erscheinungen dieses Rock Acts um den Herren mit der wahnwitzigen Kräusellockenturmfrisur, die in der Summe der Höhe und Breite die Turmfrisuren von Little Richard und Esquivel als auch die von Tina Turner und Marc Bolan zusammen vermengt, übertrumpft, zu sammeln.) Es ist ja nicht so, dass nicht auch Supermax’oder Cerrone’s Discostomper mit in die Sternenhimmel-Partitureinschwenken dürften, denn es war der Rumbalotte-Kulturspelunken-Häuptling Papenfuß vor einer Dekade höchst selbst, der mich beauftragte, auf seiner Hochzeit mit Mareile Fellien, diese Töne anzuwerfen, was sein Mitstreiter Rex Joswig bezeugen wird sowie vielleicht auch die damaligen wildesten Tänzer nebst dem frisch vermählten Paar, die Aktionskünstler Alexander Brener und Barbara Schurz, die zu den Discostompern wie Höhlenbewohner aus der Steinzeit sich körperlich begeisterten.
Mit Papenfuß verbanden mich Bande, Kumpanei, wir liessen aber stets einander privat in Frieden – und das so ziemlich genau seit dem ich in Berlin angekommen war: 1987. Distanz und Nähe bei der Bande waren das Erfolgsrezept dieser langwährenden Kumpelei. Immer wieder gab es Zusammenarbeiten, Zusammenkünfte, Veranstaltungen, Feste, Einladungen von ihm und seiner Mischpoke um Sinn, Unsinn zu verbreiten, Töne zu spucken und zu spielen. Papenfuß, der die Bühne mochte, sowohl die im Hinterraum vom BAIZ in der Torstrasse, wie die im Kino International in der Karl-Marx-Allee, äusserte sich gern über Theater und Schauspiel abfällig. Ich erinnere mich an ein Essen bei ihm und seiner Ehefrau in Weissensee. Es war 2017, Papenfuß hatte eine ganze Oper geschrieben, die mit den Liedern der RUMBALOTTE-Gedichte-Reihe versehen war und mittels eines Förderantrags des Veranstaltungsortes DIE WABE sollten Papenfuß als Kapitän und Hauptredner/Akteur, Rex Joswig als Orchesterleiter/Akteur und meinethalben als Spielleiter und Sprecher/Akteur sowie einige weitere Mitstreiterinnen an Bord diese Rockoper real erscheinen lassen. Es gab die Gelder dann leider hierfür nicht, Papenfuß hatte das auch schon geahnt. Und wie soll ich sagen, so wie der Theaterhase und die Kulturverfilzung läuft, auch mir geht das Theatern inzwischen völlig am Arsch vorbei. Es war ein Herzensprojekt von Papenfuß. (Es gab zwar eine inszenierte, sehr abgespeckte Lesung später in der WABE, die aber nicht das war, was es hätte sein sollen.) Aber zurück zu dem erwähnten Essen in Weissensee, wo die Rockoper noch im Schwange war, jedenfalls horchte ich auf, als Bert sein Geschichtswissen über die Anfänge des DADA kurz zum Besten gab und er statuierte, daß DADA massgeblich durch Schweizer Schauspielerinnen verbreitet worden war, ergo eigentlich eher vergessenswert. Eine Schauspielerin kennt man: Emmy Hennings.
Mit Papenfuß verband mich neben der Franz-Jung-Lektüre und Space Rock von Hawkwind zuallerst der Humor und die Freude am Schabernack und trotzigem Pamphletismus. Dass er mir immer wieder Max Stirner als Alter Ego und Vorbild zuschob, war so ein trotziger Pamphletismus, denn ausser dass ich das Reclamheft von dem Autoren mal erstand, entstand nichts weiter, nicht mal das Lesen, was ich nach drei Seiten gleich aufgegeben hatte. Aber da Papenfuß nun mal Stirner als favorisierten Autoren erkoren hatte, liess ich mir das gefallen, es gibt ja weitaus Schlimmeres. Ach so, ich vergass zu erwähnen, ich habe einen grossen Teil meines Berliner Aufenthalts als Schauspieler gekennzeichnet. Bert Papenfuß war stets performativ hoch interessiert. In den 1980ern erst noch zaghaft als Vortragender seiner Texte zu von ihm zusammengebauten Bands, wo ich kurz bis circa 1993 auch als Shouter und Gitarrist mit vor den Karren gespannt war, und mich u.a im Literaturhaus Wannsee einmal neben Robert Lippok und Bernd Jestram zu A.R. Pencks Trommelwirbeln die Gitarre auspeitschen sah. Papenfuß mauserte sich dann in den 2000ern und in der Dekade darauf im Piraten-Oma-Look zu einem versierten Vortragenden mit fester Reibeisen-Stimme. So stellte man sich die Stimme Störtebekers oder des Räubers Hotzenplotz vor. Rex Joswig hat noch 2019 zwei Tracks vom Album MUSPILLI RÖKRÖKR MASHUP (Moloko Plus Rec.) auf Soundcloud hochgeladen. „Die Werwölfe von Weissensee“ und „Mit dem Tee ums Karree“ nenne ich hier als Anspieltipps. Warum denn Theater ihn nicht interessiere, fragte ich ihn mal. „Wozu ein ganzes Stück um eine Bemerkung zum Weltgeschehen zu machen, die man mit einem Satz sagen könne“ antwortete er. Guter Punkt. Okay. Thesentheater, deutsches Sozialdrama, Berlinale-Auswahlverfahren, alles These, da geh ich mit, so was von. Dennoch: Das, was am Roman oder einer Erzählung oder an laufenden Bildern im Kino faszinieren kann, ist ja nicht das, sondern das Dazwischen. Und Film und Kino, da gehe ich ganz mit Jean Epstein, ist Voyeurismus, kann Haut, Körper, Sinnlichkeit erfahrbar machen durch Nahaufnahme und Montage und Zeitmanipulation, wie es für das menschliche Auge ansonsten nicht erfahrbar sein würde. Den Sprechtheater-Aspekt im Tatort-Krimi, das Messianische des Thesenfestivals empfinde ich genauso rückschrittlich wie es einmal Jean Epstein formuliert hätte, dessen Filme und Schriften zum Film und der Unterhaltungsindustrie ich allen hier empfehle, die meinen es gäbe nur Debord, Godard oder James Monaco.
Papenfuß war ja auch ja ein Förderer der Lesebühne und multimedialer Vorführungen, ohne ihn keine Lesebühne von Kaminer und somit auch keine Russendisko im Kaffee Burger. Er war befreundet, Kollege und Förderer von Ann Cotten, die als Poetin gern auch Happenings erfindet und inszeniert. Papenfuß´ Texte wurden immer länger, ausserdem wurde er zum Chronisten der Subkulturen Berlins. Seine geduldig recherchierten Texte zum britischen Space Rock und Free Rock der 1970er Jahre, zum englischen Protopunk und zu allem was in Julien Copes Kiste gehört, las ich gerne und hätte dem Wissen und den Anekdoten auch gern Platz gegeben in meinen Inszenierungsideen vor einem Jahrzehnt. Mit Julien Cope teilt Papenfuß den Piraten-Oma-Kleidungsstil, wobei ich an dieser Stelle konstatiere, daß Robert Calvert (Frontman und Lyriker der Space Rocker HAWKWIND) diesen Stil prägte. Auch auf dieser Platform kann man Papenfuß’ Verknüpfungen von Zeitgeschichte, Aktuellem und Seemannsgarn mit Texten und Stories von/über die Anarchopunk-Legenden CRASS nachlesen.
Im Jahr 2010 hatte der Film DER ADLER IST FORT von Volker Sattel und mir auf einem Berliner Filmfestival Premiere. Bei der zweiten Vorführung des 21 minütigen Films im vollbesetzten Saal des Kino International, bestand Papenfuß darauf, weil sein epochales Gedicht „Es gibt keine Freiheit“ neben der Musik von TARWATER zum Hauptstrang unseres psychogeografischen Berlin-Alexander-Platz-Nachtstreifens geworden war, drei Gedichte aus dem RUMBALOTTE-Zirkel vor grossem Publikum vorzutragen – direkt nachdem keine Licht-Ton-Bespielung mehr an der Wand und im Saal zu erfahren war. Im Riesenkinosaal. Papenfuß genoss diese Performance.
DER ADLER IST FORT hat eine zentrale Szene, im Studio von Bernd Jestram (TARWATER) sieht man den Schauspieler Christoph Bach, der sich damals auf den Dreh und seine Rolle als Hans Joachim Klein für die Miniserie CARLOS von Olivier Assayas vorbereitete . Hans Joachim Klein war u.a neben Carlos an der OPEC Geiselnahme in Wien 1975 beteiligt gewesen. Christoph Bach hatte eine Frisur und einen Schnauzbart wie in den 1970ern sich zugelegt und war ausserdem noch völlig im Modus der Rolle, die ihm den Fernsehschauspielerpreis 2010 eingebracht hatte. Er impersonierte DUTSCHKE im gleichnamigen TV-Film von Stefan Krohmer. Ich hatte Christoph Bach besetzt, um ihn im Tonstudio ungeübt vor laufender Kamera im Beisein des Dichters Bert Papenfuß, dessen inzwischen bekanntesten und meist übersetzten Text „Es gibt keine Freiheit“ vortragen zu lassen. Daraus entstand eine Szene, die vom Publikum geliebt wird. Als Christoph Bach im Duktus eines eifrigen Rudi Dutschkes das Gedicht zu intonieren beginnt, unterbricht ihn Papenfuß, der im Film nur in der Spiegelung zu sehen sein wird. Der Schauspieler, den wir hier erst in einer Halbtotalen und dann in einer Naheinstellung sehen, interessiert sich für diese Unterbrechung und bemerkt sofort: „Es ist wie als würde man auf einer Freilichtbühne sprechen“. Papenfuß sagt ruhig durch das Studiofenster via Studiomikro zu ihm: „Ja genau, darauf wollte ich hinaus. Bitte nicht so, als würdest du 1000 oder 10.000 Leute überzeugen wollen, sondern eher 30 bis 100.“ Der Schauspieler fügt hinzu: „Kleinerer Raum, keine Großveranstaltung?“ Papenfuß: „Ja genau. Kleiner Raum, keine Grossveranstaltung, aber mit ebenso aller Entschiedenheit.“
Papenfuß, der ein Chronist und Pamphletist der Anarchie war, wenn auch ein absichtlich zurückgezogener, der als Performance-Profi die Performance des Samizdat bevorzugte, suchte auch immer wieder Gemeinsamkeiten zwischen sich als Dichter und Chronist und Verleger und mir, als Schauspieler und Filmemacher. Zuletzt sandte er mir den auf dieser Platform veröffentlichten Text über Biofaschismus von Christoph Wackernagel zu, einem Schauspieler, den ich für seine Jugendrolle in „Die Tätowierung“ (1966) kenne und von dem weiß, dass er mal lange im Knast saß. 1983 hatte er sich dann als Mitglied von der RAF distanziert und wurde nach einem Drittel der verkündeten Haftzeit 1986 entlassen Mehr weiß ich nicht. Wegen seiner Ex-Terroristen-Prominenz wurde er gern von Film und Fernsehen gebucht. Eine Gesellschaft-des-Spektakels-Karriere wie aus „Die dritte Generation“ von R.W. Fassbinder. Wackernagel ist nunmehr als politischer Autor tätig. Okay, erst mußte ich mir von der Piraten-Oma Stirnerianismus andichten lassen, jetzt auch noch den Wackernagel.
Bert und ich hatten regen e-Mail-Verkehr in den Pandemiejahren 2020 bis 2022, also tue ich meinem Komplizen – mit dessen Tod eine ganze Lebensära verschwindet (jedenfalls fühlt es sich beim Schreiben dieser Zeilen so an) – den Gefallen und gucke noch mal jetzt rein in den Text, den er mir damals im Herbst 2022 zusandte. Christoph Wackernagel schreibt hier u.a: „Die Vollstrecker der Diktatur des Profits schieben die Verantwortung für ihr politisches Handeln auf die vereinzelten Bürger ab: anstatt keinen Plastikmüll zu produzieren, was der Profitmaximierung um jeden Preis widerspräche, erhält, wer Plastikmüll entsorgt, Punkte auf seiner social credit card. Anstatt car sharing als verbindlich einzuführen, wird der Benzinpreis erhöht. Anstatt der Natur ihren Lauf und dem Menschen seinen freien Willen zu lassen, wird als gesund definiert, wer sich freiwillig gentechnisch verstümmeln lässt. Allein der selbstbestimmt durch Genbehandlung seiner Empathiefähigkeit beraubte Genkrüppel ist gesund, weil er nicht mehr sensorisch interaktiv kommunizieren kann und dadurch selbst Unbehandelte damit infiziert.
Die Privatisierung der Politik ist in dieser Form ebenfalls eine negative Utopie. Nicht selbstbestimmende Bürger, deren Freiheit immer die Freiheit der anderen ist, organisieren ihre Bedürfnisse und deren Befriedigung selbst und machen damit die Politik überflüssig, sondern Strichmännchen und Strichweibchen führen fremdbestimmte QR-Codes aus, bis die Politik selbst als reine Maske sich offenbart. Da die materiellen und ideellen Voraussetzungen zur Auflösung des Profitdenkens, also zur Schaffung des Himmels auf Erden, spätestens seit der Jahrtausendwende gegeben sind, ist es für die Diktatur des Profits zwingend geboten, die Hölle auf Erden weltweit und hundertprozentig zu installieren, wenn sie ihr Überleben garantieren will.“ (Den Text findet man auf dieser Plattform, man sollte aber die editorische Notiz des Herausgebers von DIE AKTION 4.0 auch dazu lesen.)
Quasi als Reaktion zu obigen Gedanken, ende ich mit dem Klappentext der Sammelausgabe der RUMBALOTTE-Gedichte 1998 bis 2002 von Bert Papenfuß: „Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln, Grundeigentum und Geld. Abschaffung der Prostitution und des Trauergottesdienstunwesens. Zinsverbot. Reklameverbot. Hundeverbot in den Städten. Relevanz-und Tiefenschärfenkontrolle der Massenmedien. Wirtschaftsprüfung der sogenannten Hochtechnologie. Das sollte für den Anfang reichen. Los geht’s.“
Brokdorf war schon lange eine zentrale Größe im politischen Leben und Handeln unserer Familie: hier wurden die Eltern und Geschwister alle Ostern wieder mit tieffliegenden Hubschraubern bedroht, der Vater der Herausgeberin der AKTION in einer mobilen Gefangenensammelstelle inhaftiert: so waren die üblichen Freizeitvergnügen der Grünen, bevor sie selber die Macht ergriffen.
In Brokdorf konnten wir am eigenen Leib erfahren, wo die Toleranz der Bundesrepublik ein Ende hatte und wie ernst das mit der freien Meinung und dem Recht auf Demonstration gemeint war.
Aber wir waren zuversichtlich, den Fall eines Tages durch fortgesetzten Protest beenden zu können.
Am 31. Dezember 2021 ging das Kernkraftwerk mit der weltweit größten von einem Reaktor erzeugten Strommenge ( 12.000 Gigawattstunden) in aller Stille des Lockdowns schließlich vom Netz.
Es hinterblieben der denkwürdige Brokdorf-Beschluss über das „präventive generelle Demonstrationsverbot“ und 233 Brennstäbe. Letzere beeinträchtigten offenbar die „Gefahrenprognose“ weniger, als die sich um das strahlende Lager versammelnden Kritiker.
Soweit die Hintergrund-Geschichte zum Teller, von dem wir nun unseren Nudelesalat essen. Er ist spülmaschinenfest. Diese Mischung aus sarkastischem Humor und anwendungsorientiertem Design ist typisch für Weisserts Arbeit.
Der gelernte Zimmermann und Architekt Weissert ist allerdings nicht frei von gesunden Zweifeln: „Jeder Versuch, die Gegenwart in Worte zufassen, ist zum Scheitern verurteilt. Unsere Zeit hat eine so erhebliche Rotationsgeschwindigkeit, dass kein Medium damit Schritt halten kann. Meine Beobachtungen und Gedanken von Gestern und Vorgestern, einige sogar aus der Zeit von vor dem Jahr 2020, habe ich trotzdem als ein Dokument zur Gegenwart in meinem Buch zusammen getragen.“ Normalität ist für Weissert eine gefahrvolle Schleuder-Bewegung. Dagegen setzt er seinen „radikalen Optimismus“.
Für den Vorabdruck in DIE AKTION hat Weissert ein Kapitel gewählt, das den psychologischen Aspekt seiner Überlegung ins Zentrum stellt. „Über den Zustand der Welt lamentieren schon viele andere – das kann ich nicht besser als sie.“
Bilder des Untergangs begleiten die Entwicklung der Zivilisation. Sie sind keine düstere Illustration, die das Licht der Aufklärung heller erscheinen lassen sollen. Sondern sie haben eine ganz konkrete staatstragende Funktion. Sie sind der Klebstoff, mit dem die Herrschenden eine aufbegehrende, in verfeindete Lager zerfallende Gesellschaft wieder zusammenfügen wollen: durch Drohung mit dem nahen Ende. Visionen einer Apokalypse sollen den Blick auf die wahren, vom System erzeugten Probleme vernebeln.
Bilder von Unheil und Verderben sind das Alltagsfutter der Medien. Sie waren seit jeher das stärkste Werkzeug zur Knechtung der Massen, besonders in jener vergleichsweise fast bilderlosen Periode, in der sich die Kirchen den größten Teil vom Grundbesitz der Erde eigenmächtig angeeignet und sich in jeder Hinsicht ein Wertmonopol geschaffen haben. Das Menetekel vom Weltende besitzt einzigartige, jeden Widerstand brechende Kraft. Angesichts des Weltendes scheint jede Auflehnung gegen das herrschende Unrecht vergebens.
Der Haupthebel der Wirksamkeit ist dabei der Beweis, das obwohl das Ende bislang trotz vielfacher Ankündigung niemals gekommen ist, es dieses Mal doch unabwendbar sein wird.
Die Ungebrochenheit der Macht des Bildes heute muss jedoch angezweifelt werden. Zwar funktioniert es noch als fast perfekte Ablenkung vom Kern der Problematik (dass der Kapitalismus per se keinen Umweltschutz, kein Menschenrecht, keine Sozialität ermöglicht) – und dient als Begründung für die Verhängung von allerlei Wirtschaftsförderungsmaßnahmen (siehe Habecks heuchlerische Heizungs-Fantasmen; zuvor die „grüne“ Energiesparlampe, die ein Osram-gesteuerter Ausschuß beschloß; die konzernorientierte Umstellung auf E-Mobilität und autonomes Fahren etc. pp.). Doch während in den hohen Zeiten christlichen Glaubens die Menschen angesichts der Botschaft vom Ende in Furcht erstarrten und unter dem Druck ihres Gewissens vielleicht noch ihr Verhalten überprüften, scheint die heutige Bedrohung mit dem baldigen Untergang durch Klimakatastrophe und globalen Hitzekollaps eher die Wirkung eines Beschleunigers zu entfalten: angesichts des rundherum sichtbaren Verfalls der Biosphäre glaubt sich so mancher berechtigt, noch eins obendrauf zu setzen. Die Menschen, denen schon lange das Gefühl für das Heiligen, Unantastbare, Fragile, das existenziell Wesentliche abhanden gekommen ist, leben ersatzweise erst recht, als wenn es gerade egal wäre, wie schädlich ihr Verhalten ist.
In seinem höchst lesenwerten Essay „Das gespaltene Land. Ein Psychogramm“ spitzt der Psychiater Hans-Joachim Maaz den Konflikt zwischen Mensch, Macht und Klima noch einmal zu, indem er die seelischen Notlagen in den Blick nimmt (S. 172; siehe hierzu auch die kritische Anmerkung von Jutta Weber in den Kommentaren unter diesem Beitrag):
„In der Klimafrage bekommt die Spaltung der Gesellschaft eine neue Front. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Positionen über das Klimasystem und Menschen gemachte Einflüsse sind widersprüchlich. Sicher ist nur, dass wir nicht die Herrscher über das Klima sind und auch nie sein werden. Für den aktuellen Kampf und Streit müssen wir einander widersprechende wissenschaftliche Befunde und Erklärungsmodelle zur Kenntnis nehmen, wobei ich die anwachsende Hysterie und geschürte Weltuntergangspanik als Ausdruck eines sich entladenden Gefühlsstaus einschätze. Gerade das ungesicherte Wissen um Klimaveränderungen triggert Affekte der Bedrohung, der Ohnmacht und Unsicherheit, die politischen und ökonomischen Interessen Tür und Tor öffnen. Im Klimanotstand bekommt die individuelle psychosoziale Not vieler Menschen, die aber verleugnet und unterdrückt ist, eine vermeintliche Zielscheibe.“
Und unter dem Stichwort „kollektive Selbstzerstörung“ fährt er fort (S.190): „Die vielfachen Bedrohungen durch Umweltzerstörung, Finanzkrise, Migrations- und Integrationsprobleme, kriegerische Handlungen und Verlust an sozialer Sicherheit werden vom Klima-Thema überdeckt und vernachlässigt.“
Zwar bedient auch Jutta Webers Titel „Planetarische Notlage„, der heute in DIE AKTION erscheint, das Paradigma des Untergangs. Denn wenn es „ums Ganze“ (Planet) geht, hilft uns keine Feuerwehr, kein Katastrophenschutz, kein global behandelnder Notarzt mehr. Wenn der höchste Gefährdungsgrad erreicht ist, sind wir praktisch schon tot. Doch so defätistisch ist Weber gar nicht. Schon der Untertitel „Über grünen Kapitalismus, die Revolution der letzten Generation und die Versuchungen protektionistischer Technokratie“ stellt klar, dass die Arbeit am Horror nicht auf eine strategische Verstärkung von Niedergeschlagenheit zielt, sondern im Gegenteil als Ermutigung zum Aufstand gegen die politische Lüge gemeint ist. Denn praktisch alles, was von Menschenhand geschaffen wurde und unseren Alltag regelt und bestimmt, Gesetze, Geld, Algorithmen, Staatsgrenzen, politische und kommunikative Systeme, lässt sich von Menschenhand abändern, abschaffen, annulieren. Doch eine Ausnahme gibt es vielleicht doch: Naturzerstörung lässt sich zwar leicht von Menschenhand machen, aber nur schwer mit menschlichen Mitteln reparieren, auch wenn viele Politiker und Geoingenieure uns weiß machen wollen, das der Zerstörer auch probate Mittel der Heilung kennt. Die Vernichtung der Umwelt lässt sich nicht rückabwickeln. Es lässt sich lediglich hoffen, dass etwas Anderes, Neues, hoffentlich Erfreuliches entstünde, wenn man die Auslöschung über Nacht auf Null setzen könnte. Planbar ist das Ergebnis jedoch sicher nicht. Weber hat für DIE AKTION ihren Beitrag, der zuvor nur in Österreich beim ESC Medien Kunst Labor erschien, nochmals eingeschärft. Viele Einsichten und neuen Mut durch die Lektüre wünscht die Redaktion.
Entsprechend der Ankündigung von Macron, ihm unliebsame Teile der Bevölkerung „vollzukacken, bis es ihnen die Scheiße zum Hals steht“, setzt sich nun eine Spirale aus Polizeigewalt und Verwüstung in Gang, deren Ende nicht absehbar ist. Ein Akteur berichtet aus der Mitte des pariser Krieges gegen die eigene Bevölkerung.
Vor 14 Tagen bin ich in die Bibliothek gegangen und habe mir „Arena“ von Négar Djavadi ausgeliehen. Um es kurz zu machen: es ist die perfekteste Darstellung der Gewaltspirale in den Banlieues seit Mathieu Kassovitz´ Film „Hass“ – ein ganz großer Roman, mit dem Frankreich endlich an die sozialkritischen Texte von Zola und Hugo anschließt. Die Sprache ist brilliant, der Text ist genial komponiert und leider in jedem, noch so unerträglichen Detail nachvollziehbar.
Während ich „Arena“ las, musste ich unentwegt an eine unschöne verbale Fäkalie denken, die der Präsident Frankreichs im Januar 2022 frohgemut herausgefurzt hatte, ohne dass sich nennenswerte Entrüstung zeigte, geschweige denn juristische Folgen.
Er sagte nicht: „Wir werden die Umgeimpften solange nerven, bis sie einlenken“ – das hätten die westlichen Medien gern so übersetzt. Vielmehr sagte er tatsächlich: „Wir werden die Umgeimpften bis zum Anschlag dichtkacken. Darauf bin ich echt heiß.“ (« emmerder […] jusqu’au bout », «Les non-vaccinés, j’ai très envie de les emmerder. ») Der Satz ist mir so präsent, weil an der Bundestrasse vor dem Dorf in Frankreich, in dem ich viel Zeit verbringe, seitdem täglich ein Demonstrant mit gelber Weste und Macron-Maske steht. Er hält ein Schild in den Verkehr: „Macron kackt auf euch.“
Es ist durch die Art, wie Macron regiert, im Land eine apokalyptische Stimmung entstanden. Er hat ganz zweifelsfrei jedes Sentiment aus dem Verhältnis Bürger-Regierung entfernt und schleudert seine Verachtung frei heraus. Macron hat diese Eskalation zu verantworten. Es ist entsetzlich, aber es wundert mich wenig, als ich diese Woche das Bekenntnis von Heitor O’Dwyer de Macedo (Avatar) lese, warum er eine Pariser Mediathek niedergebrannt habe.
Ich zitiere: „Man sagt, dass es ein selbstzerstörerischer Akt war, die Mediathek niederzubrennen. Man sagt, dass ich ein Idiot bin. Man sagt, ich sei für den Kapitalismus, weil ich die Schaufenster von NIKE eingeschlagen und ein Dutzend Paar Schuhe mitgenommen habe.
Ich bin dumm, weil ich die Mediathek abbrenne, aber wenn der Innenminister, der sicherlich in Mediatheken und Bibliotheken ging – als Reaktion auf die Empörung der nationalen Jugend, der Armen, der Araber, der Schwarzen und der Großzügigen, Empörung über die Polizei, die wieder ein Kind getötet hat – nichts anderes zu sagen hat, als dass er 45.000 Polizisten auf die Straße bringen wird, mit Panzern, mit schweren Waffen und Scharfschützen – er, der in Mediatheken und Bibliotheken gegangen ist, wozu soll es dann gut sein, in die Mediathek zu gehen?
Wenn der Justizminister, der sicherlich auch Mediatheken und Bibliotheken besucht, angesichts der Entladung dieser allgemeinen Verzweiflung nur auf die Idee kommt, die Eltern der Jugendlichen in den Knast zu stecken, wozu ist es dann gut, in die Mediathek zu gehen?
Wenn der Präsident der Republik, der in Mediatheken, Bibliotheken, gute Mittelschulen, Gymnasien und Universitäten gegangen ist, und der sicherlich mehrere Paar NIKEs besitzt, ohne ein Schaufenster hat zerstören zu müssen, um sie zu erhalten; wenn also derjenige, der diese beiden Minister ausgewählt hat und sie im Amt belässt, wenn dieser Präsident, der angesichts der Wut der Armen wegen der Erhöhung des Benzinpreises keine andere Antwort gefunden hat, als die unbewaffneten Armen mit schweren Waffen zu verletzen, zu verstümmeln und zu töten, wenn derselbe mit seiner Tim-und-Struppi-Frisur angesichts des Schmerzes und der Wut eines Teils der Jugendlichen und der Bürger wegen des Mordes an einem Kind behauptet, die Rebellion sei die Folge von Videogames und der Aussage eines Fußballers, der aus den Vororten stammt und daher versteht, was passiert, was nützt es also, in die Mediathek zu gehen, wenn man trotz der vielen Besuche dort solchen Bockmist verzapft?
Ja, die Mediathek, wie auch die Mittelschulen und Gymnasien, sind Orte, an denen man Dinge lernen, sich Wissen aneignen und das Wissen lieben lernen kann. Aber die Regierung hasst das Denken. Sie ließ in London einen Verlags-Korrespondenten unter dem Vorwand verhaften, er sei bei einer Demonstration gegen das neue Gesetz zum Rentenalter dabei gewesen. Die Regierung behauptet auch, die Umweltbewegung radikalisiere sich wegen der Lektüre eines Buches und nicht, weil das Leben auf diesem Planeten zerstört wird. Wozu also lernen?
Die republikanische Schule als sozialer Fahrstuhl? Das stimmt schon lange nicht mehr. Ich denke an meinen Vater. Er ging auf eine beschissene Schule in einem beschissenen Vorort, in dem wir immer noch leben. Diese Geschichte ereignete sich vor etwa 40 Jahren. Der damalige Kultusminister schlug vor, dass Künstler in die Schulen der Ghetto-Viertel der armen, arabischen und schwarzen Menschen gehen sollten. Es gab eine Schriftstellerin, die kam. Leider war sie eine Idiotin. Sie ging in die Klasse, setzte sich hin und sagte: Ich schreibe, um dem Tod zu begegnen. Da holte Mamadou, ein Freund meines Papas, er war ein ziemlicher Hecht, ein Messer heraus und sagte: Wenn Sie wollen, können wir das sofort regeln. Die Frau schrie um Hilfe, schrie und schrie. Mamadou wurde rausgeworfen und die Frau kam nie wieder zurück. Mamadou kam immer zu uns nach Hause. Er liebte es, wenn mein Vater Geschichten erzählte. Er ging nie wieder zur Schule. Er war im Drogenhandel. Das wurde uns an dem Tag klar, als er mit einem Mercedes auftauchte. Papa mochte ihn sehr, wir Kinder auch. Bei jedem Besuch brachte er uns Geschenke mit. Er wurde getötet. Entweder von den Drogenbossen oder von den Bullen. Wir haben es nie erfahren. Mein Vater meinte immer, dass Mamadous Leben vielleicht anders verlaufen wäre, wenn er nicht von der Schule geflogen wäre.
Denn nach der hysterischen Frau, die sterben wollte, kam eine andere Schriftstellerin. Sie war mutig genug, nach dem, was passiert war, zu kommen. An dem Tag, an dem sie lächelnd ankam, sagte sie hallo und bot an, eine Geschichte zu erzählen. Sie erzählte eine Stunde lang und, wie mein Vater sagt: man konnte eine Fliege fliegen hören. Am Ende ihrer Geschichte sagte sie, dass sie von einem Mann namens Franz Kafka geschrieben worden war, und versprach, zu erzählen, warum sie ihn ausgewählt hatte, aber vorher würde sie gerne von den Schülern hören, was sie dachten, wenn das möglich wäre. Mein Vater, wenn er sich an diesen Moment erinnerte – er hat nie aufgehört, darüber zu sprechen und ich glaube, es hat sein Leben verändert – erzählte immer: Sie lächelte, als sie diesen Vorschlag machte, sie lächelte oft, es war keine Höflichkeit, es war Respekt, ein tiefer Respekt für uns alle, wir hatten das Gefühl, wie Prinzen behandelt zu werden. Und alle haben geredet, es war ein Fest des Redens. Und sie sagte, dass sie sehr gerührt sei und dass sie sicher sei, dass wir gemeinsam schöne Dinge tun würden. Und am Ende des Jahres hat sie die Texte, die wir geschrieben hatten, in einem kleinen Buch zusammengefasst. Und sie stellte uns Faulkner, Malraux und Camus vor. Sie sagte, dass jeder schreiben kann, dass nicht jeder ein Schriftsteller ist, aber dass jeder schreiben kann. Und sie hat uns das bewiesen.
Mein Vater hat den ganzen Kafka gelesen, Faulkner und so weiter und so fort. Ich habe meine ganze Kindheit lang gehört, was sie geschrieben haben. Es waren diese Geschichten, die er Mamadou erzählte.
Eines Tages, als er von der Arbeit nach Hause kam, wurde er von Polizisten kontrolliert, die sehr beleidigend waren. Mein Vater lehnte eine Leibesvisitation mit der Begründung ab, dass er seine Rechte kenne, und verlangte, dass man ihn zur Polizeistation bringt. Die Polizisten kicherten: er kennt seine Rechte, der Nigger, und schlugen ihn zusammen. Er konnte nie wieder laufen, mein Vater. Aber für meinen Vater gab es keine Demonstrationen. Es war und blieb Routine. Eine Routine der Angst und des Leidens. Angst, Zielscheibe des Hasses zu werden. Leid der Ohnmacht, der Demütigung. Im Fall des Mordes am jungen Nahel wäre eine Anzeige ohne das Video und angesichts der falschen Berichte der Polizei völlig in die Geige gepisst gewesen.
Ich bin meinen Kumpels gefolgt, die die Türen und Fenster eines Krankenhauses zerschlagen haben. Der Gesundheitsminister hat gesagt, dass das ein Skandal sei. Der Minister musste in Mediatheken gehen, Universität und so weiter und so fort, vielleicht hat er sogar Kafka gelesen, aber Krankenhausbetten streichen, erschöpfte, weil ständig unterbesetzte Krankenhausteams hinnehmen, aufgrund von Personalmangel und miserablen Mitteln und Gehältern verwaiste Notaufnahmen und Psychiatrien: wie soll man das nennen? Und nicht zu vergessen, am Anfang von Covid war die Regierungssprecherin sehr dumm, anstatt das Volk wie einen Erwachsenen zu behandeln, wie es Merkel in Deutschland getan hat, und zu berichten, dass der Vorrat an Masken nicht erneuert worden war, behauptete sie, dass das Tragen einer Maske nicht notwendig sei, und dass es außerdem sehr kompliziert sei, eine Maske anzulegen. Und da sie, die Sprecherin, Diplome hatte, war sie davon überzeugt, dass jeder die kriminellen Lügen einer Dumpfbacke schlucken würde. Meine Kumpels hatten keinen Vater, der Kafka und den Rest gelesen hat, sie lesen keine Zeitung, sie wissen nicht, dass es die Dummheit dieser Verbrecherbande ist, die das Land in der Hand hat, die beschlossen hat, den Öffentlichen Dienst zu zerstören. Wenn sie ins Krankenhaus kommen, weil sie mit dem Fahrrad gestürzt sind oder etwas Schlimmeres, und fünf, sechs Stunden auf einen Arzt warten, ist für sie, die zwischen 13 und 17 Jahre alt sind, dieser beschissene Empfang die Schuld des Krankenhauses und nicht die der Regierung.
Willst du, dass ich weiterrede? Aber deine Zeitung kann nicht alles fassen, was ich dir zu erzählen hätte, dazu bräuchte es eine Vielzahl an Büchern in Dünndruckpapier … Wenn du willst, können wir in die Mediathek zurückgehen …“.
Im vorliegenden zweiten Teil gehen wir den möglichen Ursachen einer „Wirklichkeitsspaltung“ auf den Grund. Leiden wir massenhaft an einem psychischen Defekt, der „emotionellen Pest“: einer schweren Charakterdeformation, die sich seit COVID19 entwickelt hat und als Krankheit noch gar nicht erkannt wurde?
Auskämmen Manchmal – ach! Was sage ich? – meistens kommt alles auf einmal. Die Zeit, in der es vergleichsweise ruhig schien – ohne ständige Einschläge – fühlt sich rückblickend an wie die Phase, in der das Böse seine Kräfte sammelt, um konzertiert loszuschlagen.
Durch den Himmel über Deutschland donnern wechselweise unsere Air Defender (siehe IMI-Analyse hier) und Vernichtungsgewitter, so dass ich mich dabei ertappe, dass ich der Armee und den ihr zuarbeitenden Spitzenforschungsgesellschaften mit ihren Waffenwetter-Instituten, Wetterdrohnen und Hagelkanonen, zutraue, bei der negativen Beeinflussung des Klimas erfolgreich kooperiert zu haben. Wenig scheint mir in der aktuellen politischen Lage undenkbar. In jedem Fall bietet die Rumpfdemokratie an der Spree keinerlei Schutz vor solchen Übergriffen. Im Gegenteil: unverhohlen zeigt sie sich als treibende Kraft.
Auch der digitale Gott der kleinen Dinge spielt verrückt. Die Meteo-App prophezeit Ende Juni: „Hohe Gefahr für Leben und Besitz“. Vor lauter Sorge um sich selbst soll uns der Mund offen stehen bleiben, oder woran arbeiten diese Widgets, die von hauptberuflichen Risikofetischisten trainierten Helferlein? Mit ihnen wird das Leben schnell zur Qual. Die (neoliberale/postdemokratische/antirepublikanische) Verhängung der „Sorge um sich selbst“ führt zu einer vollständigen Entpolitisierung. Man ist vollauf damit beschäftigt, sein nacktes Leben zu sichern.
Gleichzeitig passiert der Kilo-Preis für frische Paprika die zweistellige Eurogrenze und lässt mich vor dem Gemüseregal erstarren beim Gedanken daran, dass neben mir shoppende Mitmenschen sich ein 800 PS starkes Sport- und Boden-Defender-Vehikel gegönnt haben, für dessen dreissig-Liter-Verbrauch sie ohne zu Zucken selbst 5,00 €/Liter Benzinpreis berappen würden, nur um ihr schweres Laptop-Gepäck mit infernalischen Gedröhn der Sidepipe zum Ort des nächsten Geschäftsabschlusses zu propellieren und dabei nicht davor zurückschrecken, über den Fußweg zu brettern, wenn ihnen die Klimakleber die Kreuzung blockieren. Aus welcher dunklen Quelle auch immer das hierfür nötige Finanz-Polster stammen mag – es bietet ihnen ganz sicher die Rechtfertigung für ihr sozialschädliches Handeln.
Lebe ich eigentlich noch im gleichen Realitätssystem wie diese Leute?
Na gut, auf Paprika kann ich verzichten.
Wenn nur nicht gleichzeitig mein Pass abgelaufen wäre. Die Neubeantragung dauert derzeit acht Monate. Ich hätte ja früher auf das Ablaufdatum achten können. Aber ich wache ja immer erst auf, wenn es zu spät ist und und bilde mir ein, die Verwaltung sei dazu geschaffen, auf mein Fingerschnippen zu springen.
Nein, die Verwaltung hat durchaus andere Dinge zu tun. Wichtigere. Zum Beispiel ist sie damit befasst, gegen einen verstorbenen Verwandten, der die letzten fünf Jahre mit Krebs und seitlichem Darmausgang liegend verbracht hat, eine Zwangsvollstreckung zu verhängen, weil er seine Steuer nicht bezahlt hat. Dabei ist ohne Belang, dass die Steuerschulden zu 50% aus Schätzungen des Gläubigers bestehen. Die andere Hälfte sind Säumniszuschläge. Ganz unbeachtlich für das Finanzamt ist dabei die gesetzliche Regelung, dass gegen einen Toten nicht vollstreckt werden – ja, was soll man sagen: – kann? oder darf? Die Eintragung der Vollstreckung ins Grundbuch kann jedenfalls nicht zurückgenommen werden. Die Schätzungen sind rechtskräftig geworden, weil die Widerspruchsfrist versäumt wurde und dies ganz unabhängig von der Tatsache, dass der tote Verwandte die fraglichen Jahre über ALG2-Empfänger und damit von der Zahlung der Einkommenssteuer befreit war. Viel triftiger aber ist: Unterbesetzung im Grundbuchamt. Die Bearbeitungszeit liegt jenseits der Lebenserwartung der Hinterbliebenen.
Ich muss unwillkürlich an das bei H.G. Adler („Der verwaltete Mensch“) dokumentierte „Schreibmaschinenauskämmprogramm“ (S. 611 ff) denken. Schreibmaschinen waren 1941/42 „kriegswichtig“. Der „Beauftragte des Reichskommissars für die Verwertung von Judenmöbeln“ (sic!) war gehalten, solches Eigentum regelmässig einzuziehen. Schreibmaschinen wurden zuerst konfisziert. Dagegen konnte ein Antrag eingereicht werden. Der Antrag musste maschinengeschrieben sein.
Wer jetzt denkt, das sei die berüchtigte Ekstase der Verwaltung, von der Hannah Arendt berichtet, täuscht sich. Es ist auch kein „Faschismusvergleich“, der hinkt. Ich berichte vom ganz normalen Alltag 2023.
Wem es unter diesen Bedingungen gut geht, der muss krank sein.
Adler fasst mit der für ihn typischen Lakonie zusammen (Kap.: „Die Verwaltung als Spiegelung“, S. 963): „Streng genommen sagt die Verwaltung nichts, sie schreibt. Was sie schreibt, ist ein Spiegel der Wirklichkeit, oder genauer: ein Spiegel der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Verwaltung betrifft den Menschen, der jeweilige Verwaltungsakt spiegelt unter den verschiedensten Perspektiven etwas den Menschen Betreffendes. … sie betrifft ihn nicht in der Person… sondern betrifft… nur die Person. Das ist keine Wortklauberei, sondern eine wesentliche Dezision, von der die Freiheit des Menschen, seine unangetastete Würde abhängt.“
Und weiter auf Seite 965:“Die Verwaltung ist wirklich, sagen wir, nur müssen wir uns über den Charakter ihrer Wirklichkeit im klaren sein.“
Kurzum: jede Gesellschaft hat die Verwaltung, die sie verdient.
Schädigen Aus einem Fragebogen zu Symptomen des posttraumatischen Belastungsstresses erfahre ich, dass Migräne, Wutausbrüche, Ängste, Schlafstörungen, Alpträume, Desorientierung, Schwindel, Zittern, Bauchschmerzen, Herzflimmern, wiederholt auftretender Durchfall, das Gefühl, man sei abgetrennt von der umliegenden Wirklichkeit und alles finde entweder rasend schnell oder in Zeitlupe statt, mit anderen Worten: alles, womit sich die Hälfte der Menschheit im Alltag so herumschlägt, zum „Trauma-Inventar“ gehören, soweit sie einem „schlimmen Ereignis“ folgen und entsprechend „Folgestörungen“ auslösen können.
Den Fragebogen muss ich ausfüllen, weil in dem Prozess, den ich seit acht Jahren gegen die Versicherung eines Mannes führe, der in seinem Auto betrunken mit 120 km/h frontal gegen mich prallte und dabei starb, der Rechtsbeistand der Beklagten mit Nichtwissen bestreitet, dass ich geschädigt wurde. Ein solcher Verkehrsunfall ist eine heftige Gewalterfahrung. Gewalt löst Trauma aus.
Traumatisch wirkt sich bei mir neben den permanenten Flashbacks des auslösenden Ereignis insbesondere dessen gerichtliche Behandlung aus: das spurlose Verschwinden von mehr als 400 Seiten Akten und Beweisen auf dem Weg von Landgericht zum Oberlandesgericht; der Kraftakt, nach zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahre alte Belege wieder zu beschaffen; das mehr als zweijährige Schweigen des gerichtlich bestellten Gutachters, der erst nach Verhängung einer Ordnungsstrafe zum letztmöglichen Termin vor seiner Entpflichtung ein Gutachten fertigte, das der Versicherung einen Freibrief ausstellt, nichts zu bezahlen; der Zwang, sich wöchentlich wieder in den Fall einzuarbeiten und den frechen Behauptungen des Anwaltes der Autoversicherung zu widersprechen, der rein alles für unsachlich, unangemessen und nicht nachvollziehbar hält, was ich vortrage. Hätte ich anfangs nicht meinen zwischenzeitlich abgelaufenen Pass vorgelegt, hätte er sicher das Klagebegehren zurückgewiesen mit dem Hinweis, meine Existenz sei strittig, bzw. ich hätte keinen ausreichenden Lebendnachweis erbracht.
Die Erfahrung der eigenen Ohnmacht ist ein Erlebnis von Gewalt.
Mit den Worten Adlers gesagt, spiegelt sich im Rechtsverständnis der Versicherung, deren einziges Ziel die Verweigerung einer (finanziellen) Leistungserbringung ist, und im Umgang der Gerichte mit den fatalen Strategien der (Versicherungs-)Konzerne unser bestimmendes Verständnis von Gesellschaft.
Wir nehmen die Auslösung und Verstärkung von Trauma durch verwaltungs- oder prozessrechtliche Strukturen ebenso als gegeben oder zumindest unvermeidbar hin, wie wir den Anspruch des Einzelnen auf eine (ohnehin in jedem Fall unangemessene, weil bloß geldliche) Kompensation in Frage stellen. Daran darf niemals jemand rütteln, weil sonst die Wirklichkeit aus dem Gefüge gerät. Für unsere Gesellschaft „systemrelevant“ ist ein ungeschädigter und geschützter Wirtschaftsbetrieb. Das Befinden des Einzelnen ist vergleichsweise gleichgültig. Mancher mag diesen Zusammenhang für verdeckte Gewalthalten. Gewalt löst Trauma aus, ob sie nun direkt oder versteckt wirkt. In jedem Fall richtet „der Staat“ eine Art Bannmeile oder Tabuzone um genau jene Merkmale herum ein, die für seine Version der Wirklichkeit konstituierend sind. Die Säure des Zweifels darf seine Säulen nicht angreifen. Nicht aufgearbeitete, verdrängte Gewalt dringt tief ein.
Deformieren Ich möchte ein letztes Beispiel geben, bevor ich versuche, jenen pathologischen Charakter näher zu bestimmen, der solche Formen der Wirklichkeit erzeugt.
Vergangene Woche haben wir uns mit einigen Freunden zusammen gesetzt, um ein Resümee der vergangenen drei Jahre zu ziehen und zu überlegen, wohin es von hier aus weiter gehen könnte. Denn die Befürchtung machte die Runde, dass die unter COVID erprobten Beschränkungen bloß ein Testlauf, sozusagen das Vorspiel seien für noch kommende, viel drastischere Veränderungen.
Unsere Freunde erzählten: warum sie ihren Job verloren haben (nach 22 Jahre in der gleichen Firma), nachdem sie sich nicht hatten rechtzeitig impfen lassen; wie sie davon psychisch krank wurden und wie sie wieder aus dem Elend eines deprimierten Zustandes heraus gefunden haben; warum sich ihre Freunde nicht mehr gemeinsam an den Tisch setzen wollten, weil Geimpfte und Umgeimpfte angeblich nicht zusammen passen; sie erzählten, mit welchen Tricks sie versucht haben, diese Spaltung zu überwinden; ein iranischer Freund erzählte, dass er mit Verblüffung beobachte, wie sich alle über „Maske ja oder nein“ entzweit hatten, aber niemand mehr darüber sprach, dass Menschen auf Booten im Mittelmeer sterben, die ganze Natur vertrocknet und dass viele Zeitgenossen unsere falsche Energiepolitik und die immer unübersehbarere autoritäre Deformation des Alltags einfach über diesen lächerlichen Streit vergessen hätten; eine Freundin, die lange in Mittelamerika gelebt hat, erzählte, dass die Deutschen immer besonders folgsam, besonders obrigkeitshörig, besonders stumm sind, wenn himmelschreiend beschissene Dinge passieren. Aber warum? Immer wieder wurde festgestellt in der Runde, dass die Leute, unabhängig von ihrer angeblichen politischen Ausrichtung, nicht bereit sind, im Alltag auch nur auf das Geringste zu verzichten. Das werfe ein Licht auf die Möglichkeit, mit ihnen Gesellschaft zu verändern.
Freunde, die im äußersten Zipfel Brandenburgs an der Grenze zu Mecklenburg leben, berichten, dass sie von der Polizei während der zur Corona-Eindämmung verhängten Reisebeschränkungen auf dem Weg zum nächst gelegenen Lebensmittelgeschäft 1 km vor dem Ziel von der Polizei gestoppt und zum 19 km entfernt gelegenen Supermarkt in Brandenburg geschickt wurden, dies mit der Begründung, dass ihnen die Einreise verboten sei, wohingegen Mecklenburger frei nach Brandenburg einreisen durften, da dort keinerlei vergleichbare Eindämmungsmaßnahmen bestünden. Auf die Sinnwidrigkeit hingewiesen, erklärten die Polizisten, dies zu ändern, liege nicht in ihrer Macht. Es handele sich um eine Anordnung „von oben“, deren korrekte Einhaltung sie zu überwachen hätten.
Kündigung, das Erdulden von restriktiven Maßnahmen und polizeilichen Schikanen und der Verlust von Freunden können durchaus Ereignisse sein, die traumatische Folgen haben. Aber nicht immer ist sicher, dass der Auslöser erkannt und die Störung somit beseitigt werden kann. Oft finden, schon als Teil der traumatypischen Vermeidung, falsche Zuschreibungen statt und verschütten den Täter-Opfer-Zusammenhang.
Ein weiterer Freund erzählte von seiner kürzlich Reise zu einer Demo in den Alpen, wo Aktivisten aus vielen europäischen Ländern gegen ein – wie sie finden – sinnloses und naturzerstörendes Tunnel-Großprojekt demonstriert haben: die Franzosen besprechen, wie sie während der Demo vorgehen wollen; die Italiener streiten wie verrückt und können sich nicht einigen, weder untereinander, noch mit den anderen Aktivisten; die Deutschen stehen schweigend, skeptisch und wenn sie mal reden, dann nur über ihren persönlichen Schutz (Gasmasken etc.).
Ähnlich frappiert waren wir angesichts des nächsten Gesprächsthemas, in dem es um die „Antiverschwurbelte Front“ ging, eine Antifa(?)–Subgruppe, die gegen Umgeimpfte „kämpft“ und bis heute „ZeroCovid“ fordert: was ist los mit den Deutschen? Grassiert jetzt im Nachgang zur Pandemie eine schleichende Krankheit, die wir alle noch gar nicht als Krankheit erkannt haben? Es können doch nicht alle gekauft sein!?
Ohne uns für besonders paranoid zu halten, konnte doch niemand in der Runde gänzlich ausschließen, dass es sich bei diesem Phänomen womöglich um die „amtliche“ Eingemeindung der kapitalismuskritischen Splittergruppen zur Amplifizierung der Regierungsstrategien handele.
Eine Freundin erzählte, dass ihr eine besondere Intoleranz angesichts maßnahmekritischen Fragen und ein außerordentlicher Erfüllungsdruck gegenüber verhängten Vorschriften überraschenderweise im Bereich von LGBTQ-Gruppen aufgefallen wäre. Ist das Teil eines gouvernementalen Tricks, vorgeblich Schutz für bedrohte Minderheiten zu bieten, um diese gleichzeitig als Verstärker der autoritären Politik zu missbrauchen?
Zur Erinnerung Foucaults Definition aus „Analytik der Macht“, S. 148 ff: „Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung…hat.“ Etwas dergleichen muss wohl passiert sein seit 2020. Oder doch schon seit 1920, wie im „Konspirationistischen Manifest“ vermutet wird: die Korrektur der Einstellung der Bevölkerung als Hauptarbeitsgebiet regierungsdienstlicher Agenturen?
Der Gedanke führt zu der Frage, wie die (geistige) Eingemeindung im Einzelnen ins Werk gesetzt wurde und auf welcher psychischen Disposition sie beruht. Die Eingemeindung ist schließlich kein voraussetzungsloses Verfahren. Welche Art von mentalitätsmässiger Voraussetzung, um nicht zu sagen: Deformation muss vorliegen, damit solche Desaster möglich sind, wie wir sie in den vergangenen drei Jahren zuhauf erlebt haben und die in Zukunft nicht weniger werden, wenn wir sie nicht aktiv verhindern?
Ausbrüten Um diese Frage oder zumindest ihre massenpsychologische Facette zu beantworten, zitiere ich aus meiner Auseinandersetzung mit der Forschung von Andreas Peglau, den ich im Beitrag „Wirklichkeitsspaltung“ bereits als Analytiker mit großem Interesse an jüngster deutscher Geschichte und Herausgeber von Wilhelm Reich vorgestellt habe.
Der für unsere Frage hier maßgebliche Essay aus Reichs Werk, „Die emotionelle Pest“, erschien erstmals 1945 in dem Band „Charakteranalyse“ und wurde 1949 als neuer Abschnitt in die amerikanische Ausgabe der „Massenpsychologie des Faschismus“ eingefügt.
Um die Sache kurz zu halten, zitiere ich hier Reichs eigene Aufzählung der Charakteristika, die schnell klar macht, um was es ihm geht (S. 252 ff): „Der Ausdruck emotionelle Pest ist keine diffamierende Bezeichnung … Würden wir die emotionelle Pest nicht als eine Krankheit im strengen Sinne des Wortes betrachten, dann gerieten wir in Gefahr, den Polizeiknüppel statt Medizin und Erziehung gegen sie zu mobilisieren. Es ist ein Wesenszug der Pest, dass sie den Polizeiknüppel notwendig macht und derart sich selbst reproduziert. Trotz der Bedrohung des Lebens, die sie darstellt, wird sie niemals mit dem Polizeiknüppel bewältigt werden. … (Es sind) gerade die wichtigsten Lebensgebiete, auf denen sich die Pest betätigt:… passive und aktive Autoritätsucht; Moralismus;… parteiliches Politikantentum; familiäre Pest, die ich als Familitis bezeichnet habe; sadistische Erziehungsmethoden, masochistische Duldung solcher Erziehungsmethoden…; Tratsch und Diffamierung; autoritärer Bürokratismus; imperialistische Kriegsideologie; kriminelle Antisozialität;… Rassenhass. Wir sehen, das Gebiet der emotionellen Pest deckt sich ungefähr mit dem weiten Gebiet der sozialen Übel… Mit einiger Ungenauigkeit könnte man das Gebiet der emotionellen Pest … mit dem Prinzip der Politik überhaupt gleichsetzen.“
Kriminalität, Sadismus, Masochismus, familärer Druck und aggressiv ausagierte Autorität, Krieg und Hass sind sämtlich destruktiv. Formen der Anwendung von Gewalt. Wirken, wenn sie massenhaft, im gesamtgesellschaftlichen Maßstab auftreten, wie ein kollektiver Verkehrsunfall mit Todesfolge für die sozialen Bindekräfte. Die Mehrheit der Betroffenen ist dann traumatisiert – und kaum einer merkt es, weil alle ähnlich schlecht dran sind. Die seelisch Verletzung scheint „normal“, wenn alle aus der gleichen Wunde bluten.
Wohl gemerkt, Wilhelm Reich spricht hier von einer schweren Charakterstörung, einer sogenannten Biopathie. Er konstatiert: die „emotionelle Pest“ sei höchst ansteckend. Periodisch komme es zu „Massendurchbrüchen“. Dann sind fast alle Mitbürger von der Charakterdeformation des „Politikantentum(s)“ infiziert. Alle können plötzlich nur noch destruktiv handeln, denn ihr „biologischer Kern“ (das potentiell Gute in uns allen, der uns befähigt, »ein unter günstigen sozialen Umständen ehrliches, arbeitsames, kooperatives, liebendes, oder, wenn begründet, rational hassendes Tier« zu sein) ist tief verschüttet.
Die Idee der Pest wird Reich fortan begleiten. Eindrucksvoll beschrieben hat er sie in seiner »Rede an den kleinen Mann« (1946). Er bemerkt, er habe »zunächst mit Naivität, dann mit Staunen und schließlich mit Entsetzen« erlebt, »was der kleine Mann aus dem Volke sich selbst antut; wie er leidet, rebelliert, seine Feinde verehrt und seine Freunde mordet; wie er, wo immer er als ›Volksvertreter‹ Macht in seine Hände bekommt, sie missbraucht und grausamer gestaltet als die Macht, die er seitens einzelner Sadisten der oberen Klassen zu erleiden hatte«.
Und schließlich: „Man kann den faschistischen Amokläufer nicht unschädlich machen, … wenn man ihn nicht in sich selbst aufspürt, wenn man nicht die sozialen Institutionen kennt, die ihn täglich ausbrüten.«
Hinter jeder Verwaltungsentscheidung, Regierungsverlautbarung, Handlungsanweisung, die das Verhalten der Bürger lenken und korrigieren soll, steht ein Mensch. Nichts davon ist anonym geschehen. Jeder dieser Menschen hätte – rein fiktiv – auch anders entscheiden können.
Jeder: vom Reichskommissar, der von den „Judenmöbeln“ zuerst diejenigen „auskämmt“, mit denen die Eigentümer ihre Ohnmacht hätten überwinden und sich im Rahmen der Verwaltungsvorgaben zur Wehr setzen und ihre Würde wahren können, bis hin zu den aktuellen Gesundheitsministern und Ideologen im Auswärtigen Amt, die unsere Feinde bestimmen.
Doch jeder dieser Menschen ist nicht nur Täter. Auch er ist schwer deformiert, Opfer jener Charakterstörung, die sich, wie es in Wilhelm Reichs Wortbild schon angelegt ist, gleich der Pest ausbreitet und niemanden schont.
Unsere Einschätzungen, Gefühle, unsere innere Bewegtheit, die bewusste oder unbewusste Wahrnehmung der Lage, in der wir uns gesellschaftlich und persönlich befinden, all das, was im Begriff der „Emotion“ zusammengefasst ist, sind angeschlagen. Wir müssen daran arbeiten. Wieder zusammenfinden, unser Herz im richtigen Rhythmus schlagen hören, gemeinsam atmen.
Gastbeitrag von Eric Ostrich anlässlich einer Zusammenkunft im Biergarten Jockel zu Berlin am symbolischen Datum 2. Juni, darin einige Auslassungen zur gegenwärtigen Wirkung des anonym verfassten Konspirationistischen Manifests, ergänzt um zwei Anlagen, die womöglich das Verständnis des Gastbeitrages erhöhen, sicher aber das Herz erfrischen.
Der nunmehr schon über drei Jahre währende Angriff der neuen Gegenwart auf die bisherige Zeit hat tiefe Spuren hinterlassen. Was man gewohnt war, ohne groß darüber nachzudenken, als Gesellschaft hinzunehmen und unausgesprochen vorauszusetzen, hat schwere Verwerfungen, Spaltungen, Zerstörungen, Neuformierungen erfahren, mittels derer die jeweils Einzelnen sich nun monadisch in einer zur Kenntlichkeit gebrachten Welt der Entfremdung, Asozialität und der Antagonismen zurechtzufinden haben, die nun, nach außen gekehrt, ihnen kein kritischer Theoretiker mehr zu erklären hat. Sie finden sie vor.
Dies war nun durchaus auch der Veranstaltung anzumerken, die am Freitag, 2. Juni, im Biergarten Jockel am Rande von Kreuzberg abgehalten wurde. Als Anlaß genommen wurde das Konspirationistische Manifest, das übrigens parallel zur Veranstaltung nunmehr auch in den USA und Großbritannien veröffentlicht wurde, versehen mit einem Vorwort (* siehe unten), das wiederum auch schon auf Deutsch vorliegt. Das Buch wurde von einer aus Frankreich kommenden anonymen Autorengruppe verfaßt, die selbst darum bemüht ist, sich in der in Windeseile umgestürzten Welt (in der sie mit Verwunderung feststellen, daß sie 2020 auf den Straßen plötzlich nicht mehr ‚revolution‘ sondern ‚liberté‘ gerufen haben) zurechtzufinden und die jüngsten Ereignisse in einen geschichtlichen, vor allem auch geistesgeschichtlichen, staatswissenschaftlichen Zusammenhang einzuordnen, in dem über die letzten Dekaden mittels Psychologie, Bio- und Hirnchemie, Informatik, Nanotechnologie und nicht zuletzt Militär, Geheimdiensten, Aufstandsbekämpfung nach und nach eine die Welt umspannende praktische Antwort auf die ‚Widersprüche des Spätkapitalismus’ durchgesetzt wurde. Im Covid-Gesamtkunstwerk durfte diese ihren ersten wahrhaft großen Auftritt bekommen, dem in Variationen die Da Capos folgen werden. Oder: „Auf die Vorwäsche folgt in aller Regel die Hauptwäsche“, wie an diesem Abend formuliert wurde. Und all dies wurde implementiert inklusive auf willige Bereitschaft stoßender Integration alles Linken. Wie es zu diesem brutalen misanthropischen Aberwitz kam, versucht das Manifest nachzuvollziehen, nachzuzeichnen und damit einen Anfang der Erkenntnis zu setzen, dessen Folgen und Ende noch ganz im Ungewissen bleiben.
Dies war nun in etwa auch die Atmosphäre, die bei der Jockel-Veranstaltung zu vernehmen war: Die fünf Beiträge, die vom Podium kamen, waren allesamt kurz, zurückhaltend, tastend, könnte man sagen. Keine vehementen Kampfansagen, keine mit schwerer Miene vorgetragenen theoretischen Ausführungen, sondern eher Mitteilungen – zum Beispiel über Denunziationen ehemaliger Genossen gegen ihre angestammte Arztpraxis (samt folgender Praxisdurchsuchungen und Prozesse), da diese sich nicht an den Maskenirrwitz halten wollten; oder schüchterne Erinnerungen an die Maschinenstürmer, deren Zeit nunmehr, angesichts eines feindlichen Projekts zur Konstruktion eines neuen Menschen im Sinne und mittels der kybernetischen Herrschaft, vielleicht wieder gekommen ist, um – wer weiß? – einen ersten Funken zu einer umstürzlerischen Bewegung in einer ungewissen Zukunft zu geben; oder nachdenkliche Überlegungen über das, was denn nun die Seele sei, vielleicht „eine bestimmte Form, lebendig zu sein“, und ein Appell, „den nötigen Abstand von all dem zu gewinnen, was unsere Seelen so zurichtet, daß wir uns dem Gesetz des Kapitals freiwillig unterwerfen, um uns aus dieser Distanz die nötige Luft zum Atmen und Denken zu verschaffen“ (Überlegungen, die, was eben heute gar nicht mehr überrascht, von einem bislang eher der intervenierenden Linken zuzurechnenden Vortragenden angestellt wurden); ergänzt von einer anderen Podiumsteilnehmerin mit der Vermutung, daß wir nunmehr auf ganz anderem Niveau „nicht mehr Herr im eigenen Hause“ seien und die Menschen, frei nach Freud und wörtlich nach John Cleese, „will give up everything except their suffering“.
Dies alles also bewußt bescheiden, sich praktischen Erwägungen weitgehend enthaltend (sieht man vom Verweis des Moderators des Podiums auf die in einigen Straßen „generalsstabsmäßig improvisierten Angriffe“ an Silvester in Berlin auf die Polizei, die als beginnende Rache für die Ausgangssperren intepretiert wurden), wie sich heranpirschend an eine Aufgabe, deren Dringlichkeit man zwar kräftig spürt, deren Inhalt man aber noch kaum erahnen kann.
Und all dem lauschte konzentriert und ruhig ein Publikum von immerhin deutlich mehr als hundertfünfzig Leuten, die dann jedoch, als der Podiumsteil beendet war, sich zunächst im Saale sehr mitteilungs-, beitrags- und gesprächswillig zeigten, was sich dann noch über Stunden hinweg drinnen wie draußen im Biergarten fortsetzte. Hielt man die Ohren ein wenig auf, war nicht zu überhören, daß hier allerlei Menschen zusammengekommen waren, die sich noch vor wenigen Jahren wahrscheinlich nicht mal von hinten angesehen hätten und nun aber sogar bisweilen über die hergebrachten Grüppchenspaltungen hinweg ein paar erste vielleicht Orientierung suchende Wörter tauschten, inklusive einiger altgedienter „Häuptlinge, die sich unsicher auf die Suche nach Indianern begaben“, wie ein zum Anarchischen neigender iberischer Besucher des Abends formulierte.
Alles ein Anfang eben? Vielleicht. Moment eines Bruchs mit der gesellschaftlichen Welt, ähnlich dem im Manifest erinnerten Bruch des vormarxistischen Lukacs’ angesichts des 1. Weltkriegs? Vielleicht. Vielleicht aber auch nur eine Zusammenkunft genesungswilliger (Post-/Prä-)Traumatisierter. „The future is unwritten“ (Laurenz von Arabien beziehungsweise Joe Strummer).
Angemerkt sei noch zur Vollständigkeit und für die Chronik, auch wenn das heute keinen Neuigkeitswert mehr hat, daß von Seiten der Linken – in diesem Fall der Partei dieses Namens, dann der anderen mit dem Kürzel SPD und von diversen Einzelnen, die in ihrer Begriffsverwirrung sich Antifaschisten nennen, ansonsten aber sehr gerade denken – allerlei Anstalten unternommen wurden, die Veranstaltung zu verhindern – allerdings, auch dies bemerkenswert, kaum öffentlich, sondern hinterrücks mittels ökonomischer und moralischer Erpressung. Daß ihnen dies nicht gelungen ist, kann man vielleicht bis auf Weiteres als positives Moment nehmen. Daß in dem Ganzen auch nicht im Entferntesten ein ‚2.-Juni-Spirit’ hauchte, ist nicht überraschend und wohl auch gut so. (An eine alte Bedeutung wurde im Übrigen angenehm zurückhaltend erinnert mit einem Auszug aus der Autobiographie Norbert ‚Knofo‘ Kröchers, der als Flugzettel auslag.)
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Anlage 1: Vorwort zur englischen Ausgabe des Konspirationistisches Manifest
DasKonspirationistische Manifest ist zum ersten Mal im Januar 2021 erschienen und zwar bei Éditions du Seuil, einem ‚angesehenen‘ linken Verlagshaus in Paris. Die strikte Anonymität des Buches brachte einen ein wenig speziellen Veröffentlichungsprozess mit sich, so daß es erforderlich war, niemanden aus dem Verlagshaus außer den Chef bei dem Vorhaben ins Vertrauen zu ziehen. Da wir ja in einer Demokratie leben, war es von da ab logisch, daß die französische Polizei meinte, guten Grund zu haben, das eine oder andere diskrete Treffen mit besagtem Chef auf ungeschickte Weise zu beschatten, den mit dem Vorhaben verbundenen Schriftwechsel abzufangen und gar, weil ‚Gefahr‘ bestehe, zu zerstören. Und es war ebenso logisch, daß dieselbe Polizei es dringlich fand, sogar noch vor Veröffentlichung des Buchs unter dem Namen eines ihrer journalistischen Gehilfen einen Artikel erscheinen zu lassen, der vorgab, die Anonymität der Autoren aufzudecken und den Inhalt des Buches so gut wie möglich zu verleumden, um seine Rezeption in eine bestimmte Richtung zu lenken. Da es nicht gelang, sein Erscheinen zu verhindern, wurde, kann man sagen, alles getan, den Herausgeber davon abzubringen, es zu verbreiten, die Buchhändler davon, es zu verkaufen, und – ohne Erfolg – die Leser davon, es zu lesen. Immerhin leben wir in einer Demokratie, und es wäre schädlich, wenn die Bürger unglücklicherweise mit gefährlichen Ideen in Kontakt kämen oder gar mit schockierenden Wahrheiten. Es ist wichtig, daß die Polizei über die mentale Sicherheit der von ihr Verwalteten wacht. Bereits jetzt arbeitet die französische Armee an der Theorie, daß in den globalen Konflikten von nun an die Aufrechterhaltung der ‚safe sphere‘ der Bevölkerungen auf dem Spiel steht – damit keine Gefahr droht, daß die epistemologische Blase in Unruhe versetzt wird – oder, wer weiß, sogar zum Platzen gebracht wird? – , in der sich dank der technologischen Apparatur, die nunmehr den Zugang zur Welt steuert, jeder Bürger gefangen findet. Das ist die Annahme der Direktorin der Cybersecurity and Infrastructure Security Agency des Department of Homeland Security (DHS), zuständig für den Kampf gegen ‚Misinformation, Disinformation and Malinformation‘, Jen Easterly, wenn sie auf einer Konferenz im November 2021 erklärt: ‚One could argue we’re in the business of critical infrastructure, and the most critical infrastructure is our cognitive infrastructure‘. Ein Glück, daß unser Gehirn in so guten Händen ist. Jeder wird wohl kapiert haben, daß die direkte ‚Regulierung‘ der sozialen Netzwerke durch das FBI und das DHS, die unter dem Vorwand des Kampfes gegen Covid-19 in Gang gesetzt wurde, in Wirklichkeit ein Abbild der Zukunft ist – einer Zukunft, die sich schwerlich ohne die Atmosphäre des dritten Weltkriegs verwirklichen lässt, eine Atmosphäre, die entschlossen und methodisch gerade schon herbeigeführt wird. Denjenigen, die geglaubt haben, die Phase der Pandemie sei nur ein Zwischenspiel gewesen und nicht ein konstituierender Akt, wird nun die Rechnung präsentiert. Indem er das Trauma von 2020 leugnet, unterzeichnet der Bürger den sozialen Pakt, der ihn an seinen Scharfrichter bindet. So sind die ‚Politischsten‘ plötzlich zu den am stärksten Getäuschten geworden, die ‚Kultiviertesten‘ zu den Dümmsten und die ‚Kritischsten‘ zu den Stummsten.
Einen Monat vor dem Erscheinen dieses Manifeste geschah der spektakuläre und qualitative Sprung in den Krieg, mit der Ukraine als blutbesudelte Rassel. Man kann getrost sagen, daß der ‚neue Kalte Krieg‘, den offenzulegen nun allerlei Leute vorgeben, im Manifeste durchweg präsent ist. In Wahrheit konnte niemand, der sich zu informieren weiß, ignorieren, daß schon seit Jahren die strategische Entkoppelung der USA von China im Gange war, daß die allgemeine Wiederaufrüstung zügig voranschritt, wie auch die Gerüchte über die Rückkehr des ‚konventionellen Kriegs‘, daß die Fertigstellung von Nord Stream 2 schon allein für sich ein casus belli für die USA war oder daß die NATO schon den Weg zum ‚kognitiven Krieg‘ geebnet hatte. Ausgangssperre, Generalmobilmachung, Belagerungszustand, verstärkte Kontrolle des öffentlichen Raums und der Bevölkerung: Auch die militärische Tonart des ‚Kriegs gegen den Virus‘ verhieß nichts Gutes. Zudem war es einfach, zu erahnen, daß die großen Verbrechen, die unter dem Deckmantel des Pandemie-Managements begangen wurden, nicht anders als durch noch größere Verbrechen ausradiert werden konnten. Die Flucht nach vorne ist die einzige Art und Weise, den Konsequenzen solch enormer Lügen und Rechtsbrüche zu entkommen, und nur der Krieg mit den Ausnahmemaßnahmen, die er erlaubt, ermöglicht es, das Schisma in der erlebten Wirklichkeit, das sich immer weiter auftut, zu vermindern und dadurch die unabwendbare Rache zu vertagen. Auf diese Weise halten sich die Imperien, die sich im Zustand fortgeschrittenen inneren Zerfalls befinden, aufrecht, eines sich am anderen stützend. Es ist jedoch unnötig, hier noch das zu ergänzen, was in diesem Buch zur Genüge erhellt wird – die Fortdauer des Kalten Krieges, die duale Natur der Gesamtheit der heutigen Technologien, das Kontinuum zwischen der Biopolitik der Pandemie und der Thanatospolitik des bewaffneten Konflikts, das Regieren durch Trolls, die Ökologie als Vorwand zur Beschleunigung der Verwüstung, der infrastrukturelle Charakter der gegenwärtigen Macht und damit der aktuellen Kriege etc. Eineinhalb Jahre nach dem Erscheinen des Manifeste muß man zugeben, daß eine Sache darin überholt ist: Wir haben, insbesondere am Anfang des Buchs, eine ganze Reihe von Neppereien für Trottel vorgelegt – kategorische Behauptungen (von denen wir aber aus sicherer Quelle wußten, daß sie als zutreffend erwiesen waren) über das Virus und seine Herkunft, über die ‚Impfungen‘ und ihre Sekundäreffekte, über die psychopolitischen Manipulationen und die Zensur, mit denen wir beabsichtigten, das, was damals medienwirksam als Evidenz durchging, zu erschüttern. Heute wird das, was damals als billige Provokation oder Spinnerei von Verschwörungstheoretikern galt, ‚faktisch‘. ‚wissenschaftlich‘, ‚statistisch‘, kurz und gut: historisch bestätigt. Man findet es in den Berichten der Bundesbehörden oder hört es aus dem Mund von Jeffrey Sachs. Das spricht für sich. Den Trotteln bleibt nun nur noch das Durcheinandermischen, die Unterstellung, die Verleumdung und die Wichtigtuerei, um den Eindruck zu erwecken, daß sie inmitten der Trümmer ihrer abgesoffenen Positionen noch oben schwimmen – die ganzen rhetorischen Techniken, wenn es darum geht, die ‚verschwörungstheoretischen‘ Wahrheiten zu attackieren, die sich im Grunde nicht geändert haben, seit der CIA sie, mit dem Schiffbruch infolge der Schlüsse der Warren-Kommision konfrontiert, in seinem berühmten Memorandum von 1967 angeraten hatte. Ihr Ertrinken erregt bei uns keinerlei Mitleid. Wir wünschen ihnen alles Glück dieser Welt.
Der amerikanische Leser wird in diesem Buch eine Menge Genealogien finden, die auf direktem Wege in die Vereingten Staaten führen und, etwas allgemeiner, eine Zusammenführung von in ihrer Mehrheit angelsächsischen Quellen. Es gehört zum stolzem Provinzialismus des alten Europa, zu leugnen, daß es seit einem guten Jahrhundert unter Vorherrschaft lebt und von daher von seiner eigenen jüngeren Geschichte nichts verstehen kann. Diese Sache ist jedoch schon 1909 einem Dichter nicht entgangen, der damals im L’écho des sports schrieb: ‚Man muß Amerikaner sein oder zumindest als solcher erscheinen, was genau dasselbe ist. (…) Gewiß, die ganze Welt ist amerikanisch, aber man ist es mehr oder weniger. (…) Ihr sollt immer geschäftig erscheinen.‘ (Arthur Cravan: ‚To be or not be American‘) Während es alles andere als sicher ist, daß das neue Jahrhundert amerikanisch sein wird, gibt es doch keinen Zweifel, daß das vergangene es durch und durch war. Einer der exemplarischsten Konspirationisten der Geschichte, Philippe Buonarroti, beschrieb in den 1830er Jahren die Vereinigten Staaten als ein ‚in demokratische Formen gekleidetes feudales Regime‘. In diesem Punkt weist die amerikanische Geschichte eine bewundernswerte Konstanz auf – was übrigens nichts vom ganz und gar konspirationistischen Charakter der amerikanischen ‚Revolution‘ selbst wegnimmt, die, in den Worten von George Washington, auf der Seite Londons ‚einen regelrechten, systematischen Plan‘ erkannt hat, der darauf abzielte, die Kolonien der Neuen Welt zu unterjochen. Es ist wahr, daß es im Land der confidence men schwierig ist, in wen oder was auch immer Vertrauen zu haben. Die Geschichte ist mehr denn je der Alptraum, aus dem wir zu erwachen versuchen. Es bleibt kein großer Rest mehr an Weltvertrauen bei denen, die in Facebook die privatwirtschaftliche Verwirklichung des LifeLog-Projekts der DARPA zur totalen Überwachung sehen, die die Hintergründe der Verschwörung erkennen, die die Sabotage von Nord Stream 1 und 2 herbeigeführt hat; auch für die nicht, die feststellen müssen, mit welchem Zynismus das State Department und die CIA die woke Rhetorik mit dem Zweck übernehmen, in neuer Verkleidung ihre ewig gleichen Absichten zu verfolgen. Der Schutzheilige des Antikonspirationismus, Karl Popper, schrieb in den 1960er Jahren: ‚Der Glaube an die homerischen Götter, deren Verschwörungen die Geschichte des Trojanischen Kriegs erklären, ist verschwunden. Aber ihre Stelle nehmen heute die Weisen von Zion, die Kapitalisten, die Monopolisten oder die Imperialisten ein.‘ Diese rhetorische Technik erlaubte es ihm, jede artikulierte Kritik der Beherrschung durch das Kapital unhörbar zu machen, indem er sie des Antisemitismus verdächtig machte. Ein großes Glück, daß man heute dank der historischen Archive die Missetaten der Monopolisten und der Imperialisten der 1960er Jahre kennt und weiß, wie sie auf vielen Gebieten den Kurs der Welt bestimmen konnten – und wie sie uns an diesen Punkt des vollständigen Desasters gebracht haben. Der Grad der Anhäufung von Reichtum und Macht ist so groß, daß die Führungsgruppen, bei all ihrem Hang zum Empirismus, nun Pläne entwerfen können und nicht mehr simple Strategien. Die Idee, die alten Kategorien zur Verstehbarkeit der Geschichte erhalten zu wollen, steht uns selbstverständlich fern. Möge die Veröffentlichung dieses Buchs auf Amerikanisch bei der Verfeinerung dieser Kategorien und uns zum Verstehen des Alptraums, in dem wir uns versunken finden, helfen. Mögen wir endlich diesem Alptraum entkommen, die Wächter des Schlafs vertreiben und uns endlich in das vita nuova aufmachen, das in jedem Moment in Griffweite liegt.
Anlage 2: Knofo ./. Korinthenkacker
… Was lernen wir daraus? Was ihr daraus lernt, weiß ich nicht; ich habe daraus diese Konsequenz gezogen: Vergiss die meisten der sich irgendwie ›links‹ Gebärdenden. Kritiker meinen, mit dieser Linken sei kein Staat zu machen. Ganz im Gegenteil, ganz im Gegenteil.
›Bio‹ einkaufen, ›vegan‹ essen, aber zweimal im Jahr mit dem Billigflieger irgendwohin düsen und damit eine der weltweit größten Umweltsauerein unterstützen; das ist nicht nur Selbstbetrug, sondern blanke Heuchelei. Denn die Medaille hat zwei Seiten: Widerstand und Verweigerung. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar, nicht machbar. Verweigerung fängt beim Selbst an: Inwieweit bist du in der Lage, dich den kapitalistischen Verwertungsprozessen zu entziehen, nicht mehr mitzumachen.
Es geht darum, Gegenmodelle zum Bestehenden zu entwickeln und – zu leben. Stattdessen leiden sie wie die Tiere unter ihrem bestialischem Unvermögen, die Welt zu erretten. Ihre Reservate sind von Spitzeln durchsetzt und jeder Funken individuellen Glücks wird gnadenlos übelgenommen, Humor konsequent abgetrieben. Wer lacht, fliegt raus.
Egal wie großmäulig sie sich aufführen, die ›Linken‹ sind schon längst nicht mehr Teil der Lösung. Sondern Teil des Problems. Und das hat eine Hauptursache: Den Dogmatismus, diese Pest, in den Reihen der einst revolutionären Linken. Die kämpferischen Inhalte bleiben durch diesen quasi religiösen Wahn letztendlich auf der Strecke. Das ist u.a. die selbstgestrickte und freiwillig angelegte Zwangsjacke der ›political correctness‹. Hinzu kommt, und das ist nicht minder wichtig, die Abwesenheit jeder kritischen Theorie, des Ober- und Unterbaus, wie man will. Anscheinend bemüht sich kaum noch jemand, durch profundes Studium und Analyse der Verhältnisse eine Grundlage zu erarbeiten, die schließlich zur Basis für adäquates Agieren dienlich sein sollte. Selbst die kleinste Widerstandshandlung, potenziert zur massenhaften Aktion, macht Sinn, bringt Fortschritt, kann schließlich zu einem Eckpfeiler des Widerstands gegen die kapitalistische Pest werden – wenn sie aus sich heraus plausibel ist. Selbstvermittelt, ohne Agitation.
Doch davon sind wir meilenweit entfernt. Der erhoffte kommende Aufstand wird zwangsläufig zum Umsturz werden, der ›die Linke‹ kalt auf dem Klo erwischt, denn er wird von anderen Kräften bestimmt werden. Die Krise, die immer größere Teile der Menschen ins Elend katapultiert, den Planeten immer weiter ruiniert, wird – bei ihrer finalen Entladung – zwangsläufig in ein Regime führen, in dem ›die Linken‹ keine Rolle mehr spielen werden; weil sie nicht darauf vorbereitet sind, keine Antworten mehr haben, überrollt werden. Eine Diktatur mit bis dato unvorstellbarem Staatsterror wird die Zukunft bestimmen. Das ist das letzte Kapitel, das die kapitalistische Pest schreiben wird, die nur noch ein Ziel hat: sich selbst, d.h. die herrschenden Besitzverhältnisse, um jeden Preis zu erhalten.
Wer immer nur alles hinnimmt, duldet, verspielt nicht nur jede Möglichkeit zur Veränderung, sondern macht sich auch mitschuldig an den bestehenden Verhältnissen, an der apokalyptischen Zukunft. Daran ändert auch die ganze ›linke‹ Maulhurerei nichts. Die ›Autonomen‹, die ›Antifa‹, die ›Überflüssigen‹ und wie sich die ach so radikalen Gebärdenden nennen – sie haben längst den Kontakt zur Realität und damit zur Masse der Menschen verloren, sofern jemals vorhanden -, führen ein Nischendasein, verlieren sich in ›Kampagnen‹, die keine dauerhaften Ergebnisse zeitigen. Bestenfalls springen sie auf fahrende Züge auf, wo sie höchstens geduldet sind, aber nicht wirklich ernstgenommen werden, Partikularinteressen anderer Minoritäten temporär teilen dürfen. Wenn es z.B. um Flüchtlinge oder Zwangsräumungen geht. Oder wenn sie Sprachverhunzungen (großes ›I‹–Unterstrich für die bis dato in der Sprache unberücksichtigt gebliebenen Katzen und Hunde) mitverbreiten helfen dürfen. Auf diesen Nebenkriegsschauplätzen können sie dann ihre ganze Taliban-Mentalität austoben; die auch nur so lange anhält, bis sie zurück nach Westdeutschland gehen, um in Wanne-Eikel die Kunsthonigfabrik ihrer Eltern zu übernehmen. Oder in mehr oder weniger sinnfreien ›Projekten‹ zu landen. Oder um ihr weiteres Leben als Sozialhilfeempfänger zu fristen und sich in der geistigen und materiellen Armut auf Dauer einzurichten. Vielleicht gab es nie eine ›Linke‹, aber es gab im letzten Drittel des letzten Jahrhunderts einen allgemeinen Aufbruch – nicht nur der Jugend und nicht nur der Studenten -, der die Gesellschaft insgesamt durchgelüftet hat. Einige der damaligen Fortschritte haben es bis heute geschafft; der größte Teil aber landete in den Mühlen der Machthaber, wurde bis zur Unkenntlich zerrieben, kanalisiert und letztendlich vermarktet. Wenn sich nur irgendwelcher Profit herausschlagen ließ. An der kapitalistischen Verwertung und damit Zerstörung einst fortschrittlicher Inhalte haben nicht wenige der der einstigen und heutige Protagonisten tüchtig mitgewerkelt. Das hat ›die Linke‹ nicht überlebt. …«
KNOFO, Bewegung 2. Juni, 2016.
Für die Korinthenkacker – zitiert aus: Nobert »Knofo« Kröcher, K. und der Verkehr. Erinnerung an bewegte Zeiten, Erster Teil: 1950 – 1989, herausgegeben von Bert Papenfuß für Rumbalotte Prenzlauber Berg Connection e.V., Basisdruck: Berlin 2017, Prolog, S. 25 – 27.
In den zurückliegenden Jahren wurden immer mehr Mitbürger kriminalisiert und als Staatsfeinde gebrandmarkt, deren Überwachung durch die einschlägigen Dienste es bedürfe. Wie viele sind es? Nur ein Promille der Gesellschaft? Oder gar, wie andere glauben belegen zu können: 20%? 16 Millionen Bundesbürger im Widerstand? Zeichnet sich hier eine Wirklichkeitsspaltung ab, bei der die subjektiven Orientierungen der Menschen und das öffentliche System der staatlichen Institutionen gefährlich auseinander driften? Birgt das eine Hoffnung?
Im Sinne von (Wilhelm) Reich wäre es (…) falsch, Kapitalisten, Eliten oder gar einzelnen Führerinnen und Führern die alleinige Schuld dafür zu geben, dass sich dieses Interesse durchsetzt: Die anerzogene Zerstörungswut der »Massen«, also unsere Zerstörungswut, verlangt ebenfalls unbewusst nach einem System, das dieser Destruktivität Ventile verschafft. Auch wenn aus Politik,Medien und Wirtschaft machtvolle Vorgaben kommen, sind es doch vor allem wir, die als Eltern, Erzieher und Betreuer das ausführen, befürworten oder zulassen, was Sozialisierung genannt wird – und was wiederum in unseren Kindern destruktive Anteile erzeugt.
Andreas Peglau, Rechtsruck (2017)
Es kommt zu einer unmerklichen, aber folgenreichen Wirklichkeitsspaltung: Die subjektiven Orientierungen des Menschen und das öffentliche System der staatlichen Institutionen driften auseinander. Am Ende steht eine gebrochene Gesellschaftsordnung, in der … das offizielle Institutionengefüge völlig intakt und funktionsfähig erscheint – die Wahlen werden nicht gefälscht, die Korruption ist nicht endemisch, die Machtteilung wird respektiert, Recht wird gesprochen. Aber im Inneren dieser Gesellschaft brodelt es, mit Ausbrüchen ist zu rechnen, in der Abwendung vom System entstehen politische Schwarzmarktphantasien – das Einfallstor für Populisten jeder Art.
Zunächst ein Wort – nicht in „eigener Sache“, sondern in „unser aller“: zugleich eine Verneigung vor unseren Lesern.
Als wir am 23. April 2020 den Blog begonnen haben mit Inhalten zu füllen, ersetzte er eine Email-Info-Liste, deren Betrieb zunehmend unangenehm geworden war, weil sich der Stil der Auseinandersetzung zwischen uns, den Versendern, und unseren Freunden, den Empfängern, in kürzester Zeit herb verändert hatte.
Es war an der Zeit, uns persönlich aus der Schusslinie zu nehmen, spätestens als diejenigen, die wir für unsere Freunde gehalten hatten, anfingen, uns für unsere Fragen und Gedanken zum Pandemie-Management als Massenmörder zu beschimpfen, oder uns zumindest für solche Leute zu halten, denen zugunsten ihres „wohlfeilen Anti-Etatismus“ der Tod eines Großteils der Bevölkerung gleichgültig sei.
Die Email-Liste hatte selten mehr als 20 Empfänger. Das war unser engster Kreis, dem wir angeboten hatten, über Politik und Wirtschaft zu sprechen. Heute, drei Jahre danach, hat sich dieser Kreis auf insgesamt 100.000 Leser vergrößert (mit insgesamt 400.000 Seitenzugriffen) – die magische Linie der sechstelligen Zahl wird noch in dieser Woche überschritten. Damit hatten wir nicht gerechnet. Doch wir sind natürlich hoch erfreut.
Leider hat sich in ebenso unvorhersehbarem Maß der schwere Vorwurf in unserer Gesellschaft breit gemacht. Die Kriminalisierung schreitet voran. Ebenso wie die Spaltung.
Wer separiert sich da von wem?
Kriminalisierung
In den zurückliegenden Jahren wurden Mitbürger kriminalisiert und als Staatsfeinde gebrandmarkt, deren Überwachung durch die einschlägigen Dienste es bedürfe.
Diese Mitbürger wurden als potentielle Gewalttäter oder gewaltbereite Gruppierungen kategorisiert, gegen die präventiv Gesetzesverschärfungen mühelos – scheinbar im allgemeinen Einvernehmen – durchgesetzt werden konnten, deren Durchsetzung meist gerade nur noch haarscharf im rechtsstaatlich vorgesehenen Procedere stattfand, nicht selten, über demokratische Verfahren sich hinwegsetzend, deutlich grundrechtseinschränkend.
Der Zorn der Macht richtet sich gegen:
– Mieter, die offensiv für den Verbleib in ihrer Mietwohnung oder ihrem gemieteten Ladengeschäft kämpfen, insbesondere wenn sie nicht davon absehen, Unrecht, Spekulation und gesetzeswidrigen Umgang mit Eigentum an ihren Fensterscheiben in Wort und Bild öffentlich zu machen.
– G20-Gegner, die durch ihre Bekleidung und ihre Parolen im landläufigen Sinn beziehungsweise nach populistisch-medialer Ansicht als „Anarchisten“ einzuordnen seien. Echte Anarchisten aber sind rar geworden – solche wie die, die im spanischen Bürgerkrieg unter Beweis stellen konnten, dass sie mühelos in der Lage sind, eine ganze Großstadt – Barcelona – administrativ in den Griff zu bekommen, d.h. erfolgreich zu lenken. Treffender wäre es vielleicht, wenn man die mit dem Begriff bezeichneten G20-Gegner als libertäre Linke oder als Autonome bezeichnen würde – aber das ist ein Thema für einen eigenen Beitrag! Es steht jedenfalls fest, dass in der offiziellen Diktion kein Begriff abschätziger gemeint ist, als „Anarchist“.
Zurück zum Zorn der Macht. Er richtet sich ähnlich stark wie gegen Anarchisten auch gegen:
– Klimaaktivisten, die zu so radikalen Methoden der Blockierung greifen wie unangemeldete Demonstrationen und zu hemmungslosem Einsatz ihres eigenen Körpers neigen: für unser aller Rettung vor der Klimakatastrophe.
– Mitbürger aller politischer Couleur, die Zweifel an der Richtigkeit der „hygienischen“, mit anderen Worten: zwangsweise verhängten medizinischen Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung der Pandemie äußern.
– Tierschützer, die sich für die Methode der Tierbefreiung entschieden haben. Diese wurden sogar vor allen anderen noch als Terroristen eingestuft.
– Baumschützer, die sich für die Methode der Baumbesetzung entschieden haben und nicht auf Zuruf der Polizei freiwillig heruntersteigen; ähnlich den anderen Naturschützern gelten sie als besonders gefährlich, wenn sie sich selbst an die Tore von Unternehmen mit fragwürdigen Praktiken anketten.
– Personen, die sich mit performanceartigen Aktionen im öffentlichen Raum gegen die von Wirtschaft und Politik beschlossene Auslöschung von Natur und Kultur wenden und dabei nicht vor dem Einsatz von wasserlöslicher Farbe zurückschrecken.
– Atomenergie-Gegner, in deren Reihen sich Mitglieder aller zuvor erwähnten Fraktionen befinden; unter diesen wurden besonders stark die sogenannten Schotterer kriminalisiert, solche Leute also, die symbolisch durch händisches Freilegen von Eisenbahn-Schienen auf das Sicherheitsrisiko hinweisen wollen, das damit verbunden ist, noch eine Million Jahre lang lebensbedrohlich strahlenden Müll aus der Energieherstellung mit Uran oberirdisch in einer Leichtbauhalle bei Gorleben in Niedersachsen abzulegen, wo schon 350 solcher Behälter in den letzten 50 Jahren hingefahren wurden: einmal quer durch Nordeuropa und nachts oft mitten durch Wohngebiete, wo die Waggons mit dem kochenden Abfall oft stundenlang parken.
– Schürf- und Bauplatz-Besetzer, die sich mit ihrer Besetzungsaktion gegen die am Ort geplanten und staatlich bewilligten Projekte wenden, deren energetische oder ökologische Sinn-Fälligkeit sie anzweifeln, die aber fraglos die verbliebenen Reste der Natur zerstören und seltene Tiere vertreiben.
Sicher fehlen in dieser Liste noch eine ganze Reihe ähnlicher Aktivisten. Aber es sollte klar sein, wie es um die Relation zwischen Aktion (Bürger) und Reaktion (Staat) bestellt ist.
Was alle diese Gruppierungen verbindet, ist die deutliche, nicht durch autoritäres Auftreten des Staates zum Schweigen zu bringende Kritik an Widersprüchen des aktuell herrschenden kapitalistischen Parteien-Systems und ihre durch die Aktion vorgetragene Infragestellung des staatlichen Gewalt-Monopols.
Die Reaktion des Staates auf diese Form der Kritik illustriert eine Neufassung des Selbstverständnisses von Staat. „Staat“ ist nicht die Vertretung aller seiner Bürger, sondern eine übergeordnete, Zwang ausübende und sich Kritik harsch verbittende Herrschaft, die sich allein als Vertretung der – von sich selbst – als staatserhaltend eingestuften Kaste der Apparatschiks und Wirtschaftsakteure begreift.
Was genau bedeutet „kriminell“ in der Sprache dieser Machthaber?
Zunächst einmal ist es ein Sammelbegriff für das Gegensatzpaar von gut und böse:
Auf der guten Seite ist jedermann ehrlich, gesetzestreu, seriös, vertrauenswürdig, zuverlässig.
Kriminell hingegen steht für asozial, beispiellos böse, empörend und frevelhaft. Kriminell bedeutet gem. seinem lateinischen Stammwort crimen „Beschuldigung, Anschuldigung, Vergehen, Verbrechen“ (zit. nach Kluge, Etymologisches Wörterbuch). Es bedeutet, das Tun, das so bezeichnet wird, sei widerrechtlich und sträflich.
Durch Etikettierung, das Anheften einer stigmatisierenden Beschreibung, so wie „aggressiv“, „gewaltbereit“, „grundrechtswidrig“ oder „chaotisch“, die sämtlich zum Bedeutungsfeld von „kriminell“ gehören, findet eine pauschale Schuldzuweisung statt, die eine personenbezogene oder Argument-basierte Wertung ebenso erspart, wie eine Angemessenheitsabwägung oder Kontextualisierung des angeblich „militanten“ Verhaltens: wird „randaliert“, „blockiert“ (oder jüngst: „geklebt“), gilt das Prinzip „mitgefangen mitgegangen“. Eine Debatte über den Gegenstand des Protestes findet dann nicht statt.
Diese Methode der Wertung von Protestformen ist in jüngster Zeit gewaltig ausgeweitet worden durch Framing mithilfe ganzer Gruppen von stets sehr vagen, doch stark tendenziös geprägten Umfeld-Begriffen wie „–Leugner“, „–Verschwörer“, „–Gegner“. Die wesentliche Gemeinsamkeit ist die Verdammung der so Bezeichneten als „deviant“, als abweichend von der gesunden Mitte.
Wenn also „der Rechtsstaat sich nicht auf der Nase herumtanzen“ lässt und Strafverfolgungsbehörden die Bezeichnung „kriminell“ – noch dazu im Zusammenhang mit „Vereinigung“ – anwenden auf formal gewaltfreien Widerstand wie das Festkleben des eigenen Körpers auf der Strasse, so dient der Trick der Pauschalisierung bei der Erfassung bestimmter Einzel-Personen dazu, sie wie einen „Verein“ oder eine „Partei“ (mit Mitgliedsausweis und Statuten) zu behandeln, also den hohen Grad der Organisation bei der Zuwiderhandlung hervorzuheben – und die (gegen unser aller Untergang) Protestierenden nicht als eine spontane Assoziation von Individuen zu sehen, und ihren Protest als organisiertes Verbrechen.
So gelangen wir an den Punkt, dass schon „eine andere Meinung haben“ kriminell ist.
Bitte halten Sie an dieser Stelle mit Lesen kurz inne und ordnen Sie die oben aufgezählten Themen den beiden Seiten zu: Mieten-, Energie-, Gesundheits- und Klimapolitik, Westblock-Beschlüsse zur Osterweiterung, “Global Governance” (Nato, UNO, EU, WEF, WHO) sowie allgemeine Ziele bei der Globalisierung des Kapitals, aktuelle „Politik“ der Fleischversorgung von Milliarden Menschen.
Nun wissen Sie, auf welcher Seite der Gesellschaft Sie stehen.
Spaltung
Es gibt die Theorie, dass alle diese Gruppen und jene Teile der Bevölkerung, die mit den Zielen der mutigeren Leute, der aktionistischen Speerspitzen übereinstimmen, aber entweder berechtigte Angst haben, ihre Körper polizeilicher Gewalt aussetzen, um ihre Ziele publik zu machen, oder schlicht nicht aktiv mitmachen können, zusammen etwa 20 % der Gesamt-Bevölkerung ausmachen. Das wären in Deutschland immerhin 16 Millionen Menschen. Diverse Befragungen scheinen eine Zahl rund um 20% zu bestätigen.
Ich beziehe mich hierbei auf eine Email-Debatte mit dem Psychoanalytiker und Wihelm-Reich-Herausgeber Andreas Peglau. Er schreibt:
„… ich meine, das Corona-Geschehen lässt sich nicht nur auf den negativen Nenner bringen. Ich sehe da ein Deutlich-Werden lange oder schon „ewig“ vorhandener, nun politisch bestärkter, destruktiver psychischer und Sozialstrukturen. Ein Wieder-Aufflammen niemals bewältigter Vergangenheit.
Dass dies nun deutlicher wird, also auch nicht mehr so gut verleugnet werden kann wie bisher, ist in meinen Augen ein Fortschritt.Zum anderen haben sich – für mich aufgrund vorheriger sozialwissenschaftlicher Untersuchungen und meiner an Wilhelm Reich und Erich Fromm geschulten Auffassungen – völlig unerwartet POSITIVE Entwicklungen ergeben.
„Spreu und Weizen“ haben sich in erstaunlicher Klarheit getrennt. Und ich hatte mit weitaus weniger Weizen gerechnet.“
Das Zitat stammt aus einer Antwort auf ein Papier mit 20 Aspekten der gesellschaftlichen Spaltung, das ich im frühen Mai 2023 an diverse Autoren der AKTION versendet hatte in der Hoffnung auf einen anregenden Rücklauf.
Zahlen, die besser dokumentiert sind als die zuvor geschätzten 20%, bietet Peglau in seinem Buch „Rechtsruck“ (S. 94), in dem er versucht, dem kollektiven Charakter näher zu kommen:
»Autoritäre Aggression«, das Nach-unten-treten-Wollen des autoritären Charakters, identifizierten Decker et al. 2016 bei 67,5 % der deutschen Bevölkerung – das sind mehr als
48 Millionen Bürgerinnen und Bürger! Da es 2014 »nur« 52,1 % waren, denen dies zugeschrieben werden musste, also in zwei Jahren mehr als 15 %, also elf Millionen hinzugekommen sind, muss von einem erschreckenden Anstieg gesprochen werden, der zumal im Zuge der Befragungen den bisherigen Höchststand markiert.
Die »autoritäre Unterwürfigkeit«, das Nach-oben-Buckeln, das diesen Typus komplettiert, stieg zwischen 2014 und 2016 ebenfalls deutlich an, von 19,7 auf 23,1 %: mehr als 16,4 Millionen Deutsche. Auch diese Einstellungen ziehen sich, in unterschiedlicher Stärke, durch die Wählergruppen aller Parteien.
Peglau präzisiert dann in der Email an den Autor – sechs Jahre nach Erscheinen des zuvor zitierten Textes:
Ich sehe eine Spaltung in noch dumpfer, destruktiver, autoritärer als zuvor agierende 80 % und in 20 %, die zum einen verfolgt, diskriminiert werden. In denen sich aber zum anderen vielfach unglaubliche Kreativität, Lebendigkeit, Mut bis hin zum – ganz unkitschig gemeint – Heldenhaften entwickelt hat. Da kann bei vielen tatsächlich von „Erwachen“ gesprochen werden im Sinne des Erlangens – vielleicht bitterer – Klarheit, von „Durchblick“, in was für einem Staat, System wir leben.
Noch nie in der deutschen Geschichte gab es einen derartig breiten und qualifizierten Widerstand gegen unterdrückende staatliche Autorität. Das ist großartig und lässt hoffen, dass das menschliche Potential, der „gesunde biologische Kern“, mit dem wir geboren werden, bei vielen nicht so tief verschüttet ist, wie ich dachte.
Bei der Zitierung des „gesunden biologischen Kerns“ bezieht sich Peglau auf Wilhelm Reichs Theorie, der menschliche Charakter besäße eine Struktur, die aus drei Schichten bestünde:
In der oberflächlichen Schichte seines Wesens ist der durchschnittliche Mensch»verhalten, höflich, mitleidig, pflichtbewußt, gewissenhaft.« Es folge eine »mittlere Charakterschichte, die sich durchweg aus grausamen, sadistischen, sexuell lüsternen, raubgierigen und neidischen Impulsen zusammensetzt«. Dies entspreche dem Freud´schen Unbewussten. Darunter schließlich sei der »biologische Kern« verborgen, der dem Menschen ermögliche, »ein unter günstigen sozialen Umständen ehrliches, arbeitsames, kooperatives, liebendes, oder, wenn begründet, rational hassendes Tier« zu sein – die Basis der »Selbstregulations«-Fähigkeit.
Eine weitere Antwort sendet AKTION-Autor Julien Coupat:
„Alles, was du feststellst, entspricht der französischen Erfahrung. Ich glaube, dass es sich weitgehend um ein Troll-Unternehmen der Regierung handelt und dass es wichtig ist, die Erfahrung der Spaltung zu teilen, um die wahre Teilung sichtbar zu machen.
Die wahre Teilung besteht meiner Meinung nach zwischen denjenigen, die aus allen möglichen Gründen die Partei der sozialen Moral ergriffen haben – ein Verhältnis der Exteriorität zu sich selbst und zu anderen, das die Möglichkeit bedingt, jegliche Macht auszuüben, sowohl über sich selbst als auch über die Welt und die anderen; in diesem Sinne ist die Partei der Moral die Partei der Macht – … und auf der anderen Seite denen, die annehmen, dass sie sich auf einer ethischen Ebene befinden, einer „Ebene der Immanenz“, wie Deleuze sagen würde, auf der niemand berechtigt ist, jemand anderem vorzuschreiben, wie er oder sie leben soll.
Diese Aufteilung entspricht, wie man sieht, nicht strikt der Spaltung in Schafe und Impfgegner.
Ich glaube, diese Spaltung muss historisch und strategisch verstanden werden: Der Kapitalismus hat seit einem Jahrhundert gewaltsam in die Subjektivität eingegriffen, so dass die Seele für ihn zum zentralen Schlachtfeld wurde, und der Kapitalismus gewinnt dabei immer wieder, denn der offensichtlichste Schwachpunkt der gesamten sozialistischen Tradition ist ihre Schwierigkeit, sich auf das Individuum, auf die Einzigartigkeit zu beziehen; der Kapitalismus hat den Sozialismus genau dort angegriffen, weil dies der Punkt ist, an dem sein Gegner sich am unbehaglichsten fühlt, und das bleibt auch so.
Andererseits ist die Moralisierung von allem die Voraussetzung für die Einführung einer perfekten legalistischen Regierungsform (Han Fei Tse usw.) – China ist die moralischste Gesellschaft der Welt; und da die chinesische Regierungsform der Polarstern aller Mächte der Epoche ist, muss alles dem Erlass von moralischen Standards unterworfen werden.
Das bedeutet, dass es immer wieder zu aufdringlichen moralischen Standards mit sozialer Rechtfertigung kommen muss.“
Soweit Coupat.
Wohin nun von hier aus? Ich versuche zusammenzufassen.
Anti-Emanzipation
Die Deutschen sind Experten für Spaltung, beginnend mit der Zerlegung ihres Landes in zwei Teile. Die daraus resultierende Diskriminierung der eigentlich „eigenen“ Leute als „die Anderen“ ist tief eingeschrieben in das kollektive Bewusstsein. Aus dieser vorurteilsbehafteten Verdammung heraus erklären sich viele der aktuellen Phänomene. Aber nicht alle.
Die „Grenze“ zwischen uns und den anderen verläuft heute längst nicht mehr, wie es schon lange an einer Hauswand in Ostberlin stand, zwischen Ost und West, vielleicht nicht einmal mehr zwischen Links und Rechts (ein Begriffspaar dass sich unter dem orchestrierten Beschuss der letzten Jahre weitgehend aufgelöst hat), sondern (wie schon immer) zwischen Oben und Unten.
Doch wie Peglau anmerkt, reicht auch die Trennung nach Oben und Unten nicht aus, um zu erkennen, was passiert. Wenn nicht derartig viele, die unten sind, die da oben unterstützten, hätten die da oben keine Macht. So heisst es weiter in Rechtsruck, S. 107: Die meisten erwachsenen Deutschen vereinen … in sich lebensfeindliche und lebensbejahende Positionen. Die entscheidende Grenze verläuft auch hier nicht zwischen Parteien, sondern zwischen Persönlichkeitsanteilen.
Delikaterweise tragen die 100 Jahre kapitalistischer Demontage und Neuzusammensetzung der Psyche jetzt Früchte, die unsere Mitmenschen weiter auseinander bringen, als das politische Konstrukt, das uns in Ossis und Wessis gespalten hat.
Die gesellschaftliche Spaltung zwischen denen, die keinerlei Skrupel haben, unsere Verhaltensweisen so zu manipulieren, wie es für sie gerade am einträglichsten ist (wirtschaftlich) und jenen anderen, die den Zugriff auf die seelische und körperliche Integrität für ethisch unzulässig halten und sich auch keine „besondere Ausnahme“ dafür vorstellen können, wird unübersehbarer von Tag zu Tag – und zwar in Form aller möglichen „Zumutungen“ (Kriminalisierung, Ausschluss, Verfemung), die die wesentlichen Elemente der in den vergangenen 200 Jahre errungenen Emanizipation wieder zurücknehmen.
Der „gewaltsam(e Eingriff) in die Subjektivität“ und die möglichen Gegenstrategien sollten wohl in den nächsten Jahrzehnten unser aller Hauptthema sein.
Noch dazu häufen sich gerade Themen, die unter diesem Angriff immer schwieriger zu behandeln sind!
Energie, Klima, Altersarbeitsgrenze, neue Formen der Armut, Bargeldabschaffung (dadurch beliebig zu beschleunigende Inflation, dh. allgemeine Verunsicherung für die unteren 95%), digital amplifiziertes Sozialpunkteprogramm (also das Prinzip von Strafe und Belohnung), Dauerüberwachung (und kommerzielle Ausbeutung jeder Aktivität/Bewegung, dadurch Versiegelung aller Nischen für Rückzug und Alternative) – die Liste ließe sich fortsetzen.
Bei allen diesen Fragestellungen fällt unmittelbar auf, dass die im Westen erlernten politischen Begriffe und Strategien nicht mehr greifen, trotz einer jahrzehntelangen Erprobung des Widerstands in einer (wie man heute sieht: weitgehend verlogenen) Friedensbewegungs-, Öko- und Grünen-Vergangenheit.
Genau jetzt, als es erstmals wirklich darauf ankommt und für alle zum existenziellen Thema wird, knicken die erwähnten Widerstandsgruppen ein und machen jeden Mist kritiklos mit, schlimmer noch: unterstützen flammend das Zersetzende, De-Solidarisierende, Kriegerische.
Wie Coupat richtig sagt: die wesentliche Linie verläuft jedoch gar nicht zwischen „Schafen“ und „Coronaleugnern“, sondern zwischen denen, die Zugang zur Macht haben und ihn (mit Unterstützung der Massen williger Schergen) vollständig ethikfrei nutzen und denen, die von diesen Eingriffen betroffen sind und immer weniger Chance haben „zu desertieren“ oder zu „resignieren“ (Franco Bifo Berardi), also sich zu entziehen, um jenseits der Einordnung in die bestehenden Machtverhältnisse etwas eigenes Anderes aufzubauen.
Ergänzung nach einer weiteren Diskussion zum Thema am 30.5.23:
Das Festhalten an Einheit und Übereinstimmung ist unter den Bedingungen, wie sie in den letzten Jahren entstanden sind, fragwürdig geworden – Bedingungen übrigens, die auf die Spitze getrieben, nischenfrei global ausgedehnt und beschleunigt werden von epidemisch verbreiteten Kommunikationstechnologien, die für die hemmungslos überaufgeblähten Erwartungen der sie nutzenden Zeitgenossen in einem nicht zu vernachlässigendem Umfang qualitative Maßstäbe setzen, so dass man insbesondere in den Metropolen nicht mehr umhinkommt, die Proponenten dieser Kultur für Mitglieder einer fremden Spezies zu halten. Vielleicht ist die Spaltung real längst vollzogen.
Ist mit Leuten dieser Spezies Verständigung noch möglich? Ist sie interessant? Zielführend?
„Seperation“ ist so betrachtet hilfreich, vielleicht sogar nötig: scheiden tut zwar weh, aber vielleicht ist nach all den Jahren der Einvernehmlichkeit – bisweilen über politische Differenzen, über längst bestehende Bruchlinien hinweg – wegen des (vermeintlichen) Zusammenhalts gegen den „Klassenfeind“ nun eine Zeit der Trennungen angebrochen: damit Unterschiede klar und unverbrüchliche Linien gezogen werden können, hinter die es kein Zurück geben kann.
Politisch engagiert?! Das waren die Jusos! Wir waren Revolutionäre! Lutz Schulenburg im Interview mit Jan Bandel, 2007, s.o.
Heute erscheint als Nummer 39 unserer Rubrik „Es lebe die Freiheit!“ der Text „Bombardiert die Vororte des Schlafs“ von Hanna Mittelstädt. Es ist ein Auszug, den die Redaktion von DIE AKTION aus der „Verlagsbiografie“ von Edition Nautilus mit dem programmatischen Titel „Arbeitet nie!“ zusammengestellt hat.
Das 360 Seiten starke Buch widmet sich der „Erfindung eines anderen Lebens“ am Beispiel der über vierzig Jahre sich erstreckenden verlegerischen Zusammenarbeit von Lutz Schulenburg, Pierre Gallisaires und der Autorin.
Die Suche nach einem anderen Leben ist heute umso wichtiger, als wir alle in der Klemme der Arbeit stecken: ob nun in einer 996-Arbeitskultur (9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, 6 Tage die Woche), wie sie heute in China üblich ist oder in der vom Staat aufoktroyierten Verlängerung des Arbeitslebens, die gerade Millionen in Frankreich auf die Straße treibt und zu wütenden bürgerkriegsähnlichen Szenarien führt. Der Kampf ist der gleiche: die Ausbeutung von Lebenszeit durch ein kapitalistisches Repressionssystem steht der „flachliegenden Verweigerung“ (auf chinesisch: Tangping) gegenüber.
So ist auch der Text von Mittelstädt nicht einfach eine Chronik, sondern die konzentrierte Vermittlung von Ideen und Praxen, die helfen dem Druck zu entschlüpfen: „Fische anfassen“ nennen das die Tanpingisten.
Die titelgebende Parole „Arbeitet nie!“ ist angesichts der chinesischen Bewegung Tangping brandaktuell, aber in den politischen Kreisen, in denen die Autoren sozialisiert wurde, nicht wirklich neu. Das macht sie allerdings kein bisschen weniger radikal. Sie steht im Kontext der seit nahezu 150 Jahre anhaltenden Kämpfe der Arbeiter für ein menschenwürdiges Leben.
Wie der Schwiegersohn von Karl Marx, Paul Lafargue, bereits 1883 in seiner Schrift „Das Recht auf Faulheit“( le droit à la paresse) unmissverständlich klar formulierte: „Wenn die Arbeiterklasse sich das Laster, welches sie beherrscht und in Natur herabwürdigt, gründlich aus dem Kopf schlagen und sich in ihrer furchtbaren Kraft erheben wird, nicht um die famosen Menschenrechte zu verlangen, die nur die Rechte der kapitalistischen Ausbeutung sind, nicht um das Recht auf Arbeit zu proklamieren, das nur das Recht auf Elend ist, sondern um ein eher neues Gesetz zu schmieden, das jedermann verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten, so wird die alte Erde, zitternd vor Wonne, in ihrem Innern eine neue Welt sich regen fühlen…“
Mittelstädts fulminanten Werk angemessen, startet nun eine eindrucksvoll umfangreiche Lesereise, deren Termine hier zu finden sind.
Im Einklang mit Hanna Mittelstädts wundervollen Text über den französischen Situationisten, Autor, Sinologen und Filmemacher René Viénet, der heute in DIE AKTION erscheint, möchten auch wir ausrufen:
„Schnell! Es muss etwas passieren! Wir müssen das Gegengift noch heute finden und einnehmen, sonst können wir das Unglück vielleicht nicht mehr rechtzeitig zurückschlagen. Schnell schnell!“ Wir müssen schnell sein, um unsere „Autonomie und Selbstbestimmung jenseits der spektakulären Warengesellschaft“ erfolgreich zu verteidigen.
Hannas kleines Manifest zur Neuauflage von Viénets Buch „Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen“ bei Edition AV ist ein Text, von dem wir jede Zeile uneingeschränkt unterschreiben, euphorisch begrüßen und laut hinaustrompeten möchten.
Um nur einige der Mut machenden Parolen aus dem Text zu nennen: Wir sind nichts, wir werden alles! Lauf schneller, Genosse, die alte Welt ist hinter dir her! Ich nehme meine Wünsche für die Wirklichkeit, weil ich an die Wirklichkeit meiner Wünsche glaube! Wütende aller Länder, vereinigt euch! und nicht zuletzt das große Wort des Unsichtbaren Komitee: Alles wird immer wieder neu anzufangen sein.
Wahrhaft langsam sind wir dieser Tage, täglich gebremst von üblen Botschaften darüber, was aus unserer vertrauten Welt in Kürze alles ausgebaut und verschrottet werden soll, was teurer, immer teurer, schließlich unbezahl- und damit für die meisten unerreichbar werden soll, welche gesundheitlichen, energetischen, politischen und klimatischen Gefahren bald auf uns zukommen – insbesondere durch die Politik jener, die uns mit ihnen drohen.
Langsam sind wir im Begreifen, noch langsamer, darüber ins Handeln zu kommen, aufzustehen und uns zu wehren gegen die Flut der Zumutungen.
Hanna hat im Abschnitt „Beginn einer Epoche“ mit Worten, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen, Vorschläge zu einer globalen Vernetzung der diversen existenten, doch zu sehr vereinzelten Protestformen unterbreitet.
Hierzu müssen wir zunächst „die gefesselten Worte“ befreien. Denn die Worte, jetzt zerdrückt, zertreten, verdreht von einer Bedeutungs-Auslöschungs – und Umkehrungskampagne ohne Gleichen, sind die Agenten unserer Befreiung.
Es ist unabdingbar, täglich zu kämpfen, um das Unglück zurückzuschlagen. Warten wir keinen Tag. Fangen wir gleich an!
Samstag, 25. Februar 2023. Der Weg durch Berlin-Mitte zum Ort der Friedens-Demo am Brandenburger Tor gleicht einem Spaziergang durch Margaret Atwoods dystopische Landschaft aus dem „Report der Magd“.
Unser kleine Demo-Reisegruppe, so scheint uns angesichts der geklonten Welt des Regierungsviertels, besteht aus Unfrauen und Unmännern der deutschen Gegenwart, denen nach Abschaffung des Bargeldes als erste Tat der Regierung die Bank-Karten gesperrt wurden. Versuchen Sie mal, in der Bannmeile oder rund um Unter den Linden einen Kaffee in Cash zu bezahlen. Sie werden erleben, wie ein Aussätziger behandelt zu werden.
Die freiwillige Selbstanpassung ist bis zu einem Grad fortgeschritten, dass sie einer vollständigen Unterwerfung unter die Sachlogik einer profitorientierten Ordnung gleichkommt. Wenn Deleuze und Guattari vor mehr als vierzg Jahren schon zurecht auf die Schizophrenie des Kapitalismus verwiesen haben, möchte ich in Ergänzung dieses Gedankens seinen masochistischen Charakter betonen. Die freiwillige Selbstanpassung ist die Giftwurzel des Übels unserer derzeitigen politischen Lage.
Vor dem Café Einstein steht ein ausgewachsener Widerling mit einem heißen Literbecher Grünen Tee und ekelt die Kundschaft weg. Innen ist die Lage übersichtlich. Ein paar prominente deutsche Spekulanten, die ihren flusenfrei polierten Maybach in der Gasse daneben geparkt haben, residieren zwischen leeren Tischen. Schon durch die Schaufensterscheibe riechen wir ihre penetrante Frischgewaschenheit, das Element, das sie am stärksten mit ihrer 300.000,00 € Klimakiller-Karre verbindet.
Wir Durchgefrorenen, mit Fahnenstange und – gemessen am Outfit der Schnösel – im Kreuzberg Look sind jedenfalls im Innern der Nobelrösterei als Entourage für die Gralshüter des Luxus nicht willkommen. Früher, gleich nach der Eröffnung, als es schleppend anlief, hat die gleiche Einrichtung bedürftigen Künstlern mit bekannten Gesichtern Freibons für Getränke gegeben, damit sie das Flair aufpeppen. Heute gilt jeder unter einer bestimmten Einkommensschwelle den dünkelhaften Neureichen als räudiger Auswurf der Republik.
Fremd in der eigenen Stadt, wo selbst die Türsteher nun noch weniger Stil als ihre Dienstherren haben, treffen wir wenige Schritte weiter auf einen zerdepperten Panzer auf einer Lafette mit ukrainischem Nummernschild, der so geparkt ist, dass sein Kanonenrohr auf ein Büro der russischen Botschaft weist. Das Wrack, das mit Rosen bedeckt ist, die sicher nicht der Trauer um die tote Besatzung gelten, nutzen einige Rocker in kyrillisch beschrifteten Kutten als Hintergrund für Selfies.
Der für die Zulassung dieses Schandmals verantwortliche Richter des Verwaltungsgerichtes hat offenbar mutwillig missinterpretiert, was im Westen der Vorwende vorbildlich auf den Weg gebracht wurde: „Orte des Grauens, die wir niemals vergessen dürfen“. Die bodenlose Frechheit der Einrichtung des havarierten T72 als symbolische Bedrohung lässt jedenfalls unmittelbar klar werden, dass nicht geplant ist, irgendjemanden für ethische bedenkliche Verfehlungen zur Rechenschaft zu ziehen. Wer diese harte Metapher der Gewalt nicht versteht, dem diktiert der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev Klartext:
Nur zwei Gehminuten von der symbolischen Gewalttat entfernt, genau vor dem Brandenburg Tor, das am Vorabend noch in die Flaggenfarben des osteuropäischen Bruderlandes getaucht war, eine theaterhafte Installation, die in ihrer Idiotie das Panzer-Mahnmal noch nach Längen toppt.
Geschützt von einer Anzahl Polizisten in Dreierformation, die Rücken an Rücken sich gegenseitig sichern und rundum heranrückende Gefahr abwehren, hat ein klägliches Grüppchen von karnevalesk Maskierten und mit Fahnen einer sogenannte „Antiverschwurbelten Aktion“ Ausgestatteten eine Burg aus beklebten Obi-Kartons aufgebaut. Das sieht auf den ersten Blick aus wie ein „Messe-Stand“ der Antifa und besitzt durchaus einen Touch von Messe im religösen Sinn. Denn die Botschaften sind reine Bibelwahrheiten der Zero-Covid-Jünger, gemixt mit Verhetzungen aller Andersgläubiger. Mir fällt ein Satz aus einem Flugblatt ein, das die Erreger-Redaktion kurz vor der anstehenden Friedensdemo verschickte: „Die Dinge haben über Nacht einen anderen Namen erhalten und führen nun das Selbstgespräch der Ordnung (Guy Debord)“.
Ihren unbändigen Behauptungsmüll schützen die ver(w)irrten Antiverschwurbelten mit Frischhaltefolien gegen das unwirtliche Wetter. Im Zeichen einer lustigen grünen Echse aus dem Kinderfernsehen haben sich die radikalen Verbreiter der Regierungspropaganda selbst in Hohlweltbewohner verwandelt. Die Passanten und unfreiwilligen Betrachter dieser armseligen Anleihe bei Performance und Strassenkunst müssen sich als „transphob“, identitär und Putin-Fans beschimpfen lassen. Was hier alles zackig über einen Kamm geschoren wird, geht auf keine Drachenhaut. Neben uns spekulieren Demoteilnehmer darüber, ob und von wem diese Truppe gekauft ist? Von der Bundeszentrale für politische Bildung? Vom Verfassungsschutz? So weit ist ihr Misstrauen in den Staat schon gediehen, dass sie solche Möglichkeiten erwägen.
Wie formulierte es Johnny Rotten kürzlich noch so treffend: „Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erleben würde, an dem die Rechten die Coolen sind, die dem Establishment den Mittelfinger zeigen und die Linken die wehleidigen, selbstgerechten Trottel, die alle beschimpfen.“
Der Schneesturm fegt über den 17. Juni und nach Verlesung einer Liste von die Äußerungsfreiheit einschränkenden Maßregeln, ohne die heute keine öffentliche Veranstaltung mehr möglich ist („keine Textbotschaften“, keine, auch keine versteckten Buchstaben V oder Z – man denkt unwillkürlich wieder an den „Report der Magd“, der von einer Welt erzählt, in der nichts in Buchstaben Geschriebenes mehr zulässig ist, nur dumme Symbole), gilt die erste Ansage der Besucherzahl: wir würden sicher heute Abend lesen, dass nur ein paar wenige verstreute Irre gekommen wären. Glaubt nicht alles was ihr lest! Ich möchte mich an dem Schätzungswettbewerb nicht beteiligen. Auch war wegen Drohnenaufstiegsverbot eine eigene Messung der Besucherzahl durch die Veranstalter kaum möglich. Aber es dürften wohl drei mal mehr Menschen da gewesen sein, als offiziell behauptet wurde. Es war jedenfalls voll vor und hinter dem Brandenburger Tor und seitlich im Tiergarten wimmelte es auch noch.
Die Reden waren durchweg plausibel, nachvollziehbar und klug formuliert und ganz im Tonfall einer klassischen Antikriegs-Veranstaltung gehalten. Dem „Beschimpfungs- und Verleumdungs-Tsunami“ im Vorfeld wurde auch nicht zu viel Raum gegeben – aber er wurde auch nicht totgeschwiegen. Insgesamt eine gelungene Veranstaltung, die etwas vom Charakter eines Auftaktes für eine dringend notwendige Re-Emanzipation der bürgerlichen Mitte hatte und mit der sie sich vom Versuch, durch Kontaktschuld-Vorwürfe Solidarität abzudrängen, glücklich befreit hat.
Gestern habe ich einen Text von Michael Andrick über Faktenchecker veröffentlicht und wollte darin ursprünglich der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass jetzt wieder Texte wie „Das Zulassungsdesaster: Lobbyarbeit und Rechtsbruch im Fall der mRNA-Präparate“ eines Autorenkollektivs von sechs Juristen erscheinen können.
Ich hatte mich schließlich aus Gründen der Konsistenz dagegen entschieden und plante, diese Woche noch einen eigenen Beitrag über die Meinung des Autorenkollektivs zu verfassen. Da hatte die Berliner Zeitung den Beitrag bereits wieder gelöscht.
Diese zwei knappen Sätze des Chefredakteurs Tomasz Kurianowicz lassen auf schlimme Stunden schließen, die ihrer Formulierung voraus gingen. Jedes Wort ist reiflich abgewogen und meint nicht, was es zu sagen scheint.
Zunächst „Depublikation“– allein dieses verräterische Wort wäre einen neuen Eintrag in unserem „Wörterbuch des Unrates“ wert: es tönt wie „Veröffentlichung“, aber das kleine anlautende „De-“ ist ein vermeintlich geschickter Weg um den Zensurvorwurf herum.
Auch „starke Argumente“ sind ein feiner Tropus: durch ihre ausgewiesene Stärke graben sie dem Argument, über das man ja sprechen könnte, so arg das Wasser ab, dass gleich kurzerhand „depubliziert“ werden muss. Starke Argumente sind nicht verhandelbar. Sie kennen nur einen Modus der Reaktion: Löschung. Wenn man mit starken Argumenten „konfrontiert“ ist (statt dass sie „vorgebracht“ = in die Diskussion geworfen wurden), hat man bei der Veröffentlichung, der sie nun entgegen stehen, offenbar das Entscheidende, das die Veröffentlichung ausschließt, vorher übersehen. Wenn das Argument so stark ist, dass man es nicht benennen darf oder mag, wandelt es sich, wie der Chefredakteur selber bekennt im letzten Satz, zum Vorwurf. Vom (lat.) argumentum = Darlegung, Gehalt, Beweismittel ist nichts mehr übrig als eine bloße Anschuldigung.
Der Wortlaut der „starken Argumente“ ist (bislang noch) ebensowenig öffentlich bekannt, wie derjenige, der sie vorgebracht hat. Erst recht wird nicht gesagt, was genau denn „Richtigkeit“ bedeutet – angesichts einer Meinung. Um „sachlich korrekt“ geht es bei der Wahl des Wortes „Richtigkeit“ jedenfalls sicher nicht, sonst würde da Fehler, Irrtum oder Mißinformation stehen. Die „Richtigkeit“ eines Textes aber ist moralischer oder politischer Natur.
Auf einer Seite im Netz las ich, einer der Autoren habe gesagt, ein ungenannt bleiben wollender Experte habe sich geäußert und die Redaktion zu diesem Schritt gebracht.
Wer sind die Autoren, die hier von dem Gegenargument eines Unbekannten zum Schweigen gebracht werden?
Es sind: 1) der Inhaber des Lehrstuhl für Öffentliches Recht unter Berücksichtigung europäischer und internationaler Bezüge Prof. Dr. Gerd Morgenthaler, den Liebhaber von Michel Houellebecq kennen, weil Morgenthaler eine der Reden zur Verleihung des Oswald Spengler Preises an Houellebecq gehalten hat. Man sollte verfolgen, wie sich der Fall auf die Freiheit seiner und der Lehre der anderen öffentlich bestallten Ko-Autoren des „Zulassungsdesasters“ auswirkt.
2) René M. Kieselmann Fachanwalt für EU-Vergaberecht bei der Kanzlei SKW
3) Amrei Müller, Assistant Professor (Ad Astra Fellow) at UCD Sutherland School of Law University College Dublin, School of Law
Nun gut, eine illustre Truppe, über deren Binnenverhältnis ich nichts weiß: wie sind sie zusammen gekommen? Wählen sie alle die gleiche Partei? Keine Ahnung. Aber ist die Beantwortung dieser Frage wesentlich für die Bewertung des depublizierten Textes? Wohl kaum. Wichtig ist doch eher die Stichhaltigkeit der vorgebrachten Analysen.
Die Depublikation öffnet nun Demokratie-schädlichen Spekulationen Tür und Tor: Man kann sich gut vorstellen, dass bei der Depublikation potente wirtschaftliche Interessen im Spiel sind. Man kann sich gut vorstellen, dass potente politische Kreise auf die Chefredaktion der Berliner Zeitung eingewirkt haben, heisst es doch im depublizierten Text: „…zuvorderst (ist) notwendig, die rechtliche Festlegung zurückzunehmen, genbasierte „Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten“ seien keine Gentherapeutika. Dies muss die Bundesregierung direkt bei der Europäischen Kommission betreiben. Darüber hinaus sollte das Vorgehen der EMA und der EU-Kommission sowie weiterer Beteiligter in der Corona-Krise von einem Untersuchungsausschuss wegen dringenden Verdachts auf Rechtsbruch durchleuchtet werden.„
Alles Mögliche schwirrt nun leider durch den Raum und macht den Text noch viel interessanter, selbst wenn er nachweislich Fehler enthielte. Denn man versteht nicht, warum zu Gebote stehende Mittel der Zeitung nicht ausgeschöpft werden: Warum keine Gegendarstellung des „Experten“? Warum nicht offen debattieren? Der Text war ja explizit als Gastbeitrag ausgewiesen. Also sicher auch eingeschränkte Haftung für die Zeitung…
Dies alles zeigt letztlich sehr deutlich, mit welchen Mitteln Meinungen, die vom Kanon (Hier hat Ruhe zu herrschen!) abweichen, bekämpft werden. Genau dieser Fall ist beispielhaft für das, was Michael Andrick mit „offen repressive Diskursarchitektur“ meinte.
Schade, dass ausgerechnet die Berliner Zeitung, die als eine der ganz wenigen immer wieder in den letzten Monaten deutlich abweichende Meinung und unterbliebene Nachrichten publizierte, dieses Negativbeispiel gibt – hoffentlich kein Signal für einen Wandel.
In den letzten Tagen zirkulierte erneut ein aufrüttelnder Text des Philosophen Michael Andrick aus dem Mai 2022 im Kreis meiner Freunde. Andrick befasst sich in ihm mit dem sog. „Faktencheck“ und legt dabei in knapper Form die repressive Diskursarchitektur der Republik offen.
Der Faktencheck ist das medienstrategische Analogon zum PCR-Test: so wie wir ohne Drostens „Goldstandard“ zum Nachweis der Infektion keine Pandemie gesehen hätten, würden wir ohne Faktencheck nicht glauben, in einem Land zu leben, das massiv von Neuen Rechten, Querdenkern, Reichsbürgern und Corona-Leugnern bedroht ist. Der Faktencheck ist das zentrale Werkzeug der wohl am perfektesten konzertierten Hetzkampagne seit Radikalenerlaß und Kommunistenhatz: eine Vermummung der wahren Machtverhältnisse, ähnlich wie der PCR-Test die tatsächliche Krankheit verschleiert, die unser Land befallen hat.
In meinem Beitrag „Die Chimären“ habe ich am 15. November 2022 unter dem Stichwort „Konformitätsprüfung“ bereits kurz auf Andricks brillianten Text verwiesen. Der knappe Essay fasziniert durch seine scharfe, demaskierende Begriffsverwendung: eine Klarheit, wie man sie in den letzten drei Jahren selten fand.
Der Stoff fesselte mich schon länger, war ich doch recht früh, sechs Jahre vor Corona anlässlich einer Otto-Brenner-Preis-Verleihung im edlen Pullman Hotel „Schweizerhof“ Berlin auf Correctiv, das Flagschiff der Faktenchecker, gestossen.
Allein das Monster von einem Firmennamen, der die Korrektur des Kollektivs zum Paten hat, mit anderen Worten die „Zurichtung des Menschen“(Stephan L. Chorover) zu seinem Ziel erklärt, machte mich schaudern.
Nicht dass ich der IG Metall größere Sensibilität bei der Auswahl ihrer Medien-Preis-Kandidaten zugetraut hätte. Aber als – ebenso wie Brenner – gebürtiger Hannoveraner, der seinen ersten Musik-Übungsraum 1980 im Keller der Otto-Brenner-Schule an der Lavesallee bezog und Brenners sozialistisches Bekenntnis ebenso teilte, wie seine radikale Einstellung gegen die Wiederbewaffnung, fühlte ich mich rückblickend auf die 2018er Auszeichnung gewissermaßen persönlich betrogen, weil aus Mitteln jener Gewerkschafts-Stiftung eine privatwirtschaftliche Propagandamaschine gefördert worden war. Dass uns „unter Corona“ nun derart unverhohlen ein reiner Vergatterungsapparat als gemeinnützige Aufklärung verkauft wurde, befremdete mich zutiefst. Doch 2014 ahnte ich noch längst nicht, zu was sich dieses verschlagene Konstrukt („Recherchen für die Gesellschaft“) einmal auswachsen könne.
Wir haben hier im Blog ab Maßnahmen-Beginn mehrfach zu dem Thema Auslegung von Statistik, Datenanalyse, Fakten und ihre politische Bewertung publiziert: so im September 2021 mit dem Beitrag „Generation Korrektiv„.
Wir waren gewarnt, denn ein gutes Jahr vor dem Correctiv-Artikel hatte – nach einem halben Jahr Pandemie unter Einschließungs-Bedingungen – am 10. Oktober 2020 Julien Coupat in seinem Text „Wir haben gesehen“ in DIE AKTION geschrieben:
„Wir haben gesehen, wie die Unmöglichkeit, zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden, … uns zu einer verfügbaren Masse macht, und wir haben gesehen, wie jede möglicherweise beweisbare Information im Laufe des Tages mit einer anderen, nicht weniger unwahrscheinlichen Information systematisch widerlegt wird, was zeigt, dass es ausreicht, einen gewissen Nebel um alle Fakten herum zu erzeugen, mit Hilfe dessen die Herrschenden ihr Monopol befestigen, um uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen.“
Bei der Gelegenheit fragte ich Andrick, der derzeit (nach seinem Erfolg „Erfolgsleere„) einen Essay über moralische und politische Entfremdung schreibt, ob er das Thema Faktencheck noch weiter verfolgt habe?
Insbesondere wollte ich wissen, zu welchem höheren Zweck seines Erachtens durch die „Faktenchecker“ und andere Korrekturagenturen wie die frisch politisierten Landesmedienanstalten der „gesellschaftliche Austausch auf den von organisierten Gruppen gewünschten Meinungs- und Faktenkorridor eingeschränkt“ werden solle?
Was ist der innere Antrieb dieses dezentralen Wahrheitsministeriumsnetzwerkes der Faktenchecker?
Mich interessierte das „Warum?“, das im Text zwar ansatzweise für die Profiteure, nicht aber für ihre Handlanger, die zumeist sehr jungen Faktenchecker, beantwortet wird. Welchen langfristigen Sinn hat die „Ruhe“, von der Andrick spricht, wenn er sagt: „Ein pluralistischer Diskurs wird durch strukturelle Einschüchterung sabotiert und so weit möglich unterdrückt. Die Aufklärung soll suspendiert werden, damit die Profiteure des Status Quo ihre Ruhe haben.„?
Andricks Antwort, die ich aus unserer Korrespondenz zitiere, ist naheliegend und einfach:
Wir haben 40 Jahre Einkommens- und Vermögenskonzentration hinter uns, Umverteilung von unten nach oben, zuletzt noch einmal massiv „geboostert“.
Dieses Geld kauft sich alles, um sich noch weiter mehren und konzentrieren zu können. Seine Besitzer streben eine technokratische Diktatur in ihrem Sinne, aber natürlich im Namen des Guten, Rechten, Schönen, Wahren, Nützlichen an. Das gehäufte Geld will „Global Governance“, wie UNO, EU, WEF und ihre „Studenten“ in den Länderregierungen es ausdrücken, keineswegs Demokratie.
Die Besitzer und Sachwalter des Geldes müssen dabei vor allem verhindern, dass die Tatsache, dass es sich alles kauft, benannt wird, und dass die von ihm bereits korrumpierten Institutionen als korrupt entblößt und ihre korrupten Handlungen beim Namen genannt werden. Das ist die Sachlogik einer profitorientierten Ordnung, in diesem Sinne nichts Skandalöses, sondern ganz erwartbar.
Um das ungestörte weitere Voranschreiten der Umverteilung zu sichern, wird von den Faktencheckern nicht nur jede Form von Kritik abgewehrt. Doch ihr Bannstrahl trifft nicht nur die Gedanken. Ihre Urheber werden gleich mit neutralisiert: die Kritiker beargwöhnen sie als „Spinner“ und „Wirrköpfe“. Das Volk soll intensiv fremdeln, wenn es auf abweichende Meinungen trifft. Wer sie äußert, soll als Feind des Systems und unser aller Sicherheit gelten. So entsteht ein Angstapparat aus Kalkül*. Er ist Teil der Sachlogik, die Andrick schlicht auf den Punkt bringt.
Diejenigen, die den Angst(mach)apparat handwerklich umsetzen, kalkulieren offenkundig nicht zu ihren eigenen Gunsten. Das ist ein verblüffender Mechanismus, der aber nicht unbekannt ist: In den USA etwas wählen die am wenigsten Begüterten und am stärksten vom System Gestressten die Republikaner, die Partei der Reichen, die das System betreibt und in immer neue Exzesse der Ungleichheit hinein treibt.
Mit welcher Karriere-Idee, so möchte man fragen, klinkt sich ein junger „Checker“ in dieses System ein? Er selbst scheint ja – über den Lohn für seine Schreiberei hinaus – nicht unmittelbar zu profitieren. Dennoch verrät er mutwillig, geradezu begeistert, noch dazu „für billig“ die Ideale der Aufklärung.
Das scheinbar widersinnige Arbeiten gegen die eigenen Interessen ist für mich, der ich altersbedingt noch von Universitäts-Lehrern der 68er Kultur trainiert wurde, aufmerksam, wenn nicht mit Argwohn das Treiben von Parteien, Lobbygruppen, Funktionären und Berufspolitikern mit Regierungsämtern zu beobachten, immer wieder ein Rätsel.
Müssen wir deswegen vielleicht auf einen dunklen kollektiven Charakterzug schließen, auf eine Form der „Pathologie der Normalität“ (Erich Fromm), ähnlich jener Orwellschen Verkehrung, wie sie im Begriff des Wahrheitsministerium gebündelt ist? Oder ist die Theorie des massenweisen, gedankenlosen Konformismus der Industriegesellschaft, wie Andrick sie in Erfolgsleere darlegt, ein Verständnisschlüssel für dieses Verhalten?
Ist die zwangsweise Unterwerfung unter den kritiklosen Konformismus, die bedingungslose Angepasstheit eine neue Grundhaltung? Müssen wir uns darauf einstellen, dass die offen repressive Diskursarchitektur, die Andrick darstellt, unser Alltag wird oder können wir das Ruder noch herum reißen? Zurück auf die handwerkliche Ebene: können wir den Angstapparat wieder ausschalten oder wird er nun dauerhaft auf Hochtouren laufen, mit wechselnden existenziellen Themen (Krieg, Klima, Gesundheit)?
Andrick hat mit „Die Fakten und ihre Checker“ die Diskussion eröffnet.
Wir danken dem Freitag und dem Autor für die Veröffentlichungserlaubnis.
* „Angstapparat aus Kalkül“ ist ein Zitat, entwendet aus „Effi Briest“, das Fassbinder ins Zentrum seiner Fontane-Verfilmung gestellt hat. Der Untertitel des Films lautet ganz passend: „Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und ihren Bedürfnissen und trotzdem das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen.“
Die „Umweltbewegung der Reichen“ (Peter Dauvergne) war und ist ein Desaster.
Gegenwärtig versucht sie, uns in das Phantasma einzuspinnen, dass wir mit Superausbeutung im planetarischen Maßstab ruhig weitermachen können und trotzdem wird alles gut, solange es nur unter grüner Parteiobhut passiert.
Schlaft ihr noch oder seid ihr schon wieder eingepennt?
In Teil 4 der Aasgeier-Reihe suche ich nach Belegen für die These, dass „grüner Kapitalismus“ ein krasser Widerspruch in sich ist, mehr noch: ein vorsätzlicher Beschiß.
Die nachfolgenden Zeilen versammeln Zitate aus spannenden aktuellen Forschungsprojekten wie dem geradezu enzyklopädischen „After Extractivism“ und der Arbeit rund um das World-Ecology Research Collective des „Umwelt-Historikers“ Jason W. Moore und stellen die Erkenntnisse der Wissenschaftler neben alte Punksongs und frühsozialistische Texte.
Weil jeder von uns, selbst wenn er die Lage noch so kritisch reflektiert, unter den furchteinflösssenden Alltagsbedingungen der vergangenen drei Jahre als williges billiges „Instrument für den Klassenkampf von oben“ (Magdalena Taube) fungiert, solange er innerhalb der vorgegebenen Strukturen verweilt, führen wir – nolens volens – das Leben von Idioten.
Jedenfalls, wenn es uns nicht zügig gelingt, das System überflüssig zu machen, das uns überflüssig machen will.
Um das zu schaffen, müssen wir zunächst unser Denken grundlegend verändern, es radikalisieren, vielleicht in der Art, wie es Ernst Fuhrman einmal vorschlug: „Die völlige Freiheit vom Staat (ist) die erste Vorbedingung, unter der Menschen mit neuen Experimenten anfangen könnten.“
Infektion, Infektion, Infektion, Infektion. Umweltverschmutzung ist super gut. Sag, ist die Zeit der Schafe vorbei? Infektion, Infektion, Infektion, Infektion. Eure Umnachtung hat einen Grund. Sie ist die Grundlage unserer Verfassung. Infektion, Infektion, Infektion, Infektion. Man kann es auch Verhöhnung nennen. Es ist wie im Fernsehen. Infektion, Infektion, Infektion, Infektion. Du verkaufst Dich – das macht Sinn! Das befreit Dich von allen natürlichen Impulsen. Infektion, Infektion, Infektion, Infektion. Die Überdosis an Gift vernichtet alle Deine Pläne. Infektion, Infektion, Infektion, Infektion. Verbote haben eine Funktion: sie sind Voraussetzung für Dein Leben als Idiot. Infektion, Infektion, Infektion, Infektion. Deine Suche nach neuen Horizonten: nur im Rahmen öffentlicher Vorgaben. Infektion, Infektion, Infektion, Infektion. Du glaubst, zudröhnen ist geil? Das große Abschalten. Infektion, Infektion, Infektion, Infektion. Du hast bei der Wahl nicht abgestimmt, Deine Pflicht versäumt gegenüber der Nation! Infektion, Infektion, Infektion, Infektion. Man darf die Mission nicht vergessen: die Mission heisst Umerziehung. A3 dans le WC, Contagion, 1979
Ausser Atem
Beim Sortieren meiner Singles aus den frühen Punkjahren stieß ich auf den Öko-Desaster-Song einer obskuren Garagen-Band aus Saint-Quentin in der Picardie mit dem sperrigen Namen „A3 dans le WC“.
Öko-Desaster? Das war aus der 80er-Jahre-Perspektive der Helden meiner Jugend (Rotzkotz, Blitzkrieg, Slime) betrachtet ein Thema für Hippies von der Arschkriechereinheitsfront.
Ihr Symbol war das Poster Bitte die Erde nicht kaputtmachen, in zwölf Pasteltönen mit Kinderschrift geschrieben und über die gärenden Müsli-Container in die WG-Küche gehängt. Das fanden wir abgefuckt.
Hatte der deutsche Punk vor lauter Führer-Polizei-Spießer-Hass-Liedern das zentrale Thema der Zeit verpasst? Vollgedröhnt von seinen eigenen provokanten SA-SS-Parolen?
Französischer Underground jedenfalls war im Deutschland der frühen 80er faktisch nicht erhältlich. Frankreich galt als „Dandy“, und das interessierte die Punks nicht. So erfuhr man erst in den letzten Jahren, als eine gute Hälfte der Szene schon jenen frühen Tod gestorben war, der angeblich Altersheim erspart, dass es mehr gab als den bizarren Disco-Mutanten „Plastic Betrand„, mehr als das „A bout de souffle“ von Marie et les Garçons, viel viel mehr als den wunderlich-schönen Steril-Pop von Elli & Jacno.
Alles im typisch französischen, elegant rotzigem Tonfall, dabei ziemlich depressiv, atemlos, verzweifelt, mahnend, volle Pulle no future. Eben glasklar 80er.
Über allem schwebend, hämmernd, hysterisch verzerrt: der geniale Anti-Super-Hit „Contagion“ (aus dessen Lyrics auch der Titel dieses Textes stammt).
Um ein in jener schwarzgrauen Zeit epidemisch auftretendes Epitheton zu verwenden: der totale Soundtrack zum Untergang.
Soweit ganz schön! Jedenfalls vergleichsweise.
Was nützt es nun, kurz vor Jahresbeginn 2023 die Texte von 45 Jahre alten Punksongs anzuhören? Haben wir keine anderen Probleme?
Nein. Haben wir nicht. Es ist sogar noch übler. Wir haben nicht nur nichts aus den alten Songs gelernt, die wir vor fast einem halben Jahrhundert mitgesummt, mitgepfiffen, mitgegröhlt haben. Wir haben ein gutes halbes Jahrhundert lang gewusst, was falsch läuft. Dass es zu spät ist. Mindestens: so gut wie zu spät. Und nichts unternommen. Nichts. Sogar noch weniger als nichts. Viele von uns haben sogar die Grünen gewählt, obwohl jeder, wenn er nur eine Minute darüber nachdächte, wissen könnte, dass es keinen grünen Kapitalismus geben kann. Jedenfalls keinen mit weniger Schaden für alle Beteiligten. 45 Jahre, das sind 23.652.000 Minuten. Wenn eine Minute gereichte hätte – seien wir großzügig, sagen wir: fünf Minuten nachdenken hätte gereicht – über was haben wir dann die übrigen mehr als 23 Millionen Minuten lang nachgedacht? Es läuft auf eine trübe Bilanz hinaus. Lasst uns zusammen rechnen. Satte 10 Millionen Minuten haben wir fest geschlafen. Dann sind wir aufgewacht, konnten morgens sehen, wie sich die Welt um uns herum über Nacht verändert, die Lage sich wieder zugespitzt hatte, wie sie zügig abstürzte Ungläubig haben wir uns die Augen gerieben. Und? Noch mal runde 13 Millionen Minuten weitergeschlafen? Es ist noch viel schlimmer. Es kommen noch ein paar hundert Millionen Minuten, in denen wir nichts Vernünftiges entschieden haben, dazu. Denn wir wissen das alles bereits viel länger als 45 Jahre.
Weltökologie
Jason W. Moore, der uns seit Jahren versucht klarzumachen, wie „planetarische Gerechtigkeit“ aussehen müsste, aber dass wir statt dessen weiter zulassen, dass alles entwertet, verschleudert, und gnadenlos abgehalftert wird, bis wir alle selbst ein wenig zu Chicken Nuggets geworden sind, Wegwerflebewesen, die sich gegen ihr Ausbeutung nicht auflehnen, hält es mittlerweile für durchaus möglich, dass wir „in einem Zeitalter angekommen (sind), in dem der Mensch verschwinden könnte – und mit ihm die Welt, die er so gnadenlos ausbeutet. Denn was ist heute für uns nicht billig und schnell zu haben – auf Kosten der vielen Menschen, die weniger privilegiert sind als wir? Wir ruinieren unsere Erde, wenn wir nicht schleunigst kooperative Wege des Zusammenlebens und Wirtschaftens finden und den westlichen Raubtierkapitalismus bändigen.“
Moore fasst in einem 2022 ins Deutsche übertragenen Text zusammen:
„Wir leben im Zeitalter der kapitalogenen Klimakrise, kapitalogen im Sinne von vom Kapital gemacht. Wie das verwandte Kapitalozän mag es zunächst etwas plump klingen. Das hat jedoch wenig mit dem Wort zu tun – das System bürgerlicher Herrschaft hat uns gelehrt, den Begriffen zu misstrauen, die das System der Unterdrückung beim Namen nennen. Doch genau das ist seit jeher die Praxis emanzipatorischer Bewegungen. Sie schöpfen ihre Kraft aus neuen Ideen und einer neuen Art des Sprechens über die Dinge. Das verleiht Macht und intellektuelle sowie strategische Orientierung.
…
Der Fokus auf den ökologischen Fußabdruck lenkte die Aufmerksamkeit auf den individuellen Konsum. Der Begriff Anthropozän legt nahe, die planetarische Krise sei eine natürliche Folge der menschlichen Natur – als rühre sie daher, dass Menschen halt handeln wie Menschen, so wie Schlangen Schlangen sind und Zebras Zebras. Die Wahrheit ist offensichtlich nuancierter: Wir leben im Kapitalozän, im Zeitalter des Kapitals. Wir wissen ziemlich genau, wer für die heutigen und vergangenen Krisen verantwortlich ist. Die VerursacherInnen haben Namen und Adressen, angefangen bei den acht reichsten Männern der Welt, die mehr Vermögen besitzen als die ärmsten 3,6 Milliarden der Weltbevölkerung.“
Moores Erkenntnisse sind wichtig, aber nicht neu. Wir haben nur sehr lange nicht zugehört. Genauer: wieder vergessen, was wir schon wussten.
Zur Unmöglichkeit eines grünen Kapitalismus äußert sich Théodore Dézamy bereits 1842 (sic!) in seinem Code de la communauté unmissverständlich:
„Einen Augenblick lang scheint [unsere Kulturmethode ohne Methode] das Klima zu verbessern; bald jedoch bringt sie es wieder dahin, daß das Klima schlechter und unbeständiger wird, als es im Zustande der ursprünglichen Wildheit war. Es ist leicht, ein Land durch Urbarmachung und Ausrottung der Wälder wohnlich zu machen; aber es ist sehr schwer, ein von seinen Waldungen und Quellen beraubtes, verwüstetes und ausgetrocknetes Land, wie es das ehedem so fruchtbare Persien heute ist, zu restaurieren.
Verwüstet und ausgetrocknet sind aber durch unsere Kultur schon die Provence, Languedoc, Kastilien, und wenn das so fortginge, würden in einigen Jahrhunderten alle Länder, welche heute noch auf einen gewissen Schein von klimatischer Verbesserung stolz sind (obgleich man schon die Verschlechterung des Klimas dieser Länder mit Riesenschritten sieht), ebenso verwüstet sein.
Bekanntermaßen würde alles fast zusehends wachsen, wenn man eine Witterung nach Wunsch, eine regelmäßig abwechselnde Temperatur hätte, wo der Regen dem Sonnenschein und eine nicht allzugroße Hitze wiederum dem Regen auf dem Fuße folgen würde; man würde alsdann leichter drei Ernten erzielen als die einzige, welche man heutzutage so oft durch die Exzesse der Witterung geschmälert und zuweilen vernichtet sieht.
Es ist aber schon mehr als bewiesen (daß das Klima wie die Erde vom menschlichen Kunstfleiß umgewandelt werden kann), daß die Kultur der Erde, wenn sie mit Einsicht betrieben wird, die Atmosphäre um zehn bis zwölf Grad zu mildern vermag, wie umgekehrt eine schlechte Kultur sie um ebenso viele Grade verderben kann.“
Quelle: Théodore Dézamy. Leidenschaft und Arbeit. Aus dem Heß-Nachlaß herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ahlrich Meyer. („Der Text wurde in Orthographie und Zeichensetzung behutsam modernisiert …“) Karin Kramer Verlag, Berlin, 1980, S. 64 f. – 1845 frei übersetzt und bearbeitet von Moses Heß für eine von Marx, Heß und Engels geplante mehrbändige Bibliothek ausländischer Sozialisten.
Bert Papenfuß, dem ich diese beeindruckende Quelle verdanke, bringt es in seinem Text „Schlaffzahn/1“ mit wenigen Worten auf den Punkt:
„Es gibt keinen „besseren“ oder „grünen“ Kapitalismus. Eine technologische Umstrukturierung der Energieproduktion ändert nichts am Grundübel: Kapitalismus basiert auf der Ausbeutung von Mensch und Umwelt, die sich – gemäß der Doktrin eines permanenten Wirtschaftswachstums – immer mehr steigert, bis ins Kosmische. Kapitalismus ist Raubbau per se. Nachhaltigkeit erreicht man durch Dekapitalisierung: Enthauptung durch (Selbst-)Behauptung.„
Ein „gewisser Schein klimatischer Verbesserung “ ist offenkundig auch alles, was die gegenwärtigen (Partei-)Grünen erreichen wollen.
Neue Anfänge
Ein geistiger Punk, einer, der wenig Hoffnung hatte, dass man mit dieser Menschheit etwas Vernünftiges anfangen kann, der trotzdem keine Minute seines Lebens ausgelassen hat, nach Wegen zu suchen, die Menschheit zu erneuern, war der „Biosoph“ Ernst Fuhrmann (1886-1956):
„Es ist längst Erfahrung und Statistik geworden, dass die Menschheit die größten Epidemien, genau so wie die Kriege, überlebt. Sie macht weiter: leider. Und leider im alten Fahrwasser, indem sie hastig wieder aufbaut, was das vorige Mal schon zu einem Krieg geführt hat.
Kriege und Epidemien sind nicht groß genug, um den Menschen auf eine andere Bahn zu bringen. Und deshalb könnte man sie auch gleich auslassen. Es kommt nur auf das an, was der Mensch als freiwilligen Entschluss richtig fühlt und die Richtung, die er mit diesem Entschluss einschlägt.
NeueAnfänge zu machen sollte eher eine Freude für die Menschen sein als die Verfolgung der alten Gleise.
…
Wie schon erwähnt, haben die Staaten es dahin gebracht, dass der Einzelne nicht mehr die geringste Spur von Freiheit hat, völlig erblindet ist in seiner Sklaverei und einzig von den im Staat geleiteten Spuren eine Hoffnung haben kann.“
Fuhrmann zieht aus seiner Analyse folgen Schluss für einen Neuanfang:
„Deshalb ist die völlige Freiheit vom Staat die erste Vorbedingung, unter der Menschen mit neuen Experimenten anfangen könnten.„
Der Konjunktiv zeigt die Größe der Hoffnung. Dennoch: die Radikalität des Gedankens hat ihre Logik, wie uns der grüne Kapitalismus der Gegenwart negativ beweist. Fuhrmann war sich vollkommen bewusst, wie unpopulär – übrigens in allen Klassen – der Gedanke der völligen Freiheit vom Staat ist. „Der Geächtete“ heisst daher (s)ein Roman mit deutlich autobiografischen Zügen.
Fuhrman konzediert:
„Es ist im Grunde nicht gut, dass man das sagen muss, denn man hätte vielleicht eine größere Gemeinschaft denken können, die auch auf neue Wegen leitet und Dutzende von solchen neuen Versuchen, die einander nicht stören.„
Aber ein Staat, das steht für ihn fest, kommt trotz der Vorzüge einer „größeren Gemeinschaft“ zur Lösung der Probleme nicht in Frage. Auf was dürfen wir also hoffen, wenn größere Gemeinschaft aufgrund einer endlosen Kette historischer Fehlentscheidungen nicht in Frage kommt?
Fuhrmann sagt: „Es könnte sein, dass die Staaten keine Zeit haben, sich um einzelne Gruppen, die sich loslösen, zu kümmern: das wäre alles, was man erwarten kann.
So muss man also den Zeitfaktor bei dem Plan, einen neuen Versuch zu machen, vollkommen ausschalten. Es ist ganz gleich, wann die Menschen in einen neuen Weg ein lenken. Die Zeit bis dahin ist ein Nichts. Sie ist nicht wert, gelebt zu werden, aber es ist möglich, sich die Faktoren für das Leben klarer zu machen.“
Quelle: Ernst Fuhrmann: Biologische Studien, in: Neue Wege, hrsg. von Wilhelm Arnholdt, Bd. 4, Hamburg 1954, Seite 237 f.
Der nihilistische Tonfall Fuhrmanns mag manchem Punk-Freund vertraut vorkommen. Ich möchte sagen: zurecht. Denn im Nihilismus nimmt das konsequente zu Ende Denken, das Kaputtdenken der Lügen eine konkrete Form an. Es ist die Form der Weigerung, falsch weiterzumachen, eben so, wie zuvor.
Wie formulierte es noch der Anarcho-Philosoph und Crass-Drummer Penny Rimbaud in einem Interview? „No Future kam für uns gar nicht infrage. Wir wollten eine Zukunft. Doch wir wollten sie selbst entscheiden.“
Toxisch
Grüner Kapitalismus ist das Resultat von knallhartem Investoren-Denken. Ökologie, im Sinne von wirksamen Massnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der Natur, spielen in ihm keine Rolle. Das zeigt sich schon an der missbräuchlichen, das heisst bewusst auf Verwechselung angelegten Verwendung des Begriffs „Ökosystem“ im Sinne von „Bedingungen für ein Geschäft“ („Ökosystem E-Auto“ etc).
Grüner Kapitalismus dient keineswegs der Weltrettung, sondern der Etablierung umsatzkräftiger technologischer Innovationen. Das bedeutet, grüner Kapitalismus verfolgt letztendlich nur ein Ziel: imperiale Strategien im 21. Jahrhundert weiß zu waschen, um in Ruhe mit dem Geschäft fortfahren zu können.
Dass grüner Kapitalismus enger verzahnt ist mit dem sog. KI-Kapitalismus („Plattformkapitalismus“), als mancher von uns auf den ersten Blick glauben möchte, zeigen Magdalene Taube und Krystian Woznicki in ihrer Arbeit rund um das Aussaugen von Rohstoffen (sog. „Extraktivismus“).
Über den Aufstieg des KI-Kapitalismus und seinen erheblichen Anteil am Klimakollaps arbeiten des längerem schon Nick Dyer-Witheford, der auch den Begriff KI-K entscheidend geprägt hat, und, um ein Beispiel aus dem Taube/Woznicki-Projekt zu nennen: Paul Schütze
Magdalene Taube fasst das in der Berliner Gazette vom 21. Dezember 2022 folgendermaßen zusammen:
„Dieser Komplex aus toxisch ineinander greifenden und sich gegenseitig befeuernden ökonomischen und ökologischen Krisen hat die kapitalistischen Gesellschaften an die Grenzen des Wachstums gebracht. Und es sind vor allem die großen Akteure und Profiteure des Kapitalismus, die nicht bereit sind, diese Grenzen zu akzeptieren. Sie kämpfen verzweifelt mit Gewalt um den Erhalt und die Ausweitung ihrer Herrschaft und verschärfen damit die katastrophale Entwicklung weiter.
Was tun? Der grüne Kapitalismus wird regelmäßig als Lösung beschworen. (Unser Forschungsprojekt) „After Extractivism“ zeigt jedoch, dass es bei dieser „Lösung“ vor allem darum geht, neue Räume für die Akkumulation zu eröffnen, die als Instrument für den Klassenkampf von oben dienen.Deshalb haben wir eine Vielzahl von Stimmen versammelt, die Möglichkeiten jenseits des kapitalistischen Horizonts ausloten und einen Blick darauf werfen, was Übergangsgerechtigkeit in diesem Zusammenhang bedeuten könnte, insbesondere unter Berücksichtigung derjenigen, die als „entbehrlich“ gelten und für das „größere Wohl“ geopfert werden.„
Wir „chicken nuggets“
Wohin führen uns diese Überlegungen?
Zuerst einmal müssen wir uns gründlich von der allgegenwärtigen Angst befreien. Denn Menschen, die Angst haben oder zu niedergeschlagen sind, um noch aufstehen zu können, schauen tatenlos dabei zu, wie ihre Umerziehung zum frittierten Idioten vonstatten geht.
„Chickens don’t turn into nuggets by themselves„, wie Moore und Patel in einem Text für den Guardian sagen. Das bedeutet übertragend: wir haben uns jetzt lange genug zu nuggets machen lassen. Schluss damit!
Seit 2019 läuft das alte Programm der „Umerziehung“ erneut auf Hochtouren. Milliarden werden, braun gebrannt und rausgeputzt in ihrem feschen Panier, zum „Eat-Piece“ für das gefrässige Monster, das in ständig neuen Maskierungen erscheint, aber auf den persönlichen und für sie selbst höchst profitablen Entscheidungen der immergleichen, mittlerweile ziemlich wild gewordenen Sparkassendirektoren beruht, die vorgehen, als würden sie ihre letzte Schlacht schlagen.
Nur wenn so eine brandgefährliche geistige Infektion erfolgreich verläuft, weil wir uns nicht gegen sie wehren, kann es diesen Sparkassendirektoren gelingen, dass wir in unseren verängstigten Hühnerhirnen dem „spin doctoring“ auf den leim gehen und denken: „La pollution c’est super bon! „
Widerstand gegen eine falsche Politik und das Aufzeigen von Alternativen sind laut John Jordan „die DNA-Stränge des sozialen Wandels“.
Ein solcher Widerstand ist ebenso möglich, wie das Aufzeigen positiver Alternativen.
Ich spreche hier nicht vom Kurzduschen oder Gassparen, nicht vom Lampenausschalten und im Dunkeln sitzen. Denn die Verlagerung der Schuld am Klimakollaps in die persönliche Ebene, die Ebene des vom Kapital herangezüchteten Konsumenten, der jetzt angeblich verzichten soll, um die Welt zu retten, ist, wie wir gesehen haben, nur ein fauler Trick.
Natürlich ist es notwendig, über unsere „überaufgepumten Bedürfnisse“ (superinflated needs, Penny Rimbaud im Gespräch mit dem Autor) nachzudenken.
Vieles ist in der Tat verzichtbar, insbesondere das, auf was die Plattformkapitalisten gerade nicht verzichten möchten: Dauerfilmstreaming, permanenter Onlinehandel, autonomes Auto- und Traktorfahren, Dauerüberwachung für ein Sozialpunkteprogramm, dauernder tägliche abgerufener Essenbringdienst, alle nur möglich mit den dazu notwendigen Monster-Rechenzentren mit dem Stromverbrauch von großen Städten.
Das ist alles bei Licht betrachtet wirklich überflüssig, schädlich, tödlich für den Planeten und seine Bewohner.
Denn nicht „wir“ sind der Fehler, sondern das System, das von unserer Angst, unserer Gier, unserer Schwäche, unserer Bequemlichkeit profitiert.
Weil Fehlentwicklungen wie die zuvor beschriebenen für jedermann leicht erkennbar sind, wächst der Frust ständig und führt leider in die falsche Richtung: viele von uns lassen sich die Wut verbieten, sinken statt dessen lieber ab auf das Niveau der verstümmelten Qualhühner, die sie täglich in sich hineinstopfen und mutieren dabei zu Kannibalen ihrer selbst.
Eine wesentliche Voraussetzung für Widerstand jedoch ist, dass man sich nicht zum nugget der jeweils neuesten Variante des Profitmodells herabwürdigen lässt, sondern einen Strich zieht unter die falsche Politik.
Denn dass man mehr Macht hat, als man denkt, das haben wir doch gelernt.
Schlimmer noch als Lobreden sind Nachrufe. Zugleich mit seinem Leben verliert der Verstorbene die Gelegenheit, sein Recht auf Richtigstellung auszuüben. Ich wollte deswegen nie für die notwendigerweise entstehenden Ungerechtigkeiten eines Nekrologes einstehen müssen. Ich mache eine Ausnahme, ausgerechnet für diejenige Freundin, mit der mich eine ähnlich starke Furcht vor falscher Nachrede verband und die selbst ohne Unterlaß das Bild von sich in den Köpfen ihrer Freunde überwachte, wobei sie nach eigener Auskunft nicht selten ein „Atom von Indigniertheit“ verspürte. Die Rede ist von Marie-Luise Scherer. Sie war die oft gekrönte „Königin der Reportageliteratur“. Gustav Seibt sagte ihr nach: „Scherer kann alles.“ Dagegen steht das Wort der Autorin. „Ich kann nicht, was ich gern könnte.“
Zeilenfurcht
Von allen journalistischen Formaten ist die Reportage am weitesten entfernt von der Meldung, dem tagesaktuellen, schnell erzeugten Text, der in Masse vorkommt und das Hauptgeschäft des Zeitungsschreibers ist. Die Meldung ist spontane Reaktion. Die Schererschen Reportagen könnte man in Analogie dazu als Aktion verstehen, als eigeninitiatives Vorgehen aus gutem Grund. Nicht zufällig sind die meisten ihrer Texte „selbst beauftragt“.
Gute Reportagen sind vorbedacht und frei von Reflexen. In ihnen ist jedes Wort unter Beobachtung gestellt. Nichts kommt schnell hervor. Deswegen sind Scherers Reportagen eng mit der Dichtkunst verwandt. Scherers entspanntes Verhältnis zur Herstellungszeit adelt sie insbesondere in einem auf schnellen Verbrauch angelegten Info-Geschäft. Es verschiebt das Verfallsdatum ihrer Texte ins Ewige. Sie sind das präzise Gegenteil der auf Nachrichten getrimmten Veröffentlichung, über die der berüchtigte Volksmund sagt, nichts sei älter als die Zeitung von gestern.
Die Berufsbezeichnung Reporter ist eng mit dem Namen Egon Erwin Kisch verbunden und durch ihn mit hohem Tempo. Kisch selbst hat die beiden Begriffe untrennbar verbunden, so dass bis heute jeder, der Reporter sagt, ihn rasen sieht. Scherers Werk ist der Beweis, dass es auch anders geht.
Nach Kisch ist ein wichtiger Preis für Reportageliteratur benannt. Den hat Scherer gleich zweimal erhalten. Zuerst für den Text „Alltag einer Trinkerin“ und dann noch einmal für „Auf deutsch gesagt: gestrauchelt“, eine Fixergeschichte. Kein Abgrund scheint ihr fremd zu sein. Es sind Fälle, die ihr sicher ans Herz gehen. Sie hat dies jedoch mit dem sprachlich schlanken Pathos der Präzision neutralisiert. Nichts in diesen meisterlichen Miniaturen drängt sich auf.
Reportagen sind eine wirtschaftliche Katastrophe in einer auf Kosten-Nutzen-Rechnungen geeichten Schreibkultur. Sie sind das Ergebnis zeitaufwändiger Recherchen und hoch konzentrierter „Silbenarbeit“. Scherer sagt: jeder Satz müsse sitzen wie ein Handschuh. Diesen Vergleich kann heute nur noch verstehen, wer schon einmal eine Massanfertigung aus feinstem Hirschleder über die eigenen Finger gestreift hat.
Scherers Texte sind Produkte der Genauigkeit, oft von einer physisch fühlbaren Zeilenfurcht beherrscht, von der Angst, für eine Wendung, die der genauesten Prüfung am Ende nicht standhält, Platz zu verschwenden. Nicht selten hat sie, die fünfundzwanzig Jahre lang beim „Spiegel“ in Hamburg arbeitete, nur einen einzigen Text pro Jahr veröffentlicht.
Das ist – neben der schweren Arbeit der maximal möglichen Verdichtung der Sätze – auch noch einem weiteren Aspekt ihres Arbeitsstils geschuldet. Ohne zähes Dranbleiben sind solche Ergebnisse kaum zu erringen. Scherer ist niemand, der das Gebüsch teilt, um sich unbemerkt dem Objekt ihres Interesse zu nähern.
Verschwinden
Das Aufspüren, das dem „investigativen Journalismus“ seinen Namen gibt, hat bei ihr, wie sie mir einmal erzählte, viel mit dem langwierigen Prozess des Verschwindens zu tun.
Die Personen, denen sie beruflich begegnet, müssen zunächst einmal vergessen, dass sie vom „Spiegel“ kommt. Dann, so vermute ich, mussten sie sich an das insistierende Fragen gewöhnen, das für Scherer so typisch war.
Nach einiger, aber eben sehr langer Zeit mögen sie, und das scheint mir die höchste Kunst der Recherche gewesen zu sein, das Nachbohren als Fragen betrachtet haben, die sie sich selber stellen.
Ideal verlief es, sagte sie mir einmal, wenn sie als Beobachterin gar nicht mehr wahrgenommen, fast als Möbel, wie zum Inventar gehörig empfunden wurde. Das zu schaffen ist, wenn ich mir diese freche Anmerkung erlauben darf, für eine Kettenraucherin eine besondere Glanzleistung.
Das Verschwinden ist ganz sicher eine Form von Respekt, den sie jenen von ihr aufgespürten Personen zollt, gewissermassen eine mindeste Wiedergutmachung für das Eindringen in deren Privatsphäre. Deswegen ist die typisch Scherersche Schonungslosigkeit niemals eine „Enthüllung“.
In dem schmalen Sammelband „Unter jeder Lampe gab es Tanz“ heisst es: „Leider gibt es für das Schreiben keine dem Aquarellieren vergleichbare Technik, mit der man zum Beispiel nur einem Hut feste Konturen gibt, die über dem Hut hinwegziehenden Wolken dagegen durch einen wässrigen Pinselschlag entstehen lässt. Beim Schreiben aber dehnt sich jedes Wort über die Strecke der von ihm benötigten Buchstaben aus. Auch die Randbemerkung schlägt sich als Zeile nieder, jeder Unfug und auch das Bedauern über ihn.“
Der letzte Satz
Mit nicht geringem Stolz erinnere ich ihre erste Reaktion auf meinen Roman „Unterdeutschland“. Sie fuhr ein wenig nervös mit einem Finger über die Zeilen des ersten Kapitels, als könne sie die Schreibqualität ertasten. Ihr Prüfergebnis: „Dicht geknüpft wie ein Orientteppich.“ Amüsiert notierte ich das noch am gleichen Tag. Als ich sie Monate später fragte, ob wir den Satz für den Rücken des Buches verwenden dürfen, war sie sehr unzufrieden damit, fand ihn unausgewogen, nicht präzise genug. Zweimal haben wir uns getroffen, um nachzubessern. Nach mancher Abschweifung und Variante, notiert auf dem Rand der FAZ, die stets auf ihrem kleinen Küchentisch lag hinter der Glastür zum Hof, wo der Besucher am Portrait der vielleicht erst dreissigjährigen Dichterin vorbei den Krähen auf dem Dach des Gartenpavillons bei der Arbeit zusehen konnte, kamen wir am Ende wieder beim spontan Gesprochenen an. Der Handschuh war fertig.
In friedensmüden Zeiten erscheint bei DIE AKTION der Text „Schlaffzahn“ von Bert Papenfuß – über anarchistischen Pazifismus, die Musik und die Texte von Crass und ihren philosophischen Kopf und AKTION-AutorPenny Rimbaud, über Ost-Punk, den im Grabe rotierenden John Peel und die westlichen Strategien der Volksverdauung.
Hören wir, wie der Autor sein Werk selbst einordnet:
„Vor vier Jahren habe ich angefangen, sporadisch und häppchenweise an einem Text zu elaborieren, in dem ich meine ambivalente Haltung zum Pazifismus erörtern wollte. Das Ganze brannte mir nicht unter den Nägeln, denn das Problem begleitet mich schon fast mein ganzes Leben lang, und wird auch in absehbarer Zeit nicht zu lösen sein. In dieser Bredouille stecke ich ja nicht ganz allein. Zwischendurch schrieb, publizierte, edierte und übersetzte ich vor mich hin, wie es meine Art ist. Die Datei des Elaborats in progress bekam den Arbeitstitel „Schlaffzahn“, weil ich mir diverse Zähne ziehen lassen mußte. Im Spätsommer 2022 benannte ich den Text „Empörung und Entrüstung oder Zerstörung und Verwüstung“, den Untertitel „Freie Assoziationen über Probleme des anarchistischen Pazifismus, Teil 1: Die Musik“ gab es schon länger. Olaf Arndt fand den Dateinamen gut, deswegen heißt das Ganze jetzt wieder „Schlaffzahn“, ich bin’s „zufrieden“; warum nicht, steht im Text.
Eine frühe Arbeitsversion des Textes schickte ich an meinen alten Kumpan Lutz Heyler, der einige Passagen und Arbeitsnotizen geistreich kommentierte. Dann jedoch holte mich die Tagespolitik ein, und alle von ihm kommentierten Passagen verschwanden aus dem Text. Ich verspreche, nächstes Mal effektiver mit seiner Energie umzugehen, und keine ungelegten Eier mehr in die Welt zu setzen. – Meine Arbeitsmethode ist so ungewöhnlich nicht: Aktuelles antipolitisches Nachdenken fließt, nahezu ungestrafft, in einen Textkorpus ein, der lyrisch grassiert; je nachdem, wie viele Läuse, die sich an den meisten von uns laben, mir gerade über die Leber gelaufen sind. Das barocke Mäandern von Gedanken lenkt manchmal ein, renkt ein anderes Mal aus. Einige Passagen (die Abschwiffe 3 und 4) waren dennoch stringent genug, um als (anti-) politische Essays in den Zeitschriften telegraph und Der Erreger, auch in der Tageszeitung junge Welt zu erscheinen. Einige der verbal entgleisten Passagen hat Mario Mentrup vertont, andere anstößige erschienen in der Zeitschrift Abwärts. Viel Spaß bei der – hoffentlich gelegentlich kurzweiligen – Lektüre.„
Bert Papenfuß, 21. 11. 2022
Der Titel des Beitrags ist ein Zitat aus de Text „Schlaffzahn“
Heute veröffentlichen wir in DIE AKTION – als Teil unserer neuen Reihe „Enquete – analytische Präparate für die post-pandemische Gesellschaft“ –einen hellsichtigen, dreissig Jahre alten Text des französischen Mediziners und in Deutschland weitgehend unbekannten Essayisten Michel Bounan, der Guy Debord und den Situationisten nahe stand.
Der Text ist ein Ausschnitt aus Bounans Buch „La Vie innomable“ (in dt.: „Das unsägliche Leben“), das er 1993 im Alter von 51 Jahren veröffentlichte.
In seinem wohl bekanntesten Essay, „Le temps du sida“ (in dt.: ‚In Zeiten von AIDS‘) stellt Bounan drei Jahre zuvor die These auf, der Ausbruch der Krankheit AIDS, die er „eine ideologische Infektion“ nennt, stehe in enger Verbindung zu den durch die moderne Warenwirtschaft geschaffenen sozialen Bedingungen und der daraus resultierenden Umweltzerstörung.
Seiner Meinung nach würden die ständigen physischen und psychischen Angriffe durch allgegenwärtige chemische Verschmutzungen und medizinische Produkte, sowie die Impfungen in den Ländern der Dritten Welt die natürlichen Abwehrkräfte des Körpers beeinträchtigen.
Bounan, dies sei an dem Punkt angemerkt, praktizierte als Homöopath. Seine AIDS-Theorie knüpft an frühere Theorien an, die bestreiten, dass HIV der (alleinige) Auslöser der Krankheit sei.
„Michel Bounan war sich sicher: Die Welt, wie wir sie kennen, die Welt der Waren, wird unaufhaltsam zugrunde gehen. Das fortschreitende Desaster zeigt sich für Bounan in allen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens, ob in der Ökologie, der Medizin, der Ernährung, der Psychologie, der Erfahrung der Zeit, der Sprache. Alle Versuche, dagegen mit den vorliegenden Mitteln und Methoden …vorzugehen, sind für ihn zum Scheitern verurteilt. Im Gegenteil: Sie tragen unweigerlich noch zur Beschleunigung der Katastrophe bei.“
Debord erhob aufgrund des vorliegenden Textes Bounan zum „wichtigsten Kenner des totalen Desasters […], das bereits im gesamten Gesundheitswesen feststellbar ist.“ (S.325 Ausgewählte Briefe 1957-1994, Berlin, 2011)
Bounan war Debords Hausarzt.
Noch einmal Volkert: „Michel Bounan ist am 11. November 2019 im Alter von 77 Jahren gestorben, gerade noch rechtzeitig – welch böse Ironie der Geschichte –, damit er keine Gelegenheit mehr erhielt, sich zur ‚Zeit von Corona‘ zu äußern. Immerhin können seine vorhandenen Texte helfen, ein wenig diese dunkle Zeit durch Einsicht zu erhellen.“
Der durchtriebene Staat
Was der Enthüllung des wahren Gesichtes unseres „durchtriebenen Staates“ (Bounan, L‘État retors, dt. hier) vorangeht, welche Illusionen wir aufgeben müssten, formuliert Bounan wie folgt:
„Genauso ist es mit jeder Ware, die sich rühmt, ihrem Besitzer seine Kraft, seine Freiheit, sein verlorenes Leben wiederzugeben, deren Gebrauch und schneller Verschleiß aber zu neuer schwerer Qual führt. In Zukunft muß man jede Ware, die mit solchen Behauptungen prahlt, als Gift betrachten, das heißt: fast alle modernen Waren.
Und noch eine andere Illusion muß aufgegeben werden: Man kann sich heute in keiner einzigen bezahlten Tätigkeit ‚verwirklichen‘. Die Tätigkeit wird nur entlohnt, weil sie für das Funktionieren dieses perversen Apparates nützlich ist und deshalb im Gegensatz zu den lebendigen Wünschen steht, die in ihr in den Dienst genommen werden. Sie zerstört die Arbeiter immer. Es wird schließlich auch notwendig sein, jeden als Feind zu betrachten, der vorgibt, im Namen von anderen zu handeln, die keine Gelegenheit haben, ihn sofort der Lüge zu bezichtigen.“
Le Temps du sida, Paris 1990 (in dt. „In Zeiten von AIDS“), S.165, dt. von Bernd Volkert für „Der Erreger“
Die letzten Zeilen klingen vertraut in Zeiten von SARS-CoV2, in der unsere medizinische Behandlung von „Autoritäten“ eingefordert wird: zum Schutz der Verletzlichen. Die Vergiftung ist durchaus nicht freiwillig – sie wird durch angsteinflössende Drohung angeordnet, mit quasi-psychologischem Zwang durchgeführt. Die Ware hat – so scheint es – ihre Verführungskraft eingebüßt. So muss nachgeholfen werden, damit der Umsatz stimmt.
Sollte sich die in den „Chimären“ veröffentlichten Behauptungen eines Tages als wahr erweisen und die Krankheit tatsächlich das Ergebnis einer aus dem Ruder gelaufenen Waffenforschung sein, so hat auch hierauf Bounan schon eine Antwort parat.
In seinem Buch Logique du terrorisme (2003, in dt.: „Logik des Terrorismus“, engl. Textfassung hier) beschreibt er das Mafia-System im Italien des 19. Jahrhunderts, das Terrorismus gegen Ziele praktizierte, die sich nicht unterwerfen wollten, und ihnen gleichzeitig Schutzdienste gegen diesen Terrorismus anbot.
Er weitet diese Analyse auf Regierungen aus, die, um ihre Existenz gegen ihre kritische Bevölkerung zu verteidigen, den Terrorismus instrumentalisieren und unter dem Deckmantel des Schutzes vor diesem Terrorismus repressive Gesetze gegen ihre Bevölkerung einführen.
Wurde SARS-CoV2 synthetisch erzeugt, um als Waffe zu dienen? Eine aktuelle Analyse.
In der griechischen Mythologie sind die Chimären vielköpfige Ungeheuer, brandgefährliche Mischwesen, die mal aus einer Ziege und einer Bestie zusammengefügt sind, mal aus Schlangen und Drachen. Hydra, das im Wasser lebende Scheusal mit dem tödlichen Hauch, zählt ebenso zu den Chimären, wie der Höllenhund Zerberus, der „Dämon aus der Grube“. Echidna, die „Mutter aller Monster“, gründete die Sippe, indem sie mit Typhon, dem Sohn der Gaia, eine Tochter namens Chimaira erzeugte. So entstand der Sammelname für all die Satansbraten von Geschwistern.
Derlei Tierwesen stehen am Anfang der mythischen Schöpfung – aber sie wecken keine angenehmen Gefühle.
Umso verwunderlicher, dass in der modernen Genetik ein derart negativ konnotierter Begriff wie „Chimäre“ einen Organismus bezeichnet, der aus genetisch unterschiedlichen Zellen besteht, aber dennoch ein einheitliches Individuum bildet. Ist das Gen-Material zudem synthetisch erzeugt, haben wir es mit einer Art Cyborg zu tun, einem „kybernetischen“ Körper, in den dauerhaft neben natürlichen auch künstliche Elemente eingeschraubt sind.
Mit SARS-CoV-2 als einem „chimärischen Virus“ befassen sich nun zwei jüngst veröffentlichte Papiere. Beide werfen auf radikal unterschiedliche Weise die Frage auf, ob künstlich veränderte Viren Waffen sein können.
Ich fürchte, nicht einmal der größte Kenner aller dystopischen Projekte, Mike Davis, hat sich, als er 2005 sein Buch „The Monster at Our Door – The Global Threat of Avian Flu“ veröffentlichte, vorstellen können, auf welche Weise sich „die Pandemieuhr Mitternacht nähert“. Er resümiert fünfzehn Jahre später, kurz vor seinem Tod: „Die kapitalistische Globalisierung ist biologisch untragbar geworden.“ In jenem späten Text von 2020 geht es, gemessen an den jüngsten Einsichten, noch vergleichsweise harmlos um „Seuche und Profit“.
Nun ist eine nächste Runde in der Diskussion um die Herkunft des Virus eingeläutet. In ihr geht es um Seuche und Mord. Hat die Mutter aller Monster – diesmal zusammen mit Mars, dem Kriegsgott – ein neues Kind geboren?
Gen-Scherereien
Wenn solche Erfindungen zu Waffen werden, verschiebt sich das Schlachtfeld. Die französische Toxikologin Chantal Bismuth hat versucht, der Entwicklung mit einer neuen Klassifikation näher zu rücken. Sie spricht von „Angriffsmedikamenten”, von Technologien der „vierten Generation”. Sie meint damit, daß das Spektrum konventioneller Waffen … nunmehr dank Nano- und Biotechnologie fast beliebig erweiterbar ist. Während die (konventionellen und die nicht-tödlichen) Waffen mit dem Körper und dem Nervensystem interagieren und die gewünschten (Verhaltens-)Effekte durch die Anwendung mehr oder minder brachialer Gewaltanwendung erzielen, operieren die „biologischen Agenten” der nächsten Generation erheblich sublimer. Indem sie sich – einmal abgeschossen – oft unbemerkt in den Körper einschleichen oder – wie bei vielen Psychopharmaka und modifizierten Nahrungsmitteln – sogar freiwillig eingenommen werden, erreichen sie ihren Kontrolleffekt oder ihre militärische Wirkung auf erheblich „feinere” Weise. Olaf Arndt, Demonen, Hamburg 2005
In den letzten Tagen sind mir die zwei oben erwähnten Papiere zugegangen, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben scheinen.
Sie handeln zwar beide von Scherereien, mit denen wir alle, die Bewohner dieses Planeten, zu kämpfen haben, weil einige Wenige „von uns“ mit der Genschere an Viren herumschnippeln, die sie durch Analabstriche aus dem Darmausgang von Fledermäusen extrahiert haben.
Doch das eine, schon zwei Jahre vor Ausbruch der Pandemie verfasste, aber erst jetzt in vollem Umfang geleakte Papier mit dem Titel „Project Defuse“ befürwortet das Experimentieren mit Viren und bemüht sich dazu um militärische Unterstützung.
Während das andere, Ende Oktober 2022 erschienene Papier über den vermutlich synthetischen Ursprung von SARS-CoV-2 die Folgen der Experimente analysiert.
Es heisst bekanntlich, man könne den Geist einer Gesellschaft recht gut an den Instrumenten erkennen, die sie zu ihrer Instandhaltung für geeignet oder unverzichtbar hält.
Was sagt es über den Zustand unserer gegenwärtigen Kultur aus, dass wir wesentliche Erkenntnisse zu ihrer Fortführung aus der Scheiße beziehen, die wir Fledermäusen aus dem Arsch popeln?
Entschuldigen Sie bitte die vulgäre Ausdrucksweise. Ich möchte damit lediglich erreichen, dass Sie sich so plastisch wie möglich vorstellen, aus genau welcher handwerklichen Tätigkeit mit zunehmender Wahrscheinlichkeit die Pandemie entsprungen ist.
Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung
Hier nun einige Details zu beiden Studien.
Der Grad der Komplexität der Elemente, die ich benötige, um diese für einen Laien hoch verwirrenden Projekte darzustellen, erfordert Ihre ganze Konzentration. Bitte lassen Sie sich nicht entmutigen durch den etwas schwer lesbaren ersten Teil. Ich bemühe mich um eine allgemeinverständliche Auswertung.
Dabei geht es mir zwar um eine Übersetzung des Inhaltes der Papiere in verständliche Alltagssprache.
Mich interessiert aber dabei stets die generelle Frage, welche Haltung sich für kritische Beobachter aus der Gemengelage von Fakten und politischen Finten notwendig ergibt?
Welche Erkennisse ziehen wir aus der Analyse solcher Papiere: über unsere Regierungen, unsere Wissenschaft und unsere Wirtschaft, ein apokalyptisches Trio, das unverdrossen fröhlich kooperiert, um endlich den Deckel von der Büchse der Pandora zu reissen?
Welche gesellschaftliche Grundkonstellation verhilft Projekten wie dem zur Herstellung von gefährlichen Chimären aus den Viren der Fledermaus-Fäzes zum glücklichen Abschluß? Wie interveniert ein heutiger Aktivist, um diesem Wahnsinn ein Ende zu setzen? Welche Mittel und Methoden benötigen wir künftig, wenn wir das hemmungslose Hantieren mit dem tödlichen Geschmeiß unterbinden wollen?
Grundvoraussetzung zur Mobilisierung der Widerstände gegen solchen Irrwitz ist Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung.
Weltuntergangsschalter
Bei „Project Defuse“ handelt es sich um die Beschreibung eines seit August 2019 abgeschlossenen Vorhabens der (angeblichen) NGO EcoHealth Alliance , Coronaviren umzuformen, um „unsere“ Streitkräfte zu schützen.
Das Papier ist bunt illustriert mit Soldaten und Fledermäusen und ursprünglich als Antrag an die militärische Avantgarde-Forschungseinrichtung des Pentagon, DARPA, verfasst worden. DARPA hat eine Förderung abgelehnt, weil EcoHealth zu enge Verbindungen zum Wuhan Institute of Virology unterhält. Dennoch ist das Projekt offensichtlich durchgeführt worden. Eine Timeline findet sich hier.
D.R.A.S.T.I.C. sammeln geleakte Informationen zur Covid19-Pandemie und lassen sie von renommierten Wissenschaftlern auf ihre Plausibilität untersuchen.
Einer von diesen Experten ist Simon Wain-Hobson, ein britisch-französischer Mikrobiologe und Professor für Molekulare Retrovirologie am Pasteur Institute in Paris, sowie Direktor des französischen HPV Reference Laboratory, und Board Chair der Foundation for Vaccine Research in Washington DC.
Zum Project Defuse sagt Wain-Hobson , dass ihm nicht deutlich wird, inwieweit der Projektvorschlag von EcoHealth verhindert, dass „bedenkliche Forschung mit doppeltem Verwendungszweck (DURC) oder Gain of Function (GOF)-Forschung vorliegt“.
Er meint mit „DURC“, dass durch die Art, wie EcoHealth das Projekt aufstellt, wahrlich nciht annähernd ausgeschlossen ist, dass eine doppelte, also auch eine militärische (für die Enwicklung von Biowaffen geeignete) Nutzung möglicht sei, neben der zivilen Nutzung der Forschungsergebnisse zum Schutz der Menschen. GOF hingegen bedeutet so etwas wie Funktionsgewinn-Zuwachs. GOF ist ein Bereich der medizinischen Forschung, der sich auf die serielle Passage von z.B.Virenin vitro konzentriert, sowie Mutationsprozesse beschleunigt. Für GOF-Projekte werden die Gene der Viren verändert. Dadurch erhalten sie eine höhere Pathogenität, Verbreitung oder größere Übertragbarkeit. Dies soll dem Schutz der Menschen dienen, ist aber höchst riskant.
Wain-Hobson geht in seiner Analyse des Defuse-Papiers noch einen Schritt weiter. Er stellt fest, dass aus virologischer Sicht mit diesem Vorhaben sicher kein Schutz der Menschen erreichbar ist, ganz im Gegenteil.
Im Wortlaut heisst es:
„Die Autoren behaupten, dass ihre Arbeit nicht DURC/GOF ist. Zweifellos entspräche dies einer sehr strengen Definition der Kriterien. Ich würde aber aus den folgenden Gründen nicht zustimmen, dass dem so ist:
Sie arbeiten mit Fledermaus-CoVs, die auf menschlichen Zellen wachsen können oder Spike-Proteine besitzen, die eine Infektion menschlicher Zellen mit viralen Pseudotypen ermöglichen. Sie suchen sich von Anfang an pleotrope Viren aus, also solche, die sich in Zellen von mehr als einer Tierart vermehren. Vielleicht gibt es keine anschließende Mensch-zu-Mensch-Übertragung dieser Viren. Aber das wissen sie nicht.
Die Behauptung, dass die Herstellung von Fledermaus-Chimären nicht DURC/GOF ist, weil die Ursprünge der einzelnen Segmente aus einer Fledermaus stammen, ist unaufrichtig oder bestenfalls vereinfachend.
Nicht die Herkunft der Fragmente ist wichtig, sondern der Phänotyp des Virus. Es geht nur um den Phänotyp. Sonst würde es nicht DURC heißen. Es würde kein C (für Concern/Bedenken) geben.
Ich bin sehr dafür, natürliche Viren zu untersuchen, aber die Herstellung von Chimären führt uns in den Bereich des Unnatürlichen. Während sicher einige Phänotypen abgeschwächt werden, könnten andere verstärkt werden. Die Autoren können das nicht wissen, bevor sie ihre Experimente durchführen. Das ist ihnen auch bewusst.
Aber da sie wissen, dass sie mit pleotropen Viren oder pleotropen Spike-Proteinen arbeiten, ist Vorsicht die oberste Pflicht bei der Forschung. Hinzu kommt, dass sie mit Mutationsmaschinen in Umgebungen arbeiten, in denen die Selektion aktiv ist.
Angesichts der Grundvoraussetzung, dass die Vorhersage eines (nächsten) pandemischen Virus nach aktuellem Forschungsstand vollständig unmöglich ist, warum wollen sie dann diese DURC/GOF-Arbeit durchführen?“
Wain-Hobson impliziert mit diesem letzten Satz, dass sich aus den von EcoHealth durchgeführten Experimenten sicher keinerlei Nutzen zur Abwendung künftiger Pandemien ziehen lässt, so dass das Vorhaben virologisch nur plausibel sei, wenn man eine genetische modifizierte Waffe aus dem Virus machen wolle.
Er sagt konkret:
„Es besteht bei solchen Experimenten eine tödliche Anziehungskraft. Es wird alles unternommen, um hochpathogene Fledermaus-CoVs (BatCoVs) zu identifizieren. Soweit so gut. … Warum aber will man das Spike-Protein so verändern, dass es besser für die Infektion menschlicher Zellen geeignet ist? Proteaseschnittstellen, N-Glykosylierungs- und Rezeptorbindungsstellen – an allem wird herumgespielt.“
Wain-Hobson zieht folgenden Schluß:
„Chimären-Viren, wie sie im Rahmen des „Project Defuse“-Vorschlags hergestellt werden sollen, werden nicht natürlich sein, so dass jede Messung der Pathogenese in humanisierten Mäusen wenig Aussagekraft für den Effekt beim Menschen besitzt. Der Mäuseversuch ist diesbezüglich rein manipulativer Art. Mehr nicht.“
Wain-Hobson meint damit, dass das Experiment, also: die Herstellung einer viralen Chimäre, suggerieren solle, es nütze dem Menschen. Aber er hält dies aus fachlicher Sicht für grob fahrlässig.
Er schließt seine Bewertung mit einem Zitat:
„Terry Pratchett hat die Schatten von Prometheus oder Ikarus in zeitgenössischer Sprache eingefangen: Manche Menschen würden alles tun, um zu sehen, ob es möglich ist, es zu tun. Wenn man irgendwo in einer Höhle einen großen Schalter anbringen würde, auf dem ein Schild mit mit der Aufschrift „Weltuntergangsschalter. BITTE NICHT BERÜHREN“ klebt, hätte die Farbe nicht einmal Zeit zum Trocknen.„
Wain-Hobson bemerkt zudem, dass er der Meinung sei, wir wären nicht hier, um die Welt in einen noch gefährlicheren Ort zu verwandeln.
Infektiöse Klone
Das zweite Papier kommt erheblich trockener und unaufgeregter daher. Es fasst die Analyse des für die Pandemie verantwortlichen Virus durch deutsche und amerikanische Forscher zusammen. es erschien am 20. Oktober 2022 und trägt den vielsagenden Titel:
„Endonuklease -Fingerprint deutet auf synthetischen Ursprung von SARS-CoV-2 hin“.
Die Frage nach einem möglicherweise künstlichen Ursprung des Virus beschäftigt in jüngster Zeit vermehrt die Forscher. Hier nur zwei Beispiele: The Intercept und ein weiteres Dokument von Drasticresearch.
In der Zusammenfassung eingangs des deutsch-amerikanischen Forschungs-Papiers heisst es bereits unmißverständlich:
„Um künftige Pandemien zu verhindern, ist es wichtig, dass wir verstehen, ob SARS-CoV-2 direkt von Tieren auf Menschen übergegangen ist oder indirekt durch einen Laborunfall. Das Genom von SARS-CoV-2 enthält ein eigenartiges Muster einzigartiger Restriktionsendonuklease-Erkennungsstellen, die einen effizienten Abbau und Wiederzusammenbau des viralen Genoms ermöglichen, wie er für synthetische Viren charakteristisch ist. Hier berichten wir über die Wahrscheinlichkeit, ein solches Muster bei Coronaviren zu beobachten, bei denen kein Bio-Engineering stattgefunden hat. Wir stellen fest, dass SARS-CoV-2 eine Anomalie darstellt und eher ein Produkt der synthetischen Genom-Assemblierung als der natürlichen Evolution ist. Die Restriktionskarte von SARS-CoV-2 stimmt mit vielen zuvor gemeldeten synthetischen Coronavirus-Genomen überein, erfüllt alle Kriterien, die für ein effizientes reverses genetisches System erforderlich sind, unterscheidet sich von seinen nächsten Verwandten durch eine deutlich höhere Rate an synonymen Mutationen in diesen synthetisch aussehenden Erkennungsstellen und hat einen synthetischen Fingerabdruck, der sich wahrscheinlich nicht aus seinen nahen Verwandten entwickelt hat. Wir stellen fest, dass SARS-CoV-2 mit hoher Wahrscheinlichkeit als infektiöser Klon entstanden ist, der in vitro zusammengesetzt wurde.“
Bitte lesen Sie den vorletzten Satz sehr genau: er bedeutet meines Erachtens – insbesondere wenn man es mit Projekt Defuse im Hinterkopf liest – dass die synthetisch eingefügten Elemente für die Mutation verantwortlich sind, so dass man eine Art Cyborg-Virus erhält, dessen natürlicher Teil extrem tödlich sein könnte, wenn man dafür zB. die RNA der chinesischen Höhlen-Fledermäuse nähme, während die künstlichen erzeugten Abschnitte verhindern, dass dagegen erfolgreich geimpft werden kann.
Das deutsch-amerikanische Forscherteam schließt die Studie mit der Einsicht:
„Das Verständnis des Ursprungs von SARS-CoV-2 kann die Politik und die Forschungsfinanzierung zur Verhinderung der nächsten Pandemie beeinflussen. Der wahrscheinliche Laborursprung, auf den unsere Ergebnisse hindeuten, motiviert zu Verbesserungen in der globalen Biosicherheit. Angesichts der Fortschritte in der Biotechnologie und der geringen Kosten für die Herstellung infektiöser Klone besteht ein dringender Bedarf an Transparenz bei der Coronavirus-Forschung vor COVID-19 und an einer weltweiten Koordinierung der biologischen Sicherheit, um die Risiken einer unbeabsichtigten Entweichung infektiöser Klone aus dem Labor zu verringern.“
Wozu Cyborg-Viren?
Schritt für Schritt wird uns deutlicher: es gibt keine Nische mehr. Kein Entrinnen. Der Griff aus dem Dunkeln hält uns bereits fest am Kragen. Wie gehen wir damit um?
Um das beantworten zu können, sollten wir zunächst einmal die Motive der Entwickler verstehen. Wozu könnte trotz bekannter Gefahren die Entwicklung eines Cyborg-Virus dienen?
Wenn wir BatCoVs wie beschrieben als Waffe verstehen, hängt von der Geheimhaltung ihrer Zusammensetzung ihre Effizienz ab.
Vielleicht ist es wie bei einem Lizenz-Geschäft? Der Entwickler der synthetischen Anteile hätte als einziger die Formel in der Hand, um das Cyborg-Virus als Waffe einzusetzen, ohne dadurch die eigenen Soldaten zu gefährden. Dieses Wissen wird er unter keinen Umständen freiwillig teilen wollen, jedenfalls nicht, solange der Cyborg eine militärische Effizienz besitzt.
Das wäre hoch problematisch.
Wir erinnern die Einleitung eines (damals, Oktober 2002) unbekannten Gases in das von tschetschenischen Selbstmordattentätern besetzte Moskauer Musical-Theater „Dubrovka“. Die russischen Geheimdienstkräfte, die den Einsatz zur Beendigung der Geiselnahme durchführten, waren mit einem Gegenmittel und Gasmasken gegen die Wirkung des Giftes geschützt. Erst als sie alle Tschetschenen erschossen hatten, ging es an den Abtransport der mehr als 700 Geiseln. Draußen warteten bereits hunderte von Krankenwagen. Aber die vom Gas schwer verletzten Theaterbesucher hätten sich nur retten oder überhaupt behandeln lassen, wenn die Zusammensetzung des Gases und Gegenmittel bekannt gewesen wären. Die Einsatzleitung aber weigerte sich, den Krankenhäusern und Ärzten die Formel herauszugeben. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB fürchtete, dass wenn die Zusamensetzung dieses Kampfstoffes einmal bekannt wäre, er nie wieder effizient eingesetzt werden könne.
Viele hundert Tote hätten vermieden werden können. Viele Überlebende fielen ins Koma, bleiben lebenslang geschädigt durch schwere Hirnläsionen.
Womöglich befinden wir uns heute in einer ähnlichen Patt-Situation.
Unsere Impfstoffe helfen nicht, denn die Formel der artifiziellen Strangabschnitte und wie man aus ihrer genauen Kenntnis ein wirksames Gegenmittel destilliert, könnte ein militärisches Geheimnis sein? Wenn aber SARS-CoV-2 gebaut und eigenmächtig entfleucht wäre, warum haben wir dann nicht mehr über seine Wirkung und eine erfolgreiche Methode der Bekämpfung in der Hand? Vielleicht, weil dieses Staats-Geheimnis hochgradig geschützt ist?
Warum, wenn all das „Spökenkrams“ wäre, gibt es „ein eigenartiges Muster einzigartiger Restriktionsendonuklease-Erkennungsstellen“, ohne dass an der RNA des Virus herumgeschraubt bzw. ge-Crispr-t worden wäre – eine Einsicht, aus der ich ableite, dass die Autoren damit meinen, es sei äußerst ungewöhnlich, solche Erkennungsstellen „bei Coronaviren zu finden, an denen kein Bio-Engineering stattgefunden hat.“
Mir fällt an dieser Stelle ein Witz ein, der ganz zu Anfang der Corona-Zeit mein Nachdenken über den Ursprung der Pandemie und vor allem über den Hintergrund der global konzertierten Maßnahmen am stärksten befeuert hat.
Die Frage lautete: Wer profitiert von der Pandemie?
Gentaxi
Als wir am 15. März 2020 mit Motorschaden kurz vor der flugs entlang des Rheins eingerichteten Zonengrenze mit Blick auf das deutsche Ufer, an dem Bundespolizei patrouillierte, hängen blieben, sagte der französische Abschleppwagen-Fahrer mit Bezug auf das am nächsten Tag beginnende erste Confinement (Ausgangssperre): „Das haben die da oben doch im Labor entwickeln lassen, damit alle Alten sterben und sie weniger Pensionen bezahlen müssen.“
Wir lachten und luden unser havariertes Fahrzeug auf.
Die absurde Idee jedoch steckte in meinem Gehirn fest, so daß ich, nachdem das Auto wieder flott und wir zu Hause angekommen waren, im Juni 2020 Boris Fehse, Forscher am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg, einem bundesweit beachteten Leuchtturm der Forschung, interviewte.
Prof. Dr. Fehse ist wissenschaftlicher Laborleiter im Zentrum für Onkologie in der Interdisziplinären Klinik und Poliklinik für Stammzelltransplantation.
In dem Gespräch ging es um den Einsatz von (Lenti-)Viren als „Vektoren“ in der genetischen Medizin, also um technische Verfahren des Gentransfers in menschliche Zellen hinein, mit dem Ziel, hier durch indivuell zugeschnittene „Gaben“ sehr seltene Krankheiten behandeln zu können, gegen die es bislang keine Remedien gibt. Zum Einschleusen des genetischen Wirkstoffs in den Patientenkörper werden Viren zu sogenannten Gen-Taxis umgebaut, also zu Transportern des „Medikamentes“ in die menschliche Zelle.
Wir haben im Verlauf des Interviews auch über die Möglichkeit gesprochen, Corona als einen solchen Transporter zu nutzen. Fehse schloss dies 2020 kategorisch aus: wegen der kurzen Zerfallszeit von Coronaviren. Das Basteln an Gentransfer-Vektoren für die genetische Medizin schien also die Pandemie nicht ausgelöst zu haben.
Trotzdem quälte mich die Frage:
Wenn unsere Regierungen wirklich nichts über das Virus wüssten, was sie uns lieber verheimlichen möchten, und das Ding in Wahrheit total harmlos ist: wozu dann der ganze Aufriss mit Lockdown, Confinement, Kontaktsperre?
Nur um die Wirtschaft in unübersehbarem Ausmass zu schädigen, damit sie auf Null kommt und danach wieder fantastische Zuwachsraten verzeichnet?
Das wäre doch ganz eigentlich eine Verschwörungstheorie, viel hanebüchener als die recht begründete Annahme, dass mal was schiefgehen kann, wenn man an Viren rumfummelt, um sie zu Transportern für Heilmittel umzubauen oder als Waffen einzusetzen.
Wenn die Regierungen aber wussten, wie gefährlich das umgebaute Virus ist und wie schnell es sich ausbreitet, dann macht die globale Orchestrierung wieder Sinn.
Wie ließen sich diese Fragen beantworten, wenn das Virus „natürlichen“ Usprungs wäre?
Nun, dann wäre die Erfolglosigkeit, Schutz vor Infektion durch eine internationale Impfkampagne zu gewährleisten, ebenso eine Bankrott-Erklärung für die moderne Medizin, wie es beunruhigen müsste, dass die geballte Hi-Tech gestütze Intelligenz der Epidemiologen uns in zwei langen Jahren noch kaum einen Schritt voran gebracht hat in Sachen Eindämmung der nächsten Welle der Virus-Verbreitung.
Sie sehen: der Abschleppwagenfahrer hatte mir erfolgreich einen Ohrwurm ins Gehirn geblasen. Immer rotierte in mir das Wort Labor Labor Labor. Immer wenn ich hörte, die Sache sei vom niedlichen Pangolin oder einer flatternden Fledermaus direkt auf den Menschen übergesprungen, musste ich unwillkürlich lachen. Nur das Labor erklärte mir, warum alle Regierungen gleichzeitig auf die gleiche drastische Art reagierten. Ich dachte: wenn die Sache so gefährlich ist, dass wir alle wirklich Angst haben müssen, dann ist sie sicher einem Labor entsprungen.
Glaubwürdigkeitsprüfung
Wenden wir uns nach all den Spekulationen kurz einer Bewertung der Dokumente hinsichtlich ihrer vermutlichen „Echtheit“ zu. Denn nur, wenn wir darüber am Ende sicher sind, hat sich der Aufwand der Beschäftigung gelohnt.
Die Papiere tragen beide ausführliche Autorenangaben und benennen die Forschungsinstitute an denen die Arbeit ausgeführt wurde. Sie sind auf bekannten Seiten im weltweiten Netz veröffentlicht – und nicht nur im Darknet zugänglich. Die Experten, die ich zitiere, haben sich mit dem Stoff sorgfältig befasst.
Es handelt sich daher meines Erachtens um Dokumente, an deren Echtheit zu zweifeln ich erst einmal keinen Anlass habe.
Darüberhinaus zweifele ich nicht etwa deswegen die Echtheit nicht an, weil ich über ausreichend Sachkenntnis in Biotechnologie oder Virologie verfüge, um zu beurteilen, ob das, was darin steht, unanfechtbar ist.
Sondern aufgrund einer einfachen Verhältnismäßigkeitsüberlegung zweifle ich nicht an, was ich darin lese:
warum sollten sämtliche Dokumente, die „beweisen“, dass der Staat die virologische Situation im Griff hat, echt sein, während alle Autoren, die daran zweifeln und dafür sogar Nachweise anführen, angeblich mit gefälschten Nachweisen arbeiten?
Welcher paranoide Grafik-Designer, der für den Text-Teil einen Freund bemüht hat, der hochrangiger Mikrobiologe oder Gen-Ingenieur ist, sollte sich die Mühe machen, 75 Seiten Projektpapiere zu fälschen und zu welchem Zweck?
Solche Annahmen würden – ihrer Struktur nach selbst Verschwörungstheorie – meines Erachtens auf einer völligen Überschätzung der Leistungsfähigkeit verschwörungstheoretisch veranlagter Spinner basieren.
Nun gut, der rechtsradikale Killer Anders Behring Breivik, der im Juli 2011 in Norwegen einen Bombenanschlag vor einem Osloer Regierungsgebäude und einen Massenmord an linken Jugendlichen und ihren Betreuern auf der Insel Utøja verübte und sich laut deutschem Verfassungsschutzbericht 2016 dafür „nahezu isoliert selbst radikalisierte“, hat 1500 Seiten publiziert, die sich exakt lesen wir ein Papier, das man dem DARPA zur Förderung vorlegt. Auch diese lesen sich oft wie rassistische Pamphlete, wenn es zum Beispiel um das „schwule Gen“ oder ethnienspezifische Waffen geht.
Breiviks Manifest „2083 – A European Declaration of Independence“ ist auch kein wissenschaftlicher Projekt-Aufriss, sondern ein Pamphlet voll überbordender Meinungen von krankhaftem Charakter. Dennoch sind die angehängten „Beweise“ (wissenschaftliche Studien, die er anführt als Beleg dafür, warum Europa Islam-frei gemacht werden müsse) nicht an einer Stelle gefälscht, sondern schlicht und ergreifend vom Autor missbraucht worden. Echt ist dieses Manifest im doppelten Sinn: als Abbild einer kranken Phantasie (hierin den EcoHealth-Autoren recht ähnlich) und dadurch, dass Breivik seinen Vernichtungsfeldzug sofort nach der Veröffentlichung angetreten hat (so wie sich EcoHealth chinesische Partner gesucht haben, um loszulegen, auch wenn das DARPA zunächst nicht mitziehen mochte).
Ich benutze diesen vielleicht für manchen Leser unzulässig klingenden Vergleich zwischen Forscher und Terrorist, um den Grad der Kriminalität der Vorhaben zu zeigen.
Atmen wir aus – Puls runterbringen!
Nun gut, Anfang der nuller Jahre herrschte die Meinung, die in schneller Folge auf dem Markt kommenden, immer abenteuerlicheren DARPA-Projektpapiere über neuartige biotechnologische Waffen zur gezielten Ausschaltung bestimmter Ethnien oder Bevölkerungsgruppen dienten einzig und allein dazu, die gesamte intellektuelle Energie der kritischen Intelligenz zu binden: durch nervöse Lektüre.
Man beabsichtige in Wirklichkeit seitens des Pentagon in keiner Form, auch nur irgendetwas davon durchzuführen. Das DARPA sei mehr eine Propaganda- als eine Forschungseinrichtung. Ihre Papiere sollten Angst von den „globalen Bedrohungen“ schüren und dadurch jede beliebige Gegenmaßnahme akzeptabel erscheinen lassen.
Warum, wenn das alles nur wissenschaftliche Poesie ohne Nutzwert und Anwendungsfall ist, fährt dann im Herbst 2019 eine Gruppe Mitarbeiter des Pentagon-Biowaffen-Forschungszentrums Fort Detrick zu den „Military World Games“ nach Wuhan, genau zum Zeitpunkt der Schließung ihrer Einrichtung durch den Center for Disease Control and Prevention (CDC) und exakt im Monat der Beendigung des „project defuse“ und wenige Tage vor Event 201, der Pandemiesimulation?
Sind alle gesund zurück gekommen? War damals nicht von einem der Militär-Athleten die Rede als „Patient 0“?
Wie man es auch dreht und wendet, es bleibt Klärungsbedarf für die vorliegenden Widersprüche.
Störung der Harmonie
Interessant liest sich in diesem Zusammenhang die im englischen Wikipedia publizierte Diskussion um die Labor-Leck-Hypothese.
Ich fasse zusammen:
Laut Paul Thacker (der für das British Medical Journal schreibt) sagen einige Wissenschaftler und Reporter, dass „eine objektive Betrachtung des Ursprungs von COVID-19 schon früh in der Pandemie fehl lief, als Forscher, die für die Untersuchung von Viren mit Pandemiepotenzial finanziert wurden, eine Kampagne starteten, in der die Labor-Leck-Hypothese als ‚Verschwörungstheorie‘ bezeichnet wurde“
Im Februar 2020 wurde in The Lancet ein Brief veröffentlicht, der von einer Gruppe aus 27 Wissenschaftlern verfasst wurde – unter der Leitung von Peter Daszak (Forschungsleiter EcoHealth Alliance und Verfasser des Defuse-Papiers). Der Brief brandmarkt wiederum die Verfechter der Labor-Leck-Hypothese als Verschwörungstheoretiker.
Kurze Zeit später zeigte sich, dass Peter Daszak seine Verbindungen zum Wuhan Institute of Virology nicht offengelegt hatte. In der Folge veröffentlichte The Lancet daher einen Nachtrag, in dem Daszak seine Zusammenarbeit mit chinesischen Forschern im Detail auflistete.
Die norwegische Sozialwissenschaftlerin Filippa Lentzos schreibt, einige Wissenschaftler hätten aufgrund der Lancet-Veröffentlichung „die Reihen geschlossen“, da sie um ihre Karrieren und Stipendien fürchteten. Der Autor, Investor und US-Regierungsberater Jamie Metzl kritisierte den Brief als „wissenschaftliche Propaganda und Schlägerei“ und die investigative Journalistin Katherine Eban spricht von „abschreckender Wirkung“ auf die wissenschaftliche Forschung und die wissenschaftliche Gemeinschaft, da er impliziere, dass Wissenschaftler, die „die Labor-Leck-Hypothese zur Sprache bringen, … die Arbeit von Verschwörungstheoretikern verrichten“.
Faucis Antworten warfen weitere Fragen auf: unter anderem berichtete einer der Wissenschaftler gegenüber The Intercept, er wäre vom US-National-Health-Institute aufgefordert worden, die Herkunft von SARS-CoV2 aus einem Labor nicht zu erwähnen, da dies „die Verschwörungstheoretiker nur weiter anheizen würde“.
National Institute of Health-Direktor Francis Collins war damals sehr besorgt darum, dass die Diskussion um die Labor-Leck-Hypothesedie „internationale Harmonie“ beschädigen könne.
Man sieht, wie so ein Stoff, eine ernste existenzielle Frage, gouvernmental bearbeitet wird, bis er vom Tisch ist – oder uns alle überwältigt.
Letzteres legt Alina Chan nahe, eine am „Broad Institute of MIT and Harvard“ tätige Molekularbiologin und Mitautorin des demnächst erscheinenden Buches „Viral: Die Suche nach dem Ursprung von Covid-19, wenn sie sagt:
„Die Schwelle ist überschritten“
Auch Martin Wikelski, Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie in Konstanz und Radolfzell, dessen Arbeit zu Fledermäusen und anderen Tieren ohne sein Wissen in dem Defuse-Antrag erwähnt wurde, sagt nun ebenfalls, dass er seit der Lektüre des Papiers offener für die Idee sei, dass die Pandemie ihre Wurzeln in einem Labor haben könnte. „Die Informationen in dem Antrag haben meine Meinung über einen möglichen Ursprung von SARS-CoV-2 sicherlich geändert“, sagte Wikelski gegenüber The Intercept. „In der Tat ist eine mögliche Übertragungskette jetzt logisch konsistent – was sie nicht war, bevor ich den Vorschlag las.“
Konformitätsprüfung
Wenn wir nun davon ausgehen, dass die Papiere echt sind, in dem Sinne, dass die Autoren, die im Kopf des Papieres erwähnt sind, für die dort angegebenen Institutionen arbeiten und diesen Text geschrieben haben, können wir dennoch ins Zweifeln kommen, weil wir nach zwei Jahren medialem Dauerfeuer schon hören, wie „Correktiv“ und all die anderen Faktenchecker dies bewerten würden.
Sie würden sagen: Na klar sind die Papiere echt, aber das ist ja gerade das Gefährliche daran, denn es steht nur Unsinn drin.
Guckt mal genau hin, würden die Faktenchecker sagen, das Project Defuse ist ja gar gar nicht durchgeführt worden, zumindest fehlt eine belastbare Quelle, denn es ist ja nur ein Projekt-Vorschlag von EcoHealth.
Und das andere Papier über den synthetischen Ursprung des Virus, so würden es die Faktenchecker sehen, ist nur teilweise richtig, denn es behauptet bestimmte Dinge ganz anders, als die von uns, den Faktencheckern, bevorzugten staatlich abgesegneten Quellen, die eine Zoonose als gesichert annehmen.
So wird ja heutzutage „belegt“, was richtig ist: durch massives Verbreiten von Gegenstimmen – und durch gut bezahlte Konformitätsprüfung.
Tja, ist das nun eine Meinung oder ein Beweis, was die Faktenchecker anführen?
Warum ist es überhaupt wichtig, sich darüber klar zu werden?
Weil wir nur dann verstehen, welche Ungeheuerlichkeit sich auf gesellschaftlicher Ebene mit den Chimären verbindet: sie vernichten nicht nur Millionen Infizierter. Sie zerstören auch Wahrheit, Solidarität, Vertrauen und den gesunden Menschenverstand. Sie unterminieren das Fundament der Zivilisation.
Und das ist uns egal?
Möchten wir die Zoonose und die Sache mit Pangolin und Fledermaus vielleicht nur deswegen gern glauben, weil wir etwas anderes nicht wahrhaben wollen – weil es gar zu erschreckend ist?
Oder anders gesagt: wenn wir zwei wissenschaftliche Meinungen gegeneinander stehen sehen und nicht über genügend eigenen Sachverstand verfügen, eine Plausibilitätseinschätzung vorzunehmen, können wir trotzdem fragen: warum sollte es wahrscheinlich sein, dass ein exotisches Tierchen vom Wildtiermarkt aus Wuhan Millarden Menschen infiziert, wenn direkt neben dem Wildtiermarkt die zentrale Einrichtung Chinas für Virologie steht und drum herum angelagert rundum einige Dutzend kleinere Labore, in die internationale Risikokapitalanleger hunderte Millionen investieren, um unter den bekannten, halbwegs katastrophalen Sicherheitsvorkehrungen eine Art gentechnisches Roulette zu spielen?
Wissen, was wirklich los ist, werden wir erst, wenn die Chimären längst den Laden übernommen haben.
Heute ist der passende Tag für dieses Zitat aus meinem Roman „Unterdeutschland“ (erschienen Januar 2020):
„Am Morgen des 25. Oktober 2022 erreichte uns die Nachricht vom Tod der Autorengruppe BBM/VD. Inmitten von elektronischen Bauteilen, abisolierten Kabeln, Lötkolben, Inkrementalgebern, EPH-Reglern, Planet-Getrieben, frisch abgefüllten Sprühflaschen, Petrischälchen mit unbekannten Substanzen, Batterien, Laptops und Funkgeräten wurde die Gruppe, die allen derzeitigen Erkenntnissen nach bereits am Abend zuvor verstarb, vom Facility Manager des Blocks, in dem sie ihre letzte Zuflucht genommen hatte, aufgefunden.
Zunächst sah es nach einem Massenselbstmord aus. Der einzige Zeuge: leider stockbesoffen. Nur er hat den Tatort gesehen, bevor ihn die Kriminaltechnik unter strenger Aufsicht des VS gründlich für die Nachwelt bearbeitet hat.“
Wer wissen will, wie es weitergeht:
Ich lese am Montag, 31. Oktober 2022, 19 Uhr in der Schankwirtschaft Laidak Boddinstr. 42/43, 12053 Berlin-Neukölln aus meinen Büchern: Unterdeutschland und Demonen. Danach Palaver & Bier.
Um mit einem Werkzeug von hinreichender Schärfe die Weltlage zu sezieren, weitet er einen bestehenden Begriff auf: Nationalsozialismus. Nationalsozialismus ist die Selbstbezeichnung einer Partei, die damit ihren zutiefst rassistischen, faschistischen, rechtsradikalen Charakter verstecken, ihn als „sozialistisch“ tarnen wollte.
Vergleiche haben es meist schwer. Man behauptet, sie hinken. Insbesondere, wenn die Art der Vergleiche einem nicht ins Weltbild passt. Mit einer Fortbewegungseinschränkung aber kommt man in der Regel nur sehr langsam, mit Mühsal zum Ziel. Der Hinweis auf den hinkenden Vergleich will sagen: „Gib auf! Wir wollen das nicht hören.“
Worte, Sprache, Benennung sind ein äußerst wirksame Mittel der Herrschaft. Wer die Definitionsmacht besitzt, regiert.
Wie aber könnte jemand forsch, im flotten Schritt auf das Neue, noch Unbekannte, das uns derzeit widerfährt, zugehen, wie dessen außerordentliche Dimension klar machen – ohne jeden Vergleich? Woher hätte er Begriffe, ein ganzes neues Vokabular nehmen sollen, um zu beschreiben, was jüngst mit unserer Gesellschaft passiert?
Wackernagel beruft sich deswegen auf eine Terminologie, die er über mehr als vier Jahrzehnte, eine Lebenszeit entwickelt hat. Nichts liegt ihm ferner, als das, was er den „Führerfaschismus“ nennt, durch einen Vergleich mit der Gegenwart zu verharmlosen. Doch er verschweigt auch nicht, dass er die „Unsichtbarkeit des neuen Faschismus“, dessen weltweite Ausdehnung unter der „Diktatur des Profits“ für genauso bedrohlich, wenn nicht für „noch monströser“ hält (Brief an die Herausgeber).
Die Neologismen, mit denen uns die Regierungen seit zwei Jahren versorgen, taugen zu wenig mehr als zur Bemäntelung. Ihren wahren Kern verhüllen sie. Deswegen greift Wackernagel sie an: als Irreführung. Er versteht die von den Regierungen verkündeten Maßnahmen ganz im Stil des zuvor erwähnten Begriffs Nationalsozialismus, den er mit einem vorgeschalteten „Inter-„ zu einem globalen Phänomen erklärt.
Aufklärung, die den Namen verdient, funktioniert nicht mit Propagandamitteln, die ihr eigentliches Ziel, die Herstellung von Zustimmung, die Erzeugung von Fügsamkeit, offen erkennen lassen.
Aufklärung will Widerspruch erzeugen, will zum Abwägen und Überlegen einladen, zu einer menschlichen Entscheidung führen, nicht zu einer wirtschaftlichen. Man kann, man muss streiten, ob „Diktatur des Profits“ eine Übertreibung ist, ob nicht „Diktat“ gereicht hätte. Genau in diesem Sinn ist der Text von Wackernagel, der sich auf den ersten Blick als pure Provokation gibt, Aufklärung im besten Sinn: als kraftvolle, mit der notwendigen Portion Zorn verfasste und Widerspruch auslösende Anregung zur Auseinandersetzung.
Für Wackernagel ist – schon aus biografischen Gründen, als „Mitglied“ der RAF – das Jahr 1977 mit der Verfolgung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer das Jahr der Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Corps-Student, SS-Mann und „Wirtschaftsführer“ (Wackernagel) der Nachkriegsrepublik Schleyer war das Symbol der moralisch diskreditierten Elterngeneration, die ihre Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen leugnete. Erst nach dem historischen Einschnitt 1977 wurden allmählich Begriffe wie Volk, Nation und Identität wieder salonfähig. Diese Termini hatten, wie Wackernagel in „Und Ödipus tötete Kain“, einem Text über das „Gründungsverbrechen der Bundesrepublik Deutschland“ 1998 schrieb, „in der Schmuddelecke des Rechtsextremismus überwintert.“ Er konzediert, in verblüffender Parallelität zur Gegenwart: Einordnungen wie »links« und »rechts« seien „auf den Müllhaufen der Geschichte gelandet“ und „ein gesellschaftliches Klima von Angst, Denunziation und Distanzierung“ entstanden. Die Überwindung der Nazizeit war gründlich schief gegangen: nun gab es, spätestens seit 1989, „anstatt Weltbürgertum Deutschtum, anstatt Befreiung Regression, anstatt Bewusstsein Bewusstlosigkeit.“
Aus dieser Sicht der Dinge heraus erklärt sich Wackernagels im August 2022 verfasstes Pamphlet.
Der AKTION-Autor, Sozial- und Politikwissenschaftler Rudolph Bauer versteht es als „überzeugenden Versuch“, „aufzuzeigen, dass es sich beim inter-nationalsozialistischen Biofaschismus um eine veränderte Form des klassischen Führerfaschismus handelt – um einen Krypto-Faschismus, der seinen wahren Kern tarnt, indem er sich gegen den überlieferten und verkommenen Retrofaschismus positioniert und dabei den Eindruck erweckt, demokratisch und antifaschistisch zu sein. Indem er sich – wie schon Umberto Eco mahnend prophezeite – internationalistisch, multikulturell, ökologisch, individualistisch, hygienisch und divers verkleidet, ist der wahre Kern des Biofaschismus für die meisten Menschen nur schwer erkenn- und durchschaubar.“
Was genau ist das Problem mit dem selbständigen Denken? Warum erkennen und durchschauen wir an sich klar erkennbare Zusammenhänge plötzlich nur noch mit so großer Mühe? Was hat uns derart gelähmt, dass wir auf Zuspitzung, die wir früher diskursanregend fanden, heute so empfindlich, derart gereizt, vorbeugend abwehrend und grundsätzlich intolerant reagieren?
Das von Wackernagel benutzte Stilmittel der Hyperbel dient selbstredend nicht als Instrument der Analyse von sattsam bekannten Zuständen, sondern der Katalyse des kritischen Denkens, das durch die konzertierte Indoktrination über zwei Jahre, vom verbalen Bombardement mit Denkverboten und schwer auflösbaren Widersprüchen, arg angeschossen ist.
Wackernagel hilft uns, vom „Müllhaufen der Geschichte“ wieder herunterzuklettern und die Schäden zu kartieren – mit einem einzigem Ziel: sie zu beheben.
Seit einigen Wochen kleben an den Zufahrten zu deutschen Supermärkten Billboards des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, die uns anraten, gezielt zu preppern. Nach dem Rat, mit dem Waschlappen zu arbeiten, statt zu duschen oder die Heizung herunterzudrehen, damit der Krieg in der Ukraine nicht diplomatisch beendet werden muss, nun noch ein neuer Tipp?
Durch das „Notfallthema Bevorratung“ soll das deutsche Volk begreifen, dass die Lage ernst ist – und dass es „das richtige Handeln in der Notsituation“ sei, sich selbst zu helfen.
Will der Staat uns im Stich lassen? Oder befinden wir uns bereits in Phase 2 der konzertierten Einschüchterung? Erst alle krank. Jetzt nichts mehr zu fressen? Mehr kann man kaum auf die Tube drücken.
Will die Regierung uns weiß machen, wir seien gründlich ruiniert? Damit wir endgültig die Klappe halten?
Mit Teil 3 der Aasgeier-Reihe folgt auf die „Vergeudung“ ein Lehrstück über das anti-emanzipatorische Projekt der grünroten Politik.
Sicherheitsrisiko
Im September 2022 mussten wir – neben Tonnen anderer Dinge aus drei Jahrzehnten – die Projekt-Bibliothek im Atelier unserer Künstlergruppe einpacken, weil die Stadt Hannover mit ihrer Räumungsklage vom Landgericht bestätigt wurde und wir folglich Insolvenz anzumelden hatten. Die Lage war alternativlos.
Wir zahlten unsere Miete an die Stadt über 23 Jahre stets pünktlich. Doch laut Kündigung stellten wir nach all der Zeit ein „Sicherheitsrisiko“ dar. Welches genau, wurde uns nie mitgeteilt.
Der Stil der Kommunikation, eine Mischung aus bewusster Täuschung und juristischer Rigorosität, sollte uns den Ernst der Lage bewusst machen, ohne dass die Beteiligten sich trauen mussten, uns die Wahrheit offen ins Gesicht zu sagen. Am Widerspruch zwischen den beiden Verhaltensmodi sollten wir erkennen, dass unsere einzige Chance sei aufzugeben.
Die Wahrheit war: es gab keinen Kündigungsgrund. Es war die Strafe für ein Versäumnis, das wir nicht verschuldet hatten. Die Stadt war in einem Verwaltungskonflikt mit dem Land unter Druck geraten und gab ihn ans schwächste Glied der Kette weiter: an uns Mieter.
Die Beamten hatten von der Bundesregierung gelernt: mit dem Sicherheitsrisiko als Totschlagargument bewaffnet, würde man ohne Widerspruch durchkommen.
Dabei war der grüne Bürgermeister Belit Onay erst 2019 mit dem Wahlkampfversprechen angetreten, die prekäre freie Musik- und Kunstszene Hannovers, insbesondere die kleinkulturellen Nachbarschaften des ehemaligen Arbeiterviertels Linden zu retten – ein Konzept, mit dem sich die Stadt um die Ausrichtung der Kulturhauptstadt beworben hatte, siehe „Meine Ziele“ , Stichpunkt: „Kultur hält eine Stadt zusammen“.
Nun vernichtete er nonchalant eine grosse Charge genau jener fragilen Partie von Existenzen, die er vor seinem Wahlsieg zu stützen gelobt hatte.
Nach dem Sieg war das sich-Kümmern um die Schwachen nicht mehr opportun. Er saß nun fest im Sattel und konnte frei durchregieren. Wie seit kurzem üblich bei den Grünen: ohne Rücksicht auf die Wähler.
Wir waren nach dem Scheitern der imageträchtigen Bewerbung der Stadt noch überflüssiger als ein Kropf. Lästige Zecken im Pelz, taugten wir allein dazu, abserviert zu werden.
Mit der Kündigung unseres fraglos riesigen Ateliers haben dreissig Musiker und Künstler aus Linden ihren Arbeitsplatz verloren. Wir selbst haben unsere Existenzgrundlage eingebüsst. Wenn ich unser Ende so lakonisch berichte, will ich kein Mitleid erheischen. Mich interessieren die Bedingungen für strukturelle Gewalt. Am eigenen Leib konnte ich sie wie im Labor beobachten.
Corona reichte Onay nicht. Er musste uns noch gründlicher ruinieren. Noch nachhaltiger:
In seiner Antwort auf unseren Bittbrief sprach er die Empfehlung an seine Amtskollegen aus, mit unerbittlicher Härte gegen uns durchzugreifen.
Solche erbarmungslosen Empfehlungen versendet ein farbenwendischer Grüner, der zuvor Mitglied der SPD und des CDU-Jugendbundes RCDS war und dessen vorgeblich höchstes Ziel es ist, „eine Stadt (zu schaffen), die zusammenhält und denen unter die Arme greift, die in Not geraten sind.“
Zeitgleich mit unserer Kündigung wurde von der Stadt Hannover, ebenfalls bereits unter Onays Ägide, ein Modellprojekt zur Unterbringung obdachloser Menschen trotz des bevorstehenden Winters und der COVID-19-Pandemie beendet.
Man versteht sofort, was so ein Politiker mit „Hilfe für in Not geratene Menschen“ meint. Von Gewissen keine Spur: eine unabdingbare Kondition, um als Politiker „handlungsfähig“ zu bleiben.
Der eigentliche Zweck der Übung
Beim Aufräumen der Bibliothek im gekündigten Atelier fand ich ein lange vergessenes Buch von Herbert Gruhl. Und in einer unscheinbaren Kiste im untersten Fach ein paar leicht angerostete Rollschuhe zum Unterschnallen.
Am 25. November 1973, ich war gerade zwölf Jahre alt geworden, ging ich das erste Mal auf der Autobahn spazieren. Ein guter Geist von Anarchie umwehte mich. Etwas Illegaleres, Subversiveres als dort zu laufen, wo sonst nur Autos fahren durften, war mir Knirps kaum vorstellbar. Und doch war der Marsch auf dem Asphalt von der Bundesregierung angeordnet: es war der erste autofreie Sonntag, eine Reaktion auf die mißverständlich „Ölkrise“ genannte Ölpreiskrise.
Stolz, aber noch ein wenig ungelenk schurrte ich auf den vier klobigen, paarig stehenden Rädern meiner nagelneuen Rollschuhe Richtung Kiesteiche und schaute von auf der Brücke zu den im Wasser stehenden Pfeilern hinunter, in deren Schatten ich im Sommer Flusskrebse fing.
Mein Blick von der Brücke und zurück auf die leere Piste, über die nur ein paar Nachbarn pilgerten, klärte mich schlagartig über das Ende einer Ära auf, über deren innere Antriebskräfte ich mir bis dahin keine Gedanken gemacht hatte.
Dass die Ölknappheit das Ergebnis von politischen (damals auch: kriegsbedingten) Entscheidungen war (Jom Kippur Krieg), begriff ich erst zwei Jahre später, als bei uns zu Haus Herbert Gruhls „Ein Planet wird geplündert“ auf dem Tisch lag.
Schmidt münzte seine eigene politische Entscheidung zu einer ernsten Situation für Millionen Menschen um. Ob „das deutsche Volk“ begriffen hatte, wer wirklich der Verursacher der Preissteigerung war, bleibt fraglich. Aber die Debatte um das Ende der Ressourcen war eröffnet. Der europäische Industriekapitalismus hing an einer dünnen Ader – vom Durchmesser eine Ölpipeline.
Die Plünderung
Mein Vater hatte das Buch wahrlich nicht aus Sympathie für Gruhl erworben, der damals noch für die CDU im Bundestag sass – auch wenn bei der Kaufentscheidung sicher eine Rolle spielte, dass Gruhl damals in Barsinghausen am Deister lebte, wo der mütterliche Zweig meiner väterlichen Familie herstammte.
Mein Vater liegäugelte mit den Ideen der kommunistischen Partei, die damals schon DKP hieß. Insbesondere zog ihn deren Widerstand gegen die Wiedereinführung der Bundeswehr an. Aber er war Beamter und die Staatsräson, hauptsächlich repräsentiert durch das hauswirtschaftliche Regiment meiner Mutter, hielten seine linksextremen Vorlieben im Schach. Diese Geschichte habe ich ausführlich in „Kaisergabel“ erzählt, so dass ich sie hier kurz halten kann: ganz auf ihren umweltschützerischen Aspekt hin getrimmt.
Es wurde in meiner Familie niemals ein Hehl daraus gemacht, dass Gruhl wertkonservativ war, zwar kein „strammer Rechter“, aber wahrscheinlich doch ein Antikommunist.
Aber was heisst schon wertkonservativ? Wer könnte denn Umwelt schützen und zugleich den Wert der Natur relativ sehen, als ein billiges Gut für hemmungslosen Extraktivismus?
Gruhls Einsichten in die Notwendigkeit einer „planetarischen Wende“ waren für einen führerscheinlosen Radfahrer, Subsistenzgärtner mit Kochkiste und 250 Einweckgläsern wie meinen Vater ein vollständig einleuchtender Gedanke.
Zudem war Gruhl sicher unter den Ersten in der Politik, die Wirtschaft von ihren Grenzen her zu denken wagten. Die nicht fragten: was wollen wir erreichen? Sondern: was dürfen wir noch hoffen zu können, damit alle noch etwas abkriegen? Das war meinem Vater äußerst sympathisch. Denn gegen die korrupten, bereicherungsgeilen Wirtschaftskapitäne der Wiederaufbauzeit führte mein Vater stets den Geist des Gemeinwohls an. Obwohl ihm mehr als klar war, dass er persönlich dabei schlechter abschnitt.
Doch seine Überzeugung war: es ginge nicht um ihn, sondern um das Auskommen aller.
Zweifel über den Erfolg solcher Ansichten schwangen immer mit, wenn er wütend darauf zu sprechen kam, was „in der Wirtschaft“, mit der er täglichen beruflichen Kontakt pflegte, wirklich los war. Die Firmen, mit denen er von Amts wegen gezwungen war zu arbeiten, weil sie eine Ausschreibung gewonnen hatten, verklappten nach Feierabend fröhlich Giftmüll in ihren Kiesgruben und strichen am Ende des Tages Mutterboden über die Fläche, die sie wenig später jungen Familien als Bauland anboten.
Solche „Ungezogenheiten“ brachten ihn derart in Rage, dass ihm die Säure aufstieg.
Wenn einmal jemand bei dem frevelhaften Treiben erwischt wurde, ging der Lastwagenfahrer in den Knast, nicht der Unternehmer. Das hatte man vorher finanziell geregelt. Und die Politik stimmte zu, indem sie die Strafen mäßig hielt.
Seit Anschaffung des Gruhl-Textes, der meinen Vater in seinem gerechten Zorn tausendfach bestätigte, frühstückte er Magentabletten.
Denn Georg Picht, den das Geleitwort zitiert, hatte sich schwer getäuscht, als er schrieb: „Politik kann heute nur noch als die Kunst verstanden werden, die Existenz der Menschen in einer gefährdeten Welt zu sichern.“
Der eigentliche Zweck der Übung war es, Asche zu machen und auf die Natur zu kacken.
Schreckensbilanz
Mit effektvoller Brachialität hatte der Gestalter Gunter Rambow das Buchcover von Gruhls Plünderungs-Text auf unser aller Ende hin collagiert. Aus dem rot bemalten Schnitt troff das Blut des siechen Planeten. Flächendeckend in seine Oberfläche gepflanzte Atomreaktoren, diese Leuchtürme des menschlichen Fortschritts, ließen alle Wälder verdorren. Die Botschaft war klar: Das Spiel ist aus. Und: die Schuldigen sind bekannt.
„Der Wettlauf der Systeme ist ein Wettlauf zum Abgrund. Es ist ein blindwütiger Krieg gegen die Erde und die natürliche Umwelt.“ Rambow hat diesen Satz auf den Umschlag gepackt – zwischen zwei Baumleichen. Man verstand sofort: Unsere Wirtschaft und der Kalte Krieg gegen Russland haben uns gründlich ruiniert.
Das ist wie gesagt fünfzig Jahre her. Gruhl hatte in seiner „Schreckensbilanz unserer Politik“ 1975 das Jahr 2020 für den Untergang festgelegt (S. 220): dann wäre dank der „Wachstumsfanatiker“, die seit dem zweiten Weltkrieg herrschten, die ganze Welt endlich dort angekommen, „wo Hitler 1945 endete.“
Was passierte noch gleich Anfang 2020?
Fast drei Jahre hat Gruhl für sein opus magnum geforscht, an ihm ohne Unterlass weiter geschrieben und dabei eine geradezu erdrückende Beweislast zusammengetragen.
Er betrachtete die ökologische Weltlage aus der Perspektive eines Politikers, der sich in einer schizophrenen Situation befindet.
„Von neun bis fünf kämpft er für Wachstum, Ausbreitung, Rationalisierung, Einsparung von Arbeitskräften und vieles andere mehr. Alles mit dem Zweck und in der Erwartung, damit Wohlstand, Behagen und Glück zu fördern. Nach Feierabend jedoch wird er mit dringenden Prophezeiungen bestürmt, die ihn vor dem Zusammenbruch der Zivilisation, vor Umweltkatastrophen, Erschöpfung der Bodenschätze und ähnlichen Gefahren warnen. Von neun bis fünf verfolgt er jede nur denkbare Methode, um den Gang der Entwicklung zu beschleunigen, während er abends kaum vermeiden kann, … einer allgemeinen Verlangsamung zu begegnen.“(E.F. Schuhmacher, 1972 zit. n. Gruhl)
Gruhl spricht aus der Sicht eines Politikers, der nicht nur persönlich mit der Widersprüchlichkeit seines Handelns konfrontiert ist, sondern einem Bürger gegenübersteht, der angesichts der erschlagenden Beweise für die Unausweichlichkeit des Untergangs der Welt wie wir sie bisher kannten schon aus Selbstschutzgründen abschaltet, anzweifelt, verweigert, insbesondere weil jedes erfolgreiche Tätigwerden gegen solche Übermacht aussichtslos scheint.
Gruhl macht klar, dass es ganz und gar nicht aussichtslos ist, weil der Feind nicht eine übermächtige Natur ist und ihr Schaden von Menschenhand gemacht – mithin politisch „reparabel“ sein müsste.
Seine simple Botschaft lautet: Wir waren es selber und wir können es ändern.
Wenn wir nur wollen.
Aber wir erkennen nun 50 Jahre später: wir wollten nicht.
Anspritzbegrünung
Trotz der bis hierhin schon erschlagenden Deutlichkeit der Parallelen zur gegenwärtigen Situation möchte ich noch ein paar Worte zu Gruhls politischer Karriere und vor allem zu seiner Ächtung sagen.
Der erfolgreiche CDU-Politiker gründete am 20. Juli 1975 zusammen mit 21 Umweltschützern den BUND „Bund Natur und Umweltschutz Deutschland e. V.“
Unter den Mitgründern befanden sich so illustre Namen wie Horst Stern, Bernhard Grzimek oder Georg Enoch Robert Prosper Philipp Franz Karl Theodor Maria Heinrich Johannes Luitpold Hartmann Gundeloh Buhl-Freiherr von und zu Guttenberg: mehrheitlich sicher keine Linken.
So trug Grzimek als Referent im Reichsnährstand die NSDAP-Mitgliedsnummer 5.919.786 und wirkte als Veterinär in der Wehrmacht, geriet aber dennoch mit der Gestapo in Konflikt, weil er versteckte Juden mit Lebensmitteln versorgt hatte. So voller Widersprüche war „unsere“ Geschichte. Im übrigen hat sich die Linke noch nie im Naturschutz hervorgetan.
Gruhl jedenfalls war Vorsitzender des BUND bis 1977. Er blieb fraglos konservativ, wohin sein Engagement für die Umwelt ihn auch verschlug in den folgenden Jahren.
1978 trat er wegen unauflösbarer Differenzen in Fragen der Umweltpolitik aus der CDU aus und gründete tags drauf mit der Grüne Aktion Zukunft (GAZ), die erste Ökopartei Deutschlands. 1980 war die GAZ Mitgründerin der Grünen. Mit Gruhl und der international renommierten Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Petra Kelly als Spitzenkandidaten erreichten die Grünen 1979 mit immerhin 3,2% einen sogenannten „Achtungserfolg“ in der Europawahl.
Auch Ex-Maoisten wie Ralf Fücks, spiritus rector des staatsalimentierten Think Tanks Zentrum Liberale Moderne, begrünten die junge Parteilandschaft. Man versteht unmittelbar, die holzschnitthafte links/rechts Aufteilung taugte schon länger nicht mehr.
Von den Grünen wurden nicht nur „Schwerter zu Pflugscharen“ umgeschmiedet. Sie verwandelten zwar Generalmajore in Friedensaktivisten , aber auch autonome Strassenkämpfer in Freunde des Investmentbanking und kehrten bei Anthroposophen das autoritäre Führerprinzip hervor. Die meisten von ihnen haben begleitend zum Gesinnungswandel puffig dicke Gesichter bekommen.
Das alles hat weniger mit der Farbe Grün zu tun, als allgemein mit dem Beruf des Politikers. Chancen, die sich bieten, ergreift man gern, die Diäten sind einkömmlich und Überzeugungen können sich ändern, wenn man in der Verantwortung steht.
Für die Grünen entwickelte Gruhl den – wie wir heute wissen – goldrichtigen Slogan „Weder links, noch rechts, sondern vorn“. Ebenso goldrichtig befand Gruhl bereits 1980 und unter Zitierung von Erich Fromm, der jüngste Kurs der Grünen sei „bestimmt […] vom Modus des Habens“.
Damals ahnten erst wenige, welch adipöse Formen dies annehmen sollte.
In ihrer „Karawane der Blinden“ wollten die Grünen keinen wertkonservativen Einäugigen mitführen. So blieb Gruhl nichts anderes übrig, als 1981 – immerhin zusammen mit einem Drittel der Mitglieder – aus einer Partei auszutreten, die er als schwarzen Felsen mit Anspritzbegrünung empfand.
Die Liaison mit den Grünen war schnell beendet, das Ergebnis einer ersten Säuberung durch den „linken Flügel“. Doch sie war nicht ganz erfolgreich: Als die Grünen 1983 in den Bundestag einzogen, wäre normalerweise der Parteigenosse Werner Vogel Alterpräsident geworden. Der trat jedoch sein Mandat wegen Pädophilievorwürfen und – nicht zuletzt – wegen seiner früheren Mitgliedschaften in NSDAP und SA nicht an.
Rechtsoffen?
Die Ur-Grünen: ein „rechtsoffener“ Sumpf, bevölkert von den „Querdenkern“ der 80er. Die heutige Hetzjagd: ein Fall von Selbsthass?
Es würde uns nicht verwundern, wenn die grüne Schlachtministerin, im Rahmen ihrer radebrechenden Reden Ernst Jünger zitierte. Sie nimmt offenbar keinen Anstoß daran, dass sie mit solchem Rachewunsch, wenn er denn wahr würde, Leben und Landschaft vieler Millionen Russen verwüstet – alles nur, um die Lobbyarbeit ihres Ehegatten in der Ukraine zu befördern?
Denn feministische Außenpolitik bedeute letztlich, alle Menschen auf dem Schirm zu haben – egal ob Kinder, ältere Menschen oder auch Frauen, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind. Womit sie letztlich klar stellt, dass sie Russen nicht für (schützenswerte) Menschen hält.
Der Waschlappen
Solch bodenlose Perfidie lässt Winfried Kretschmanns legendären Waschlappen geradezu als sarrazinschesGurkenwitzchen erscheinen.
Wenn schon bei Schmidt Energieersparnis nicht der Zweck der Übung war, was will uns dann der Rat mit dem Waschlappen sagen? Dass nichts dumm genug ist, wenn es um Phase 2 der Einübung bedingsloser Unterwerfung geht?
Wie abartig auch immer die kreuzblöden Vorschläge dieser Leute sind, die in ihrer Besserverdienenden-Blase jeden Bodenkontakt verloren haben – ich schulde noch einen letzten Kommentar zu Gruhl: den über seine Ächtung.
Doch der Zorn über die grüne Impertinenz hat mich beim Schreiben übermannt. Ich bitte es mir nachzusehen. Eigentlich interessiert mich Politik nur hinsichtlich der Ergebnisse, nicht hinsichtlich einzelner Personen.
Gruhls Ächtung begann mit dem Erfolg seines Buches. Seine Kandidatur hatte nicht unwesentlich zum Ergebnis der CDU in der Bundestagswahl 1976 beigetragen (CDU/CSU 48,9 %), indem er in geradezu historischer Dimension überdurchschnittlich viele Stimmen in seinem niedersächsischen Wahlkreis hinzugewinnen konnte. Dennoch entzog die Partei ihm die Aufgaben des Sprechers für Umweltfragen in Fraktion und Partei. Einen Kritiker der Kernenergie konnte die CDU als Partei der Wirtschaft in ihren Reihen nicht dulden. Gruhl trat aus der CDU aus, begründete dies aber nicht mit seiner Entflichtung, sondern unter anderem damit, dass die CDU eine „Ehrenerklärung“ für Filbingers Aktivitäten während des Faschismus abgegeben hatte und sich für die Entwicklung einer Neutronenwaffe einsetzte. Auch war Gruhl kein großer Freund der strafbaren Spendenaktivitäten von Helmut Kohl.
Aber bei den Grünen erging es ihm kaum besser. Die folgende Hetzjagd auf ihn kristallisiert in den Folgejahren an dem Konflikt um den Grundsatzbeschluß zur Abgrenzung seiner neuen Partei ödp von den Rechtsparteien (damals NPD, DVU und Republikaner). Gruhl befürchtete eine Zersplitterung der Naturschutzbewegung. Der Zusamenhalt unter der Idee der Rettung war für ihn – in dem einzig wesentlichen planetarischen Maßstab gedacht – zu existenziell, um sich ständig mit der „Suche von Differenzpunkten unter uns“ zu befassen. Denn während der gesamten Zeit solchen Geplänkels lief nach Gruhls Verständnis die Uhr ab und der Planet wurde von der Politik weiter geplündert.
Gruhl driftete am Ende seiner Karriere immer weiter in merkwürdige Richtungen ab, wurde Eurogegner, weil er das „künstliche Einheitsgeld“ für eine Währungs-Attrappe hielt, aber die ökologischen Tatsachen, die er benannt hatte, waren fürderhin „nicht mehr völlig aus dem politischen Gesichtsfeld zu schielen.„
Bei allem, was man Gruhl an falscher Gesinnung andichten oder nachsagen kann – und das wird nicht viel sein, wenn er gegen Filbinger und Kohl eingestellt war – so muss man ihm doch wissenschaftlich genaues Arbeiten attestieren beim Versuch, uns allen klar zu machen, wo wir ökologisch stehen. Dabei befand er sich fraglos am anderen Ende der Skala, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass die gegenwärtigen Kühlerfiguren der deutschen Ökologiebewegung Studienabbrecher sind oder sich mal zur Promotion angemeldet haben wollen, sich dann aber doch lieber für ein Leben als Politikerin entschieden haben.
„Dick und Doof“ waren früher einmal zwei Personen. Heute sind es Hunderte.
Sicher hielte bis heute jedes Faktum seines Hauptwerkes dem Faktencheck statt. An Einsichten wie der, dass Kernenergie auch bei friedlicher Nutzung „für jede Art von Leben vernichtend“ sei, ist ebensowenig auszusetzen, wie jener, dass den Menschen gerade von ihren „Erfolgen“ die größte Gefahr drohe: „Der totale Sieg endet in der totalen Selbstvernichtung.“ (S. 218).
Selbst wer nun Gruhl eine gewisse goebbelsche Freude am Begriff des Totalen unterstellt, kann kaum bestreiten, dass der Gedanke schlüssig ist, denn im „Totalen“ ist schon wortgeschichtlich die Ruinierung inbegriffen.
Doch die Grünen in ihrem seit 40 Jahre immer feister anschwellenden Habens-Modus studieren die Schriften ihrer eigenen Gründungsväter nicht – und das, obwohl sie das Umweltminsterium inzwischen mit einem ausgeschlafenen „Philosophen“ und „Schriftsteller“ besetzt haben.
Ich kann mir nicht verkneifen zu bemerken, dass das Wiener Schnitzel in der „Kantine der Republik“, Borchardt Berlin, wirklich exzellent ist und wir an der täglichen Entwicklung des Speckhalses sehen können, wie sich unser oberster Klimaschützer auf den kalten Winter vorbereitet.
Wir werden wieder einmal – wie schon 1973 – wegen einer politisch gewollten („kriegsbedingten“) Energiepreiskrise zum Sparen angehalten, während Das Land in ihm das Kalbfleisch ausschwitzt, das unser Klima gründlich runiert.
Statt zu hamstern, sollten wir, mit einem kalten Waschlappen bewaffnet, hingehen und ihm einen besseren Weg in den Sommer weisen.
Die Flußkrebse
Im frühen September 2022 haben wir unsere Zelte, selbst die allerletzten Zeltstangen, in der Heimat der Flusskrebse abgebrochen, die in meinen ersten zwölf Jahren den Ablauf der Jahreszeiten bestimmten.
Ich habe sie unter der Stadtring-Brücke, auf der ich meinen ersten autofreien Sonntag verbrachte, gefangen, in einem Terrarium beobachtet und gefüttert und am Ende des Jahres – gesund und fett – wieder freigelassen, wenn der winterliche Frost drohte, mein improvisiertes Biosphärenreservat im Garten zu vernichten.
Da ich in Taxonomie damals vollständig unbewandert war, nehme ich nach heutiger Recherche an, dass es sich entweder um Edelkrebse oder um Steinkrebse gehandelt haben muss, eine besonders empfindliche Art, die stark unter organischer Belastung und kommunalen Abwässern leidet und heftig auf chemische Verschmutzung reagiert, besonders auf Insektizide und andere Schwemmstoffe, wenn angrenzende landwirtschaftlich genutzte Flächen diese ins Wasser spülen. Die europäischen Krebse sind also eine Art Umweltspäher, die gesundheitsschädigende Einträge melden: leider durch ihrem Tod.
Auf der letzten Rückfahrt haben wir kurz unter der Brücke gestoppt. Um Abschied zu nehmen.
Dort, wo früher Seerosen, Froschbissgewächse (die sogenannte Kanadische Wasserpest und das bestachelte Nixenkraut), die niederliegend wuchernde, kriechend sich ausbreitende Sumpfquendel, eine unterseeische Verwandte des Blutweiderich, üppig gediehen, dümpeln heute über das Geländer geworfene Burgerking-Tüten in gräulichem Gewässer.
Der von mir geliebte Krebs ist durch die naturfernen Maßnahmen der Politik und die wirtschaftlich induzierte Schadstoffbelastung in Niedersachsen mehr als erheblich zurückgedrängt. Die stärkste Bedrohung stellt jedoch die Krebspest dar. Die Krebspest wurde durch die Ansiedlung amerikanischer Flusskrebsarten eingeschleppt. Diese Krebsarten sind Wirte für den Erreger. Im Gegensatz zum Europäischen Edelkrebs sterben die Amerikaner jedoch nur in Ausnahmefällen daran.
Die Konkurrenzüberlegenheit dieser neuen Arten hat die Situation zusätzlich verschärft und den Edelkrebs in fast allen europäischen Ländern so extrem dezimiert, dass er in Mitteleuropa nur noch in wenigen Inselbiotopen zu finden ist.
Die Gefährdungssituation wird in den Roten Listen gefährdeter Tierarten ausgewiesen. Die Weltnaturschutzorganisation IUCN stellt den Edelkrebs in Europa als „vulnerable Gruppe“ (sic!) dar.
In Deutschland wird der Edelkrebs in der nationalen Roten Liste als vom Aussterben bedroht (Kat. 1) beurteilt.
Ich muss kaum anfügen, das wir niemanden unter Wasser im Rückwärtsgang unterwegs sehen konnten. Nirgends, solange wir auch starrten, war der freundliche „Kollege“ meiner Jugend zu entdecken, der blitzschnell mit dem Schwanz voran ins Dunkel schoss und dabei Staub aufwirbelte, so wie ich es bis heute klar vor meinem inneren Auge habe.
Der Abschied fiel mir somit leicht, aber er stimmte mich existenziell traurig.
Das „alternative Luftschloß“ (Gruhls Bonmot über die Grünen) ist eine eine zweifache Ruine.
Die Herbert Gruhl Gesellschaft wird inzwischen von AfD-Politikern weitergeführt, die das „Selbstbestimmungsrecht der Deutschen“ diskutieren und damit sicher nicht die Überfremdung durch den amerikanischen Flusskrebs meinen.
Das ist bitter, aber nicht zu ändern.
Denn es sind die fatalen Folgen der verlogenen Selbstreinigung der Grünen. Die AfD kostet die Vorzüge der Opposition aus und beackert immer mehr Felder, die von den Grünen aufgegeben wurden.
Zum 100. Geburtstag von Gruhl hat 2021 ein unbekannter Bewunderer – wer weiß, vielleicht sogar mit Billigung oder sogar mit den Mitteln der „Alternative“? – eine Todesanzeige in der Süddeutschen Zeitung geschaltet , die die Unterzeile trägt:
Der Drang zum Feisten bestimmt ihr Handeln – nicht nur der Grünen, sondern aller Parteien, die so neoliberal denken wie sie. Die zugunsten ihrer persönlichen Privilegien denken und entscheiden. Denen das Wohlergehen nicht ein salus publica bedeutet, sondern für die es eine Frage des Gemeinwohl-Managements ist, die letztlich egoistisch entschieden wird.
Atmen wir dieselbe Luft wie sie?
Ja. Aber wer arm ist, stirbt früher.
Der eigentliche Zweck der Übung ist, genau das zu begreifen. Und genau dann eine Entscheidung für sein Leben zu treffen. Angesichts der Lage.
In voller Anerkenntnis des Irrtums, die Welt sei unendlich,
des Irrtums, unsere Wirtschaft beruhe auf Kapital allein,
des Irrtums, über allem menschlichen Wirtschaften walte eine „unsichtbare Hand“,
des Irrtums, die größere Zahl und Menge sei stets besser als die kleinere,
des Irrtums, materieller Wohlstand mache die Menschen glücklich,
des Irrtums, der Mensch verfüge über unbegrenzte Möglichkeiten,
des Irrtums, Wissenschaft und Technik dienten immer dem Fortschritt,
des Irrtums, die Nahrungsproduktion könne immer weiter gesteigert werden,
des Irrtums, die Freiheit nehme unaufhörlich zu.
(alle aus „Planet“, S. 14)
Wäre ich Herbert Gruhl, würde ich jetzt noch aus Jüngers „Marmorklippen“ zitieren:
„Es ließen sich noch viele Zeichen nennen, in denen der Niedergang sich äußerte. Sie glichen dem Ausschlag, der erscheint, verschwindet und wieder kehrt. Dazwischen waren auch heitere Tage eingesprengt, in denen alles wie früher schien.“
Aber ich bin nicht Gruhl und Jünger bleibt für mich unerträglicher Schwulst, ein Denken auf tönernen Füßen, von denen er uns weismachen will, sie seien die Säulen, auf denen das Abendland ruht. Trotzdem schließt das nicht aus, dass auch ein „Rechter“ mal recht hat.
Unerschütterlich fest steht jedoch: Es gibt ein Denken jenseits der jüngerschen Kriegerlogik, und sicher, ganz sicher auch ein Denken jenseits von McKinsey & Black Rock.
Doch die Frage des Weiterlebens, etwas, das weit jenseits des Rechthabens liegt, entscheidet sich an anderen Kriterien – und an unserer Kraft, uns von der eigenen Regierung zu emanzipieren.
Das sehen die Politiker natürlich als die größte Gefahr.
Deswegen setzen sie bei ihren fortlaufenden Einschüchterungskampagnen auf den Erfolg einer ausgeklügelten Strategie der bewussten Täuschung.
Die Strategie dient zunächst der Verschleierung der Ursachen der Krise.
Wir sollen nicht begreifen, dass der Notfall hausgemacht ist.
Dass er Teil eines letzten Aufbäumens eines totkranken Systems ist, das sich überfressen hat, zuviel Energie braucht und uns allen inzwischen mehr schadet als nutzt. Da es sich bewusst gegen die Ökologie stellt, vernichtet das System, wie Gruhl vor 50 Jahren messerscharf nachgewiesen hat, unsere Lebensgrundlage. Es sind die Erfolge unserer Wirtschaft, die uns töten.
Die Strategie der bewussten Täuschung hat viele Gründe, aber vor allem ein Ziel: zu verhindern, dass wir alle Mut fassen und die Sache selber in die Hand nehmen, die die Politiker so gründlich verdorben haben. Denn dann gäbe es nur ein vorstellbares Ergebnis: nämlich dass dieser Wahnsinn ein Ende haben muss.
In ihrem Kommentar zum Beitrag „Vergeudung“ hat DIE AKTION-Autorin Hanna Mittelstädt die Frage nach der Rache aufgeworfen und damit die Debatte über das „Konspirationistische Manifest“ auf diesem Blog eröffnet.
Hanna schreibt: „Ich glaube übrigens, dass Rache trotz allem kein guter Ansatz ist. Leider ist das ein Relikt der „Kriegerkultur“. Ich glaube, die Richtung wäre Versöhnung, im Sinne einer Konsenskultur, Entwurf von Möglichkeitsräumen, sich Zuhören etc. Ich möchte mich nicht auf den Rachefeldzug begeben und ich glaube auch nicht, dass er „zielführend“ ist. Ich verurteile keine Gewalt im Sinne der herrschenden Gesellschaft, aber ich denke, dass wesentlicher, gerade für uns, die wir so viel wissen und so „privilegiert” sind, die Arbeit an einer Konsenskultur ist, auf allen Ebenen … in aller Klarheit … mit aller Entschiedenheit … Vielleicht könnten wir über die Rache debattieren?“
Janneke, Herausgeberin der AKTION, antwortet ihr:
„wir sollten zuallererst fragen, was genau mit „rache“ gemeint ist. es geht doch wohl nicht um das blindwütige abschlachten im zorn!
ich verstehe die autoren des „konspirationistischen manifestes“ folgendermassen: diejenigen politiker und unternehmen, deren erklärtes ziel es ist, uns auszubeuten und die dafür bereit sind, alle möglichen brutalitäten zu begehen, fordern die unterdrückten und ausgebeuteten im namen der christlichen metaphern dazu auf, versöhnlich zu sein und verzicht zu üben (sic!)
das heisst: sich alles gefallen zu lassen, statt eine gerechte rache zu üben. sie sollen sich also gegen die ungerechten verhältnisse nicht auflehnen. genau die leute, die solche forderungen aufstellen, verhalten sich selbst allerdings absolut unchristlich und nehmen auf nichts rücksicht: weder auf menschen, noch auf natur oder moral.
das findet sich derzeit besonders deutlich wieder in der aktuellen umkehrung aller tatsachen. die verkehrte welt, die wir gerade durchleben, zeigt täglich diesen widerspruch: wir sollen auf wasser verzichten, sollen uns für andere impfen lassen, sollen sparen, frieren, hungern, und – übrigens im namen des krieges und der rache an russland – mehr geld für gas bezahlen, damit die konzerne es leichter haben in dieser schwierigen weltsituation.
zurück zur rache. der wille zu rächen entsteht ja nicht ohne eine vorgeschichte. eigentlich sollten wir – allein schon, um überleben zu können – beginnen, rache zu üben für all die zumutungen, mit denen wir in unserem leben ununterbrochen traktiert werden.
stattdessen werden wir in der tradition unserer angeblich christlichen gesellschaft und von eben jenen „herrschaften“, die eine besonders blutige form von rache in der geschichte definiert und etabliert haben mit ihren kreuzzügen und imperialistischen angriffskriegen, ständig dazu aufgefordert, den frieden zu bewahren und versöhnung zu üben.
wie aber könnte eine solche rache nun aussehen, ohne eine kopie der christlichen blutrünstigen rache zu sein? wie könnte eine kompensation geschehen, die nicht einem almosen gleicht?
dabei könnte eine nicht an den massstäben, an der pseudo-ethik der gewalttäter orientierte (unblutige) rache etwas durchaus fruchtbares sein, weil sie einen inneren stau auflösen würde, der uns bislang weiter an die kette der vernichtung angeschmiedet sein lässt.
diese interpretation gibt übrigens das wort „rache“ bereits sprachgeschichtlich her.
in Grimms wörterbuch heisst es: „im subst. wie in dem verbum „rächen“ ist ein alter gemeingermanischer rechtsbegriff beschlossen, das setzen auszerhalb des landrechts und die austreibung aus dem lande in folge angriffs auf den landfrieden, eine mildere und nicht entehrende art derjenigen strafe, als deren höchste und zugleich vogelfrei machende stufe die verurtheilung zum wargus angesehen werden musz.“ lt. Grimm sei auch ein Zusammenhang mit „to reject, refuse,“ nachweisbar, ebenso zum „urverwandtem sanskrit. vṛǵ = abwenden“.
die auslegung der rache als „vertreiben“ wird im „manifest“ mit dem satz aufgenommen, in dem es heisst, dass man sich der „missetäter“ entledigen müsse.
ist es denn nicht so, wie unser freund Jason W. Moore es in seinen „four cheaps“ mustergültig formuliert hat? eigentlich „gehört“ die welt, die natur, ihre ressourcen uns allen. den wirtschaftlichen nutzen ziehen aber nur wenige aus alldem, denen es gelingt, für arbeitskraft, essen, energie und rohstoffe nichts oder nicht genug zu bezahlen. hier ist, lt. Moore, bereits eine rechnung seit anfang des ‘long sixteenth century’ offen.
nebenbei bemerkt, denken auch die autoren von „genug ist genug“ („c/o Jacobin/Brumaire“) gerade in eine ähnliche richtung, wenn sie sagen „Es ist Zeit, wütend zu sein. Und aus der Wut etwas zu machen.“ wut ist nicht rache. aber es brodelt überall und es ist nur eine frage der zeit, dass wir „etwas daraus machen“.
ich verstehe daher den begriff der rache im „manifest“ nicht als teil einer eigenen „kriegerkultur“ (wie Hanna), sondern als eine metapher, als aufforderung, nichts, insbesondere den feldzug der reichen und politiker gegen uns, nichts mehr unwidersprochen hinzunehmen und gerade jener blutdrünstigkeit die gefolgschaft zu verweigern.
das wird nicht einfach werden.
im letzten kapitel des manifestes ist deswegen von einer „aporie“ die rede:
„Angesichts dessen reicht es nicht aus, zu desertieren. Es handelt sich um einen Krieg. Ein Krieg erfordert Strategien, eine Rollenverteilung und den Einsatz materieller und subjektiver Ressourcen. Nun besteht das allen tätigen und strategischen Aufgabenstellungen eigene Paradox gerade darin, dass ihre öffentliche Formulierung ihrer praktischen Umsetzung entgegensteht.“
diesen widerspruch gesehen und durchdacht zu haben, bedeutet leider noch nicht, mit einer fertigen handlungsanweisung da zu stehen.
aber von tag zu tag wird deutlicher: wir dürfen nicht locker lassen!“
Soweit Janneke.
Wir haben weiterhin probiert, die Herkunft des Begriffs Rache bei Walter Benjamin nachvollziehen. Seine „Thesen zum Begriff der Geschichte“ werden im Manifest explizit zitiert.
In der Geschichtsthese 12 wird mit Verweis auf Marx die „rächende Klasse“ benannt (ohne genauere Quelle). Benjamin unterscheidet hier uE wenig zwischen Rache und Haß, wenn er sagt, mit der „Rolle der Erlöserin künftiger Generationen“ habe die Sozialdemokratie die beste Sehne der Kraft der Arbeiterklasse durchschnitten. Daher rührt Benjamins Bild vom sich „nähren“ am Bild der geknechteten Vorfahren, das das Manifest benutzt.
Wenn man schaut, wo Marx von der Klasse im Zusammenhang mit Rache gesprochen hat, findet man den Text „18. Brumaire“ und einen spannenden Artikel über die „Revanche der Peripherie“ (i.e. Landwirtschaft) dazu bei Telepolis, wo sich die Sache noch einmal ganz anders liest:
„In seinem „Achtzehnten Brumaire“ von 1869 analysiert Marx, dass die halbhörigen Bauern Frankreichs durch ihren wahren Kaiser Napoleon I. zwar vom Eigentum ihrer Grundherren zu Eigentümern ihrer Grundparzellen, zu Teilnehmern an der freien Konkurrenz untereinander und zu Teilnehmern an der aufstrebenden Industrialisierung der Städte mit ihrem Lebensmittelbedarf befreit worden sind. Als isolierte Einzelproduzenten und überwiegend Selbstversorger waren sie aber nicht in der Lage, ihre Produktivität ausreichend zu steigern. Deshalb wurden sie auch innerhalb von nur von zwei Generationen zum Ausbeutungsobjekt von Hypothekenverschuldung und Hypothenkenwucher, von Abgabenerhöhung und Steuereintreibung und zudem nicht selten zum Opfer von fallenden Getreidepreisen oder von schlimmen Missernten.
In der Wahl Louis Bonapartes im Jahr nach seinem 1848er Putsch dann zum Präsidenten und damit in der Öffnung der Treppe zum Kaiserthron sieht Marx die Rache der Bauernklasse an den übrigen Klassen der Nation, sieht er eine „Reaktion des Landes gegen die Stadt“ . Allerdings verbesserte die Machtergreifung Louis Bonapartes die ökonomische Lage und die politische Situation der Bauernklasse Frankreichs mitnichten.“
Die Frage, ob angesichts der aktuellen politischen Weltlage Rache zu einer Form des Handelns der Machtlosen werden könnte und wie diese Rache genau aussehen, wohin sie uns führen könnte, lässt sich mit wenigen Zeilen nicht beantworten.
(oben:) Vergeudete Erinnerung: Alte Wrietzener Oder am 5. Juli 2022, 17.16 Uhr
Über die aktuelle Kreislaufkollapswirtschaft, über die Rache, die wir an ihr üben müssen und über die Konspiration, das Zusammen-Atmen, den Kniff, in verpesteter Luft „einen gemeinsamen Geist zu teilen“
Genehmigte Einleitung
Zunächst eine aktuelle Meldung vom 31.08.2022, 4:50 Uhr morgens. Die deutsch-polnische Untersuchungskommission hat festgestellt, das eigentlich nicht Besonderes festzustellen ist. Die Oder-Katastrophe scheint sich also zu klären: es gab kein Chemieunglück, keine illegale Verklappung im großen Stil, kein aktuell einmaliges besonderes Verbrechen.
Es gibt etwas viel Schlimmeres: die behördlich sanktionierte Normalität; den Terror der bis an die Obergrenze ausgeschöpften Grenzwerte.
Der Fluss ist auf 500 Kilometer Länge gestorben, weil zu den zahlreichen „genehmigten Einleitungen“ nun eine mörderische Hitze und Wasserknappheit hinzu kam. „Permanent und legal“ wird hartes Gift in den Fluss gekippt. Eine „menschengemachte Verschmutzung“.
Wir müssen, wie der Biologe Mark Benecke in „Time is up!“ sehr richtig sagt, nicht darüber streiten, ob es Kipppunkte wirklich gibt. Es ist nur ganz einfach über Jahre und Jahre viel zu viel gewesen. Und dann war die Oder „plötzlich“ im Eimer.
Tote pro Politiker
Das Klimakarussell dreht weiter, schneller, tödlicher. Die Debatte um den „Lobpreis der Aasgeier“ hat ergeben: die deutschen Energiehersteller müssen Co2-intensiv produzierten Strom nach Frankreich liefern, weil dort die Atomkraftwerke wegen Überhitzung runtergefahren werden.
Ein Leser schreibt: „Die niederländische Agrarindustrie ist verantwortlich ist für 60% des Ausstosses an Ammoniak und Nitrat. Dennoch wollen die EU-subventionierten Agrarmilionäre nicht umrüsten. Die Niederländer leben unterm Dampf der in die Atmosphäre sich verflüchtigenden Tierpisse. Warum? Neben 3,5 Millionen Kühen (Gewicht einer Milchkuh 650 Kilo = so viel wie 8 Menschen) gibt es in den Niederlanden etwa dreimal so viele Schweine: mehr als 11 Millionen – bei 17.591.394 Einwohnern. Die Niederlande sind der größte Fleischexporteur der EU. Das am dichtesten besiedelte Land der EU exportiert 3,6 Milliarden Kilo Fleisch, das mehr als 10 Milliarden einbringt. Also etwas von 3 € das Kilo. Hier gibt es auch 100 Millionen Hühner. Plus 850.000 Schafe und 500.000 Ziegen. Endergebnis: Biodiversität in NL <15 %“ Ein anderer Leser schreibt mir: „Wenn wir nicht wollen, dass unsere Generation auch nur der Anfang einer verschwindenden Biomasse ist, muss jeder seinen Fußabdruck halbieren: Komfortverzicht, Konsumverzicht, massive Änderung von Lebensgewohnheiten. Und wie schwer das ist! Aber das ist in der Masse wirksamer, als immer nur auf die Lobbyisten zu schimpfen. Das eigentliche Übel sind die billigen (Junk-) Lebensmittel; die können wir uns nicht mehr leisten.“
Ein dritter: „Es gibt einen Index, der die verschiedenen Energieerzeugungstechnologien anhand ihres Kollateralschadens auf den Menschen berechnet. Die Masseinheit ist „Tote pro Terawattstunde Energieleistung“. Kohlekraftwerke, die die Grünen jetzt zu Kriegszwecken wieder anwerfen, schneiden da ganz schlecht ab, viel schlechter als z.B. Gas. Eine Regierung tötet ihr eigenes Volk. Man sollte mal eine Rechnung aufmachen mit der Gleichung Tote pro Politiker.“
Wir wissen alles. Jedenfalls alles Notwendige. Aber was tun wir? Verzichten oder vergeuden? Die Antwort ist existenziell.
Kreislaufkollapswirtschaft
Was der Aasgeier frisst, habe ich im „Lobpreis“-Beitrag an einigen Anekdoten aus den letzten elf Jahren illustriert.
Anekdoten haben den großen Vorteil, dass sie das große Ganze im Großen und Ganzen hinreichend genau am Einzelbeispiel klar machen. Um das Einzelbeispiel zu verstehen, muss man keine theoretisch-wissenschaftliche Vorbildung haben, muss kein Ausnahmegehirn besitzen, dass sich die neuesten Statistiken merken kann. Man muss kein ideologischer Triebtäter sein.
Man muss sich nur treiben lassen und alle Einzelbeispiele, die einem nicht passen, weg-trollen. Denn angeblich beweisen Einzelbeispiele nichts. Sie könnten ja Ausnahmen sein.
Na gut, wer nicht kapiert, dass es bei diesem Thema um ihn selbst geht, kann gern weitertrollen.
Troll-Argument No.1: Aasgeier dienen dem natürlichen Kreislauf. Klar, der Vogelschützer hasst natürlich Vermenschlichung von Tiergruppenverhalten. Schon Konrad Lorenz hat davor gewarnt – und sein Buch „Das sogenannte Böse“ seiner Ehefrau gewidmet. Diese Ratte! Entschuldigung. Nein, ernsthaft.
Gegen Naturschützer trollen ist so etwas wie Selbsthaß.
Eine Art Scientology-Strategie, bei der man immer kurz bevor man entdeckt wird als typischer „Schädling“, den anderen vorwirft, schlimme Schädlinge und Ignoranten zu sein. Oder eben „framing“, ein absichtsvoll erzeugter Prozess, der mittels verbaler struktureller Gewalt dem Opfer ein Bedeutungssystem überstülpt, das ihn mundtot macht.
Schädling benutze ich übrigens hier in genauer Umkehrung der Normaldefinition (Kollektivbezeichnung für Organismen, die den wirtschaftlichen Erfolg des Menschen schmälern) im Sinne von „Menschen, die den natürlichen Erfolg der Organismen schmälern.“ Ich spreche von Kreislauf-Killern.
Im Aasgeier-Text habe ich, ohne das Wort zu benutzen, bereits von einer Kreislaufkollapswirtschaft gesprochen. Weil es im heutigen Text öfter darum gehen wird, ersetzen wir das entsetzliche Bandwurmwort durch eine hübsche Abkürzung: KKW. Aber nicht KKW wie KKW , sondern wie Kreislaufstillstand.
Um die Kreislaufkollapswirtschaft, meine KKW zu beschreiben, könnte ich jetzt weitere Anekdoten erzählen: „olle Kamellen“ (denn die Klimakrise ging nicht erst gestern los) von dem westfriesischen Großbauern Harry Van Gennip, der über den Kerosin-Seen des russischen Flugplatzes in Cobbel, Sachsen-Anhalt, eine Schweinefarm mit über 100.000 Tieren anlegen wollte, quasi ergänzend zu seinem Betrieb im benachbarten Sandbeiendorf, wo bereits 65.000 Tiere standen: in geschlossenen Betonwannen. So ist alles versiegelt. Mit Bio-Gütesiegel. Das anhaltische Land ist billig zu kaufen. Und der Bundesstaat spart sich die sündhaft teure Bodenreinigung.
Mir fiele dazu noch eine schöne Anekdote über einen damit zusammenhängenden kommerziellen Kreislauf ein; die Anekdote von den westfriesischen Großbauern in der Magdeburger Börde, die ab 1990 den guten 100er Boden aus der Elb-Aue auf dem LKW ins Polderland geschafft haben, bis sie auf Sand gestoßen sind. Wir reden hier über etwas mehr als dreißig Kilometer entlang der Elbe. Den darunter zutage getretenen Sand haben sie an die A2-Baustelle geschafft: auf naturgegeben kürzestem Weg, wofür sie einen Öko-Preis erhielten. Als sie bei drei Metern in der Tiefe waren, haben sie langsam wieder verfüllt: mit Schweinescheiße. Stimmt nicht: Pisse war auch dabei. Die konnte man flussabwärts noch vor Hamburg messen.
Die meisten Menschen seien von den Megaschweinefarmen schockiert, „dabei handelt es sich einfach nur um eine Fabrik.“, sagt der Unternehmer Van Genugten, der sich zu Recht dagegen verwahrt, als Bauer betrachtet zu werden. Auch sein Kollege Kees Klaassen ist glücklich in der ex-DDR, wie alle seine Landsleute: „Zu Hause wirst du als Schweinezüchter ständig wie ein Krimineller behandelt. Das ist in Ostdeutschland anders.“
Wie tief unter der Erde endet das Privateigentum? Ich spreche hier von einem ethischen Problem, nicht von juristischen Spitzfindigkeiten.
Noch eine olle Kamelle: Firmen, die mit den Westfriesen in Ostdeutschland Geschäfte machen, fahren die Kadaver aus den Jerichower Schweinemetropolen nach Westfriesland. Täglich. Mit hunderten von LKW. Kreislaufwirtschaft? Oder KKW?
Die Rohware (tote Tiere) wird mittels Grob- oder Feinbrechern in ca. 50 g bzw. 20 g schwere Stücke zerkleinert und der Fleischbrei wird auf ebenderselben A2 on the road entfettet (heisst: läuft als rosé-farbener Stinkschaum hinten aus den offenen LKWs raus; in Tonnen; verteilt sich alles auf der Strecke). Das ist exakt, was man früher Schinden nannte. Der Abdecker zog mit dem zu beseitigenden Tierkörper lange Strecken über Land. Alles ganz normal. Schon immer so gewesen. Der Kadaverbrei hat den Hautgout von gammeliger Leberwurst. Wenn ihr das nächste mal über die Schinderpiste gen Berlin fahrt, haltet mal zwischen Barleben und Burg die Nase in den Wind. Seit der Recherche über die westfriesischen Schweinegroßbetriebe in meinem Nachbarbundesland kann ich Leberwurst nicht mal mehr von ferne riechen. Das ist ein guter Anfang!
Nichts nichts nichts ist besser geworden in den dreissig Jahren seit der Wende. Mit 50 Millionen Schlachttieren pro Jahr ist Deutschland immer noch weltweit die Nummer 3.
Ja, schöne Anekdoten könnte ich noch etliche erzählen. Könnte. Aber es reicht. Denn im Großen und Ganzen sind wir uns doch im Klaren über das Futter der Aasgeier: Das sind wir. Die Aasgeier fressen uns arm.
Armut
Deswegen möchte ich mich jetzt einer höchst erstaunlichen Recherche von Danilo Dolci über die westsizilianischen Bauern zuwenden. Der aus Dolcis Feldforschung über Armut und Rückständigkeit entstandene Text (entstanden 1959) heisst schlicht und heute treffender denn je: „Vergeudung“.
„Vergeuden“ steht in Grimms Wörterbuch gleich vor „Vergewalten“. Der Etymologe Wolfgang Pfeifer (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen) weiß zu berichten, dass die Bedeutung „verschwenden, nutzlos, sinnlos vertun“ auf das untergegangene mittelhochdeutsche Wort „geuden“ zurückgeht, das einmal „prahlen, großtun, Verschwendung treiben“ bedeutete, aber mit einer festlich-fröhlichen Konnotation (wie Genuss, Jubel, Freude). Das Präfix „ver-„ hat ihm dann aber den Rest gegeben (und nur der ist aufschlussreicherweise erhalten): „ver-„ bezeichnet das Beseitigen, Wegschaffen, endgültige Aufbrauchen, das Zugrundegehen wie in „verbluten“ und „vertilgen“. Wir wissen nun, woran wir sind.
Vergeudung ist präzis derjenige Begriff, der unsere jetzige Lage am allerbesten beschreibt. Wir könnten. Wir müssten. Wir sollten. Aber anstelle dessen vergeuden wir.
In Kapiteln, die Titel tragen wie „Vergeudung an Land“, „Vergeudung an Hilfsmitteln“, „Vergeudung an menschlichen Leben“, identifizieren Dolci und die Mitstreiter seiner selbstbeauftragten Enquete-Kommission mangelnde Bildung und Aberglauben als die Hauptquellen der Rückständigkeit, sowie das in Sizilien typische Mafia-Problem, das von vielen Mitgliedern der armen Dorfgemeinschaften mitgetragen wird, obwohl es genau diesen Leuten schadet.
Die mangelnde Bildung resultiert nicht nur aus dem engen Horizont der Bewohner des bergigen Westsizilien. Sie ist auch ein Ergebnis des Analphabetismus. Der Aberglaube hat seine Wurzeln im kirchlichen System, das ergänzt wird von fehlender medizinischer Versorgung, so dass ganz einfache Probleme wie Würmerbefall von den Heilkundigen im Dorf als Besessenheit, als von Dämonen erzeugt gedeutet werden und der Priester zustimmt. Ein geschlossenes System, in dem fließend Wasser, tägliche Hygiene und die notwendige Sauberkeit bei der Nahrungserzeugung keine Rolle spielen.
Die Mafia ist gut angesehen oder wird unwidersprochen hingenommen, weil sie Probleme regelt, die wegen fehlender Selbstorganisation der Dorfbewohner oder durch den Staat nicht gelöst werden.
Als ich den Text las, fühlte ich mich auf ungute Weise an die elf letzten Jahre erinnert.
In Fragen der Ökologie, in Sachen der Landwirtschaft sind wir modernen Städter alle Analphabeten. Methodische Analphabeten, die systematisch ihr Wissen verdunkeln.
Wir hören auf die Gesundheitsapostel der Pharmaindustrie, die den Dämon an die Wand zaubern; wir sehen die Gala der Superreichen und Konzerne und bewundern sie, wie einst die Bauern den Kardinal und seinen Prunk. Wir fürchten uns auszuscheren und selber zu denken. Wir schließen die Augen und verleugnen. Denn unser Wissen macht uns Angst.
Wir leben nach dem Prinzip der Vereinzelung: jedermann auf sich gestellt, obwohl wir wissen könnten, dass es zusammen viel besser ginge. Wir haben uns den Aberglauben einreden lassen, dass Selbstorganisierung gefährlich sei und die Gemeinsamkeit in Selbstermächtigung ein Terror.
Wir folgen mafiösen Politikern und medialen Intendanten, die nur auf ihre Bereicherung achten und damit den masochistischen Charakter all derer bedienen, in denen autoritäres Auftreten nicht Widerspruch, sondern Unterwerfung erzeugt. Wir sind wie die rückständigen Dörfler im letzten Winkel Europas vor sechzig Jahren. Wir bewundern den Mann, der Eier hat und sich gegen alle durchsetzt. Und über alles hinweg.
Das sind alles schlechte Voraussetzungen, um die Natur zu retten.
Der Plan
Gibt es für die mafiöse Landwirtschafts-, Gesundheits- und Energiepolitik der Regierungen einen gemeinsamen Plan?
„In den 1950er Jahren ist der Klimawandel ein eigener Forschungsbereich, der die Schlagzeilen der Zeitungen beherrscht. Man ist sich weitgehend einig, dass die Zukunft des Krieges im „Umweltkrieg“ besteht, da eine nukleare Konfrontation das Ende der Menschheit bedeuten würde. Es ist eine für die damalige Periode alltägliche Aussage, wenn Irving Langmuir, Chemieingenieur bei General Electric und Nobelpreisträger, feststellt: „Die Kontrolle des Klimas kann eine Kriegswaffe sein, die so mächtig ist wie eine Atomwaffe.“ Er arbeitet im Übrigen an Bomben, die in den Wolken gezündet werden können, um Regen oder Dürre zu erzeugen und so den Feind auszuhungern, ohne dass man dafür beschuldigt werden kann. … Anstatt sich zu fragen, warum „man“ jahrzehntelang nichts unternommen hat, obwohl „man“ es wusste, sollte man sich die Dokumente der CIA aus den 1980er Jahren anschauen. Damals sah die CIA die globale Erwärmung als eine gute Sache an, da sie die Russen kräftig ärgern würde. Die Archive der Ölkonzerne hingegen sehen in der Katastrophe eine heilsame Dynamik, die zur „Anpassung“ drängt. Es gibt nichts Besseres als Katastrophen, um Knappheit, also neue Märkte und neue wirtschaftliche Güter zu schaffen. Zur selben Zeit, als die Pariser Klimakonferenz mit ihrem 1,5°C-Ziel tagte, teilte der Chef von Total bei einem Vortrag in der französischen Eliteuniversität Sciences Po gelassen mit, dass er bis 2050 mit einem Anstieg der globalen Temperatur um 3,5°C rechne. Die Katastrophe ist Teil des Plans. Der apokalyptische Blickwinkel, aus dem die Klimafrage heute betrachtet wird, ist nur deshalb vorherrschend, weil man seit den 1960er Jahren weiß, dass man sie damit neutralisieren kann und dass die Öffentlichkeit darauf mehrheitlich mit neuem Zynismus und Gleichgültigkeit reagiert. Es geht nicht darum, sich des Klimaproblems wieder anzunehmen, sondern darum, diejenigen loszuwerden, die dafür gesorgt haben, dass es existiert. Es geht darum, unsere Waffen gegen diejenigen zu richten, die aus dem Klimaproblem eine Waffe machen wollten.“
Soweit das „Manifest“.
Die Frage, ob die Regierung heute tatsächlich einen Klimakrieg gegen die eigene Bevölkerung führt und Tote per Terrawatt produziert, müssen wir genausowenig beantworten wie die Frage, ob es Kipppunkte gibt. Denn es reicht aus, den Plan zu sehen. Und die Toten zu zählen, die an Dürre, Überschwemmung, Missernte und anderen klimainduzierten Dilemmata jährlich sterben. Die an Junk-Food und Massentierfleisch aus der industriellen Landwirtschaft sterben (obesity).
Neben dieser gezielten, methodischen, wirtschaftsfördernden Vergeudung von Menschenleben gibt es nur einen Begriff, der genauso aufschlussreich ist: Reichtum.
Reichtum
Der Plan der Reichen heisst Agenda. Agenda ist eines von vielen spindoctor-Worten, mit denen der Plan sich als Rettung der Welt zu bemänteln versucht. Jede Agenda ist eine tödliche Lüge. Denn Agenda bedeutet, die Regierung will es später oder niemals tun, aber zeigen, dass man sich mit der „laut Agenda“ anstehenden Frage befasst.
Mit der Agenda illustriert die Regierung ihre Achtsamkeit. Unter der Bedingung negativer Inversion durch spin-doctoring bedeutet Achtsamkeit besondere Rücksichtsloskeit. Die achtsame Regierung beherrscht die große Kunst des Darauf-Scheißens. Sie will aber als sensibel gelten, damit ihr das wahre Verhalten nicht angekreidet wird. Jeder Linguist lernt im ersten Semester: Sprachlösungen definieren ist Machtpolitik. Wer über die Definitionsmacht verfügt, herrscht.
Die achtsame Regierung hat den Öko-Check eingeführt und allgemein jede Menge Komposita mit Öko- produziert (wie -Bilanz, – Effizienz, -DAX, -Zertifizierung und -Trend) Alle diese Begriffe sind nicht von ungefähr finanzsprachlich. Ökocheck ist ursprünglich ein Begriff aus der Neurolinguistischen Programmierung, also: aus einer Lehre zur Beeinflussung psychischer Abläufe im Menschen. Heute wird Ökocheck allgemeiner gebraucht, stets flankiert von den Begriffsschwestern Nachhaltigkeit und Resilienz und soll der Sicherstellung einer „lebenswerten Zukunft“ dienen. „Lebenswerte Zukunft“ heisst: Man muss nichts tun, nur alles glauben, was angeordnet wird.
Öko ist bloß die politisierte Fassung von Bio. In Berlin rangiert gleich hing B-IG und B-OY das B-IO an dritter Stelle der beliebtesten Wunschkennzeichen. Voll öko, ich mach mal eben meinen Elektro-TESLA Model S Performance mit 600 kW (815 PS) voll. Wenn ich den sehe, bin ich immer voll geladen.
Zurück zu den Big Boys. Sie bevölkern folgerichtig die Biomärkte wie kein zweites Klientel. DINKies (Double income no Kids) können sich besonders leicht die teure Gewissensberuhigung erlauben. Der kinderreiche Rest verdient genug an seinen natürlich vollständig stromlos laufenden Serverfarmen und Onlinedienstleistungsgeschäften. Voll fair-stärkt, wir telefonieren sogar grün: mit we-tell („klimaneutraler Mobilfunk“ ), die ihre Einnahmen aus den Tarifen, statt sie selber zu verdienen, schon jetzt in mehr als 1.000 Solarzellen investiert haben! So einfach ist das, grün zu werden! Das muss man sich mal konkret vorstellen: ein Telefonprodivder hat mehr als 1.000 Zellen gekauft, das ist mehr als auf drei Einfamilienhaus-Dächer passen. Wenn das keinen „Bock auf nachhaltigen Mobilfunk“ macht! Wenn das nicht locker den Stromverbrauch des abendlichen Netflix-Streaming einer glücklich fair-stärkten Familie abdeckt, also sagen wir mal, … locker mindestens 7 Minuten in Lo-Res.
Schön, dass die Leute sich das alles selber glauben! Das erhöht die tägliche Zufriedenheit. Und zufriedene Leute unternehmen nichts, um den status quo zu ändern. So einfach ist das!
Dinkies und ihre Brüder und Schwestern, die LOHAS (Lifestyles of Health and Sustainability), bezeichnen weniger eine umweltverträgliche Einstellung, als ein Geschäftsmodell. Sie sind das Zentrum der Zielgruppenfahndung von Marketingexperten, die an der Preisschraube drehen, die üblen Tricks wie Teuerungszulagen ersinnen und die Wahrscheinlichkeit, dass sie klaglos geschluckt werden, modellieren. In diesem Wirtschaftssegment ist Armut – wie Danilo Dolci sie untersucht – ein Fremdwort. Arme sind Verlierer. Sie stehen nicht auf dem Zettel der Menschengruppen, für die der Aufwand sich lohnt.
Durch den Dunst der Wortnebelmaschinen sehen wir dennoch die realen Zustände: Ausbeutung statt Achtsamkeit, Bereicherung statt Bio, Verordnung statt Verbesserung.
Das Hauptproblem am Reichtum: dass reiche Leute, die mit den alltäglichen Folgen ihrer Verordnungen keinerlei Berührung haben, die Ausbeutung ganz und gar unsentimental weiter vorantreiben, weil ihre Erfahrung ist, dass Wachstum ebenso unendlich ist wie ihr Geld.
Sie betrachten die Erde wie einen Lappen, den man auswringen kann und wenn er trocken ist, taucht man ihn in neues Wasser und weiter geht es. Sie leben wie die Hände, die wringen, nicht wie der Lappen. Das ist der ganze Unterschied und erklärt, warum sie keine Angst haben.
Die Koordinatoren des konzertierten Kreislaufwirtschaftskollaps, diejenigen, die am Zusammenbruch am meisten verdienen, sind die Politiker. Sie sind selbst reich, viele haben keinerlei abgeschlossene Berufsausbildung, keine Berufserfahrung jenseits der Politik und mit Dreistigkeit treffen sie politische Entscheidungen, die nur ihnen nützen und die Reichen superreich machen. „An diesem Punkt wäre es absurd zu fragen, ob sie sich verschwören, dieses eine Prozent, das 48 Prozent des weltweiten Reichtums besitzt … Natürlich atmen sie die gleiche Luft.“ Wie wir alle. „Wir müssen uns ihrer einfach entledigen.“ Wir müssen „uns rächen für die ruinierte Erde und die sterbenden Ozeane. Für die prächtigen Wesen, die von der Fortschrittsmaschine zermalmt wurden, und die Heiligen, die in der Anstalt landeten. Für die ermordeten Städte und das versiegelte Land. Für die Beleidigung dieser Welt und aller nie entstandenen Welten. Für all die Besiegten der Geschichte, deren Namen man nie feiert. Uns rächen für die Arroganz der Mächtigen und die abgrundtiefe Dummheit der Manager. Für die Gewissheit, dass es ihr gutes Recht wäre, die anderen zu zerquetschen. Für die Unverschämtheit, mit der sie nach der Fortsetzung ihres räuberischen Kurs streben. Dafür, dass sie es vermochten, uns in den Zustand der Verwirrung, des Zweifels und der Hilflosigkeit zu setzen.“
Zunächst ein Wort zum Ort und seiner Lage im Berliner Stadtraum. Um zur „Schankwirtschaft Laidak, Bar.Bier.Buch.Bild.“ zu gelangen, muss man die Hermannstrasse entlang gehen. Je nachdem, von wo man kommt, quert man die Sonnenallee und die Karl-Marx Strasse. Die drei Strassen sind die grossen Achsen von Neukölln, einem Viertel, das aufgrund einer rassistischen Verdrängungspolitik in den 70er Jahren (Zuzugssperre für Gastarbeiter/Migranten aus muslimischen Ländern im benachbarten Kreuzberg) vorwiegend von Türken und Arabern bewohnt wird. Heute herrschen hier die großen Clans. In Neukölln laufen die Sirenen von Polizei und Krankenwagen fast durchgehend.
Überall am Weg wird Billig-Fleisch aus Massentierhaltung verkauft – nach unserem jüngstem Erkenntnisstand einer der Hauptverursacher der Klimaschädigung . Der Spaziergänger hat das Gefühl, auf einem Fußmarsch von 15 Minuten Länge an Tonnen brutzelnder Kebabspieße vorbeizukommen. Kein Haus, das nicht unten einen „Döner“- oder Burger-Grill drin hätte. Alle Läden sind entsprechend der aktuellen Mode in schwarz gestaltet und mit kaltem LED-Licht beleuchtet. Überall werden Shishapfeifen geraucht. Es riecht nach Bratenfett und Erdbeer-Vanille-Parfüm.
Plötzlich öffnet sich, nur wenige Meter entfernt vom brausenden Großstadtverkehr, eine Oase: ein ruhiger baumbestandener Platz, an dem das Laidak liegt. Das Laidak ist die Berliner Version eines heruntergekommenen Grand Café. Es atmet das Air des vergangenen Jahrhunderts, Gründerzeit, hohe Decken, große Räume, eine lange Bar, auf jeder Wand ein langes Regal mit Büchern. Es herrscht eine spontan angenehme, friedliche, sympathische Atmosphäre. An der Wand eine große schwarze Tafel, auf ihr steht ein Zitat von Rainald Götz: „Ich brauche keinen Frieden, denn ich habe den Krieg in mir.“ Götz hat einmal sinngemäß gesagt: „Jedes Buch, das ohne Zorn geschrieben ist, lohnt die Lektüre nicht.“
Wie viel Zorn steckt im Manifest? Wie viel kühle Recherche? Wie viel Liebe und Lust auf eine lebenswerte Zukunft?
Die Freunde
Die Menschen, die neugierig auf das Konspirationistische Manifest ins Laidak kamen, waren zu zwei Drittel (Aussage der Bar-Betreiber) keine Stammgäste.
Sie sind (entschuldigt die Pauschalisierung, die nötig schien, um ein Stimmungsbild zu schaffen):
notorische Nikotinkonsumenten (von 80 Gästen etwa 75 Kettenraucher)
kräftige Biertrinker (nur große Biere wurden gereicht)
zu 75% männlich
von den Männern niemand unter 35 Jahre
von den 25% Frauen waren nur einige wenige über 30
Intellektuelle, Marxisten und ex-Marxisten, Künstler …?
Es war etliche Prominenz anwesend: eine im Moment euphorisch gefeierte und von anderen Leuten ebenso stark verachtete Corona-Maßnahmen-kritische Aktivistin, einige der Filmemacher von „Alles auf den Tisch“, Mitstreiter von „Basis Kreuzberg“, dem parteipolitischen Arm von „Querdenken“, die Herausgeber des Corona-kritischen Magazins „Der Erreger“: alles Leute, die man früher als „links“ bezeichnet hätte und die jetzt aufgrund ihrer Haltung zu den Corona-Maßregeln der Regierung als „rechts“ verunglimpft werden.
Teile der Gruppe, auf deren Plattform das Manifest digital erschienen ist, zählt(e) zu den sogenannten „Antideutschen“, eine Linken-Fraktion, die bedingungslose Solidarität mit der Politik Israels fordert; der Text selbst steht auf einem .tk-Server: tk ist das Kürzel für Tokelau. Nach Wikipedia eine „der gefährlichsten Top-Level-Domains“ der Welt. Die Antifa Neukölln diffamiert das Laidak als „Heimat notorischer Falschabbieger“ und als „rechtsoffene Location (no place to be)“. Eine typische Biographie dieser Gruppe könnte sein: Eltern in der DKP, die Kinder von Guy Debord begeistert, kurzzeitig autonome Antiimperialisten und libertäre Linke mit Hang zum Anarchismus. Einer aus dieser Gruppe kennzeichnete einmal seine politische Biografie als „Irrungen, Wirrungen, Spaltungen.“
Der Tresen im Laidak macht unmissverständlich klar: hier wird täglich ein gehöriger Schluck Situationismus getrunken. Unwillkürlich (und schmunzelnd) fallen einem die Zeilen Debords ein (Brief an Juvénal Quillet vom Donnerstag, den 11. November 1971): „Ich bin selbst nicht sicher, ob ich „ein Revolutionär“ bin, bzw. kann ich nur deshalb so bezeichnet werden, weil ich sozial gesehen niemals etwas anderes gemacht habe. Ich denke, dass mich auf persönlicher Ebene auch noch zahlreiche andere Merkmale charakterisieren (ich bin auch ein „Anti-Künstler“, ein Säufer, ein Spieler, ein fauler Sack etc.)“
All diese Grüppchen, die zuvor das Laidak gemeinsam bevölkerten, waren mit einem Schlag in feindlicher Konfrontation, als COVID begann. Jetzt war plötzlich nicht mehr die Zugehörigkeit zu einer linken Splittergruppe maßgeblich, sondern die Haltung zu den Verhaltensregeln der Regierung. Das Laidak war während des „Lockdown/confinement“ einer der wenigen Orte in Berlin, wo die Betreiber nicht Polizei spielten und die Besucher frei sitzen und diskutieren konnten. Im Laidak war die gewaltsame Entsolidarisierung des „Bleibt alle zuhause und haltet die Schnauze“ aufgebrochen.
Wir hatten erwartet, dass Abordnungen des Verfassungsschutzes anwesend sind. Doch die beiden, die wir dafür hielten, entpuppten sich dann als Freunde des Hauses. Manchmal stimmt beides: der Verdacht und seine vermeintliche Entkräftung.
Vor diesem bunten, vielfältigen, spannenden und vor allem höchst sympathischen gesellschaftlichen Hintergrund fand die Lesung statt.
Der Text
Es wurde 1,5 Stunden lang vorgelesen. Die Auswahl war sehr gut. Sie gab einen perfekten Überblick über die Themen und die Qualität des Textes. Es wurde eine gebundene Papierkopie zum Selbstkostenpreis verkauft. Der Moderator des Abends war eloquent, schlagfertig und humorvoll und seine Einführung auf den Punkt.
Das Palaver
Nach einer Pause zum Atemschöpfen begann das, was die Veranstalter in ihrer selbstironischen Terminologie als „Palaver“ bezeichneten. Offenbar kennen sie ihre Pappenheimer.
Wir hatten uns ein wenig vor dieser Diskussion gefürchtet, beziehungsweise vor dem Publikum, das teilweise grimmig wirkte. Doch das Palaver war überraschend gut, durchaus strukturiert und nahm eine unerwartete Wendung.
Von den gut 1,5 Stunden Diskussion wurde weitaus am längsten über „die Seele“ gesprochen. Das zweitwichtigste Thema des Abends war der Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich.
Was bedeutete „Seele“ in der Diskussion?
Der Textbezug ist zunächst einmal das Zitat im Manifest „Die Wirtschaft ist die Methode; das Ziel ist es, die Seele zu ändern.“(Margaret Thatcher). Ebendort heisst es einige Zeilen weiter: „Im Lateinischen, Griechischen, Hebräischen und in so vielen anderen Sprachen verweist der Begriff der Seele – anima, psyché, rouakh – auf den Atem, den Wind, das Atmen.“
Das Manifest versteht den Begriff „Konspiration“ als „gemeinsames Atmen“, als Zusammenschluss von verwandten Seelen. So steht der titelgebende Konspirationismus dem älteren Modell vom Aufbau revolutionärer Kampfgruppen oder Kader gegenüber.
Dies wurde von den Zuhörern insgesamt als erfreuliche Idee empfunden, weil in den vergangenen zwei Jahren die staatlichen Organe des „Infektionsschutzes“ das Atmen, und ganz generell das Gemeinsam-Sein, zu etwas besonders Gefährlichem erklärten. Im Grunde, so einer der Wortbeiträge, sei der Konspirationismus eine Strategie, die zumindest in Berlin aus der Zeit der Hausbesetzungen (1980er) noch bekannt ist unter dem Slogan „Bildet Banden!“
Die deutsche Linke sei nicht gerade berühmt für ihre Nähe zur Poesie. Verständnisschwierigkeiten würden möglicherweise auch daher rühren, dass es sich beim Manifest in erster Linie um ein Stück Literatur handele, nicht um eine Theorie im klassischen deutschen Verständnis.
Es sei „typisch deutsch“, dass in dem Moment, wo es nicht mehr um reine Fakten oder Zitate aus anderen ideologischen Texten des Marxismus ginge, sondern um Gefühle, Stimmungen, Freundschaften, (allen voran die älteren, ideologisch geschulten) Leute aussteigen, als hätten sie Angst – vielleicht vor der „Sphäre einer reinen Seelenwirklichkeit, in der der Mensch als Mensch – und nicht als Gesellschaftswesen“ existiert (Zitat Manifest).
Sie werden sogar wütend. Ein junger Mann verließ unter lautstarkem Protest den Raum („Ich könnte kotzen, wenn ich diese Seelen-Debatte höre“), weil er falsch verstehen wollte, dass es bei „Seele“ immer um eine christliche Metapher ginge. Ein anderer Zuhörer veralberte ihn und sagte, er würde jetzt auch gleich den Raum verlassen, wenn er noch einmal pauschal als „Linker“ bezeichnet würde.
Obwohl ein großes Manko vieler Redebeiträge mangelnder Humor war, rissen einzelne Leute die Debatte immer wieder herum. Es gab auffällig wenig „Selbstdarsteller“, die nur das Wort ergreifen, weil sie sich produzieren, sich selbst reden hören wollen.
Sehr viele Diskutanten hatten den Text in Gänze vor der Veranstaltung gelesen. Das „Manifest“ wurde immer wieder mit dem Text „Der kommende Aufstand“ verglichen. Einige Zuhörer stellten fest, dass es kein einziges literarisches oder theoretisches Werk in Deutschland gäbe, dass qualitativ und inhaltlich an das Manifest heranreiche.
Ein wichtiger Punkt in der Diskussion war die Frage, ob man erwarten dürfe, dass der Text eine Art Handlungsanweisung gäbe oder ob es eher seine Stärke wäre, dies nicht zu versuchen.
Die Absage des Manifestes an die Organisations-Form der (verfestigten) Gruppe wurde allgemein begrüßt, was sicher mit der oben geschilderten Erfahrung und politischen Sozialisation der Anwesenden zu tun hatte.
Viele waren sich darüber einig, dass es keine schnelle Antwort auf die Frage „Wie weiter?“ gibt und dass die starke Ermutigung, die das Manifest darstellt und die Idee, sich informell zu vernetzen und ohne konkrete Erwartungen zu schauen, wohin es sich unter den neuen Bedingungen entwickelt, das einzig Mögliche sei. Die deutschen Freunde des Manifestes beklagten durchweg, sie fühlten sich vereinzelt (mit ihrer Meinung allein dastehend), deswegen desillusioniert und gelähmt.
Viele Leser haben aus dem Text verstanden, dass es künftig mehr um private und persönliche Verbindungen gehen muss, als um Zugehörigkeit zu politischen Gruppen. Es wurde zum besseren Verständnis der Bedeutung von „verwandten Seelen, die miteinander atmen“ noch bemerkt (und aus dem Manifest zitiert), dass in der Weltgeschichte viele entscheidende Wendungen passierten, die ihren Ursprung in zwischenmenschlichen Sympathien und Verbindungen haben (von wenigen Personen). In solchen Verhältnissen herrsche der Natur der Sache nach weniger Konkurrenz als in einer Partei.
Zum Unterschied Deutschland – Frankreich war die Ansicht, dass in Deutschland – aus Angst vor Diffamierung und immer weiter voranschreitender Isolation – eigentlich fast niemand etwas unternimmt (was so nicht ganz stimmt, siehe hier) und dass hingegen der Text in Frankreich auf einen fruchtbareren Boden fallen müsse, weil die Franzosen keine Furcht vor Skandal und Aufruhr hätten und von der Last historischer Schuld befreit handeln können.
Ein Zuhörer stellte die Theorie auf, dass der aus dem Faschismus herrührende, über nunmehr drei Generationen vererbte „Gefühlsstau“ der Deutschen sie zu ängstlichen, nur verhalten opponierenden Menschen gemacht habe, während im Selbstbild der Franzosen weniger das Thema „Mitschuld am Faschismus“ vorkäme und sie deswegen freier agieren könnten. So erkläre sich der große „Erfolg“ der konzertierten Vereinzelungs- und Entsolidarisierungs-Kampagne in Deutschland.
Es wurde ferner festgestellt, dass „Querdenken“ sich von vornherein als „Bewegung“ oder Organisation verstanden habe und sich deswegen viele Leute ausgeschlossen gefühlt hätten, während im Gegensatz dazu die „gilets jaunes“ es geschafft hätten, breit und offen zu bleiben und nicht vor jedem ersten Gespräch abzuklären, zu welcher Fraktion man gehört.
Das Publikum war sich weitgehend einig, dass das Abklären der Fraktionen in Deutschland viele Energien, die „von links“ kommen könnten, vernichte.
Immer wieder wurde begrüsst, dass das Buch eine sehr sauber recherchierte Bestandsaufnahme sei zu Fragen der Geschichte der Verhaltenskontrolle und -steuerung und es einleuchtend sei, eine Linie von Stalins Interesse an der „Gestaltung der Seelen“ über CIA/MK Ultra bis zu den Maßnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie zu ziehen, um zu begreifen, warum das „project fear“ solche Wirkungsmacht entfalten konnte.
Es wurde auch verstanden und als herausragend empfunden, dass das Manifest dafür Rache fordert, statt wie alle jetzt in der Erstarrung des (Er-)Leidens zu verharren.
Gegen Ende wurde noch über den Schlusssatz „Wir werden siegen…“ und die Bedeutung der „Tiefgründigkeit“ gesprochen. Ist die Behauptung der Tiefgründigkeit arrogant oder ist sie ermutigend? Bis auf einige wenige notorische Zweifler fanden die meisten Anwesenden das Schlussmotto wichtig und schön.
Nachtrag
„Wir haben manchmal die Gesundheit über die Menschlichkeit gestellt.“
Jean-François Delfraissy, ehemaliger Vorsitzender des jüngst aufgelösten „Conseil scientifique“ (französischer nationaler wissenschaftlicher Rat für die Notstandsregeln), sagte kürzlich, er bedauere „Vieles“. Er sagte wörtlich: „Wir haben manchmal die Gesundheit über die Menschlichkeit gestellt.“ So hätten einige Menschen (insbesondere in Seniorenheimen) den „Lebenswillen verloren“.
Es zeigt sich u.E. daran, dass der Widerstand der „gilets jaunes“, des „Konvoi für die Freiheit“, der Proteste der Angestellten im Gesundheitswesen und anderer vergleichbarer Aktionen, nicht ganz ohne Folgen blieben. Insofern hat der beharrliche französische Corona-Maßnahmen-Widerstand bereits ein Stück weit gesiegt.
Das „Klappe halten und Kuschen“ der Deutschen hat hingegen zur Folge, dass die Minister Lauterbach und Buschmann bereits jetzt den nächsten Corona-Winter mit Verboten, Testungen und Maskenpflicht vorbereiten und dafür eine „gesetzliche Grundlage für den Herbst“ vorbereiten.
Der Wald brennt. Die Oder stirbt. Die Felder um Berlin stinken. Windhosen legen gesunde Baumriesen nieder. „Klima-depressive“ Experten geben uns fünf, maximal zehn „gute Jahre“. Trotzdem setzt die Bundesregierung ihre ohnehin lächerlichen Klimaziele aus, um Krieg zu führen und den Waffenkonzernen 100 Milliarden € in den Allerwertesten zu blasen: Koks für unsere endgültig übergeschnappte Kultur. Die Aasgeier mit den Teuerungszulagen haben ganz klar gewonnen.
Elf Jahre
Abends, wenn nach Einbruch der Dunkelheit die Hitze langsam unter 30 Grad fällt, gehe ich zum Briefkasten. Hier auf dem Land sind das gute 500 Meter, denn die Kästen stehen nicht am Haus, sondern an der Bundesstrasse. Auf dem Weg durchquere ich das Vogelschutzgebiet, das bis an die Grenze der Wohnbebauung geht.
2011 bin ich ins UNESCO Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe gezogen, weil ich die Großstadt nach über dreissig Jahren im Zentrum von Berlin unerträglich fand. Der Umzug brachte Erleichterung, denn es war hier schön abgeschieden vom Wahnsinn der Metropole, schön ruhig – außer wenn gerade mal wieder ein Starfighter von Rostock her in 50 Meter Höhe über das Vogelschutzgebiet flog, um vor Monatsende das Kerosin zu verballern. Die Piloten, denen wir vom Hof aus ins Gesicht schauen können, wenden dazu ihre Maschinen über den im Kiefernwald auf der anderen Flußseite stehenden Atommüllbehältern von Gorleben und jagen zurück an die Ostseeküste. Zum Glück fallen die Dinger nicht mehr ständig vom Himmel, wie noch zu Franz-Josef Strauß´ Zeiten.
Bei uns am ehemaligen Todesstreifen, hinterm ehemaligen antifaschistischen Schutzwall jedenfalls sieht es oberflächlich betrachtet – derzeit noch – einigermaßen prima aus. Aber wer etwas genauer hinsieht, erkennt: nichts ist in Ordnung.
Traurige Tropen?
Ein Nachbar, aus Ostpreußen 1947 in die fast menschenleere Prignitz gekommen, sagte einmal über die Jahre vor der Wende: „Früher lebten wir am Arsch der Welt. Heute liegen wir im Herzen Europas.“ Es war 2011 kein besonderes Privileg, weitab der Hauptstadt ins äußerste West-Brandenburg zu ziehen, sondern die Entscheidung für den mit Abstand günstigsten Wohnort in Deutschland – vielleicht einmal von einem verschlafenen Tal in Thüringen abgesehen, in dem sich Massen von 88er Spassvögeln an der gleichnamigen (und somit „national befreiten“) Bundesstrasse zusammengerottet und damit heftig zum Preisverfall der Wohnimmobilien beigetragen hatten.
2011 sprangen mir auf dem Weg zum Briefkasten Frösche aller Größen vor den Füßen herum.
Bei einer nachbarschaftlich organisierten Hilfsaktion (Frösche über die Bundesstrasse tragen, damit sie nicht überfahren werden) wurden einmal 14.000 Tiere an einem langen Abend gezählt. Hunderte von schwarzen 10-Liter-Baueimern voll. Es gab hier sogar Laubfrösche, die bellend auf den Bäumen hockten und unser Lachen zu imitieren schienen, wenn wir draußen noch ein Bier tranken.
Zu den Fröschen kamen Teichmolche, Schwärzlinge der Ringelnatter, Kreuzottern. In Sichtweite gab es einen Seeadlerhorst. Überall lag Obst auf der Wiese, sogenanntes Streuobst und Insekten schwirrten, Vögel pickten, Nagetiere schmatzten in der Dämmerung. Der Besitzer von Ostmost, der in unserer Region die Zutaten für seine Säfte erntet, sagte einmal: „Streuobstwiesen sind der deutsche Regenwald“. Kein Wunder, dass sieben Bundesländer entschieden, die bevorzugte Lage zum Nationalen Naturmonument zu erheben, um es auf Generationen zu schützen.
Aber vor wem? Wer würde ernsthaft den nördlichsten Regenwald mit seinem Artenreichtum zerstören wollen?
Dürre
Nach drei feuchten Jahren und einem Jahrhunderthochwasser kam die Dürre. Mit der Dürre kamen Stürme. Zeitgleich oder im Zusammenhang damit – die Natur ist komplex und schwer durchschaubar – Eichenprozessionsspinner. Was nicht kahl gefressen wurde und abstarb, wurde vom Wind umgelegt.
Im Kampf gegen den Eichenprozessionsspinner wurde massiv das Biozid Dipel ES gespritzt, das bedeutet, es wurden toxische Organismen mit dem schönen Namen „Bacillus thuringiensis“, Thüringer Bazillen, in den Kreislauf eingebracht. Da Eichen auch am Deich stehen, wurden die vorgeschriebenen Abstandswerte unterschritten, die zu Gewässern eingehalten werden müssen. Trotz anderslautender Behauptungen in den Broschüren war eindeutig zu sehen: Insekten aller Art verschwanden, Bienenvölker mickerten plötzlich. Die Laubfrösche verschwanden. Sie sind sicher nicht direkt an der thüringer Bazille gestorben, aber ihr Futter war tot. Dürre förderte zudem Pilzerkrankungen. Tödlich für Frösche mit ihrer sensiblen Haut.
An dieser Stelle könnte man zynisch sagen: Etcetera pp. Wir sollten, wir könnten die Geschichte kennen.
Nicht nur kennen. Man kann den Wandel sehen und fühlen. Noch eine Hitzewelle, noch zwei Windhosen wie die in der vergangenen Woche, vielleicht noch fünf – und hier ist alles kahl, öde, staubig, leer.
Es ist die Realität hinter dem, was man oft nur abstrakt und daher noch schwer vorstellbar „Komplexität“ nennt: Folgen des industriellen Eingriffs in die Natur. Auf UNESCO-geschützten Flächen, wo der Naturschutzbehörde auf ihre Anzeige hin richterlich beschieden wird, der Einsatz von Glyphosat, mit dem der Bauer einige Maschinenstunden spart, weil sich toter Acker leichter pflügen lässt, sei „gute landwirtschaftliche Praxis“. Ein entsprechende Prozeß wurde „wegen Nichtigkeit“ niedergeschlagen. Auf UNESCO-geschützten Flächen wird auch mit Neonictinoiden gebeiztes Mais-Saatgut gepflanzt, weil die Forderung der Naturschutzbehörde, keine Gaskanonen zum Vergrämen der Vögel einzusetzen, im Ergebnis dazu führte, dass jetzt alle Mais pflanzen, weil die Vögel da nicht rangehen und weil man es hinterher schön in die Biogasanlage stecken kann, der mit Abstand ineffizientesten Maschine zum Herstellen von Energie.
Gift
Mehrere Tage lang interviewte ich im Jahr 2017 Randolf Menzel, einen der weltweit führenden Experten zum Thema Bienengehirn, denn ich wollte verstehen, woran die Bienen sterben. Auch hier war das Ergebnis: die Broschürenbehauptung, Neonicotinoid töte direkt keine Bienen, ist eingeschränkt richtig. Die Bienen erhalten beim Aufnehmen des Giftstaubes, von dem der Bauer Parkinson bekommt, einen Nervenschaden und finden ihren Weg nicht mehr. Sie sterben nicht an der Vergiftung, sondern verhungern wegen Desorientierung.
Die Parkison-Hirnschaden-Kombi stecken wir uns dann in den Tank, wodurch die Reichweite unserer – zumindest meines Autos um genau 5% abnimmt (E10 zu E5).
Erschreckender jedoch am Menzel-Interview war eine Anekdote, die ich heute, mit Blick auf die Oder-Katastrophe, noch einmal anders höre: als junger Mann hatte Menzel bei BASF hospitiert. Er bekam mit, dass die zuständigen Mitarbeiter der Wassergütemessstelle die „Kollegen“ beim Konzern anriefen, bevor das Boot ausfuhr. Dann wurden die Kanäle, durch die in den Rhein eingeleitet wurde, dicht gemacht. Alles floß in große Auffangbehälter für einige Tage. Die Werte im Fluß waren dann gut – bis das Boot vorbei war.
Menzel war entsetzt, dass alle das wußten, keiner etwas dagegen unternahm.
Zurück zur Dürre. Vor unseren Augen findet der Klimawandel statt. Aber das ist kein „Naturgesetz“.
Die Anzahl von Allee- und Auenwaldbäumen, die vor meiner Tür in den letzten acht Jahren verloren gegangen ist, benötigt ein massives Aufforstungsprogramm und 100 Jahre Zeit, um den Zustand von 2011 wieder zu erreichen. Unnötig zu sagen: ein Aufforstungsprogramm, das es natürlich nicht gibt.
Der Eindruck drängt sich mir auf, dass, je mehr kahlgefegte Flächen entstehen, der Sturm an Heftigkeit zunimmt.
Menzel sagte eine Zahl, die ich mir heute erst plastisch vorstellen kann: seit 1980 haben wir 80% der Biomasse verloren. Wo – um eine fiktive Zahl zu nennen – früher 1000 Kilo Grashüpfer, Hummeln, Schmetterlinge, Käfer, Schwebfliegen, Mücken auf einen Quadratkilometer vorkamen, sind es heute noch 200 Kilo. Das Beispiel mit der verklebten Winschutzscheibe in den 80ern ist bekannt. Heute ist alles schön sauber selbst nach langer Fahrt. Bald wird das Land insektenfrei sein.
Wen kratzt das? Können wir nicht künstlich bestäuben? Honig, wie Jean-Marc Reiser schon in den 80ern in einem seiner legendären Comics vorschlug, aus pürierten Nacktschnecken und Zucker herstellen? Die Kleinen, die keinen echten Honig kennen, schlabbern es weg!
Können sich die Bestände erholen, habe ich Menzel vor fünf Jahren gefragt. Ja, sagte er, das ist theoretisch denkbar, aber nicht für alle Arten. Viele sind zu schwer geschädigt, um wieder eine vitale Population aufbauen zu können. Und wer bitteschön, fragte nun Menzel zurück, würde denn ein sofortiges und vollständiges Verbot für alle Produkte mit Glyphosat- und Neonictonoid-ähnlicher Wirkung durchsetzen? Wollen wir dem Bauern seine Schadinsekten-bedingten Ausfälle bezahlen?
Also nein, keine Erholung möglich? Nein, antwortete Menzel.
Wir haben diese Bestände endgültig verloren.
UFO
Als ich gestern wieder einmal im Dunkeln zum Briefkasten wanderte, war ein UFO gelandet: taghell leuchtete es von der anderen Seite der Bundesstrasse. Mitten im Vogelschutzgebiet ist es gelandet. 200 Meter Kantenlänge, rundum in schneeweiße Folie gekleidet, wohl 10 oder 12 Meter hoch, mitten in der Nacht taghell beleuchtet, so dass man es vom Orbit aus lokalisieren könnte. Das UFO ist der neue Stall des lokalen Energiebauern. Energiebauern pflanzen Energiepflanzen auf Flächen, die besser der Herstellung von Nahrungsmitteln dienen sollten. Energiebauern nennt man Unternehmer, die ihre Kühe im Wesentlichen zum Scheißen benötigen. Um mit dem Kot eine (politisch wie funktional) aufgeblähte Energieanlage zu füttern. Deren Energie zu 60% im Prozeß verloren geht.
60%? Ist das nicht mehr als die Hälfte? Ich muss mal meinen alten Mathematiklehrer anrufen. Der kann noch Kopfrechnen.
Weil das Ganze so wahnsinnig wenig lohnt, schüttet die Regierung dafür Fördermittel in Quantitäten aus und behauptet (wo bleibt der Fakten-Check?), die Sache sei so grün wie die geschwollenen Dächer der Gärbehälter. Dunkelgrün. Die Farbe der Stunde. Fast schon schwarz.
Das UFO zumindest leuchtet schön knallhell. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die mühselig erzeugte Energie, die ohnehin verlustfrei nur ein paar Kilometer weit zu transportieren ist, hier gleich an Ort und Stelle komplett vernichtet wird, bevor sie ganz verloren geht.
Meine Beschreibung hört sich so an, als wäre ich „pro“ Kernenergie. Nein. Aber deswegen ist Maisvergärung trotzdem kein Ausweg aus der Klimakrise. Es ist eben etwas komplexer.
Übrigens: die Störche kommen nicht mehr. Hier, in Deutschlands „Storchenland“ waren sie mal ein bedeutender „Tourismusfaktor“.
Warum kommen die Adebare nicht? Wissen die etwa, dass die Frösche tot sind?
Nein. Auch das ist etwas komplexer.
Der Energiebauer hat – sagen wir – 1000 Tiere im Stall stehen. Sogenannte Großvieheinheiten. Es gibt auch größere Anlagen. Drum herum hat er tausende Hektar Land, die er als Nachweisfläche benötigt gegenüber Ministerium und EU. Tiere dürfen da nicht frei drauf laufen. Sie stehen im UFO. Ein autonomer Roboter schiebt ihre Kacke zusammen. Dann kommt sie entweder in den Gärbehälter oder direkt raus aufs Feld. „Mama es stinkt, wir sind zu Hause“ war mal ein erfolgreicher, viral gehender Film, der diesen Zusammenhang treffend-ironisch erläuterte.
Die Gärreste werden im Feld ausgebracht und untergeackert. Nicht immer sofort, wie es der Gesetzgeber gern sähe. Da ist dem Energiebauern, der übrigens rein aus Kostengründen hauptsächlich Bulgaren beschäftigt, wohl etwas anderes dazwischengekommen. Gärreste stinken besonders stark. Am meisten stinken sie, wenn sie das ganze Wochenende lang in der glühenden Sonne gelegen haben.
Stört das etwa die Störche und bleiben sie deswegen weg? Weil sie sich bei der Futtersuche nicht die Füße schmutzig machen wollen? Nein, nicht ganz genau. Aber so ähnlich.
Seuchen
1000 Tiere in einem Stall – da gibt es erhebliche Infektionslast. Erhebliche Ansteckungsgefahr. Erhebliche Krankheiten.
Irgendwo hat doch jeder von uns schon mal gelesen, dass in gewissen ländlichen Regionen in den Arztpraxen die Bauern und Bauernkinder in einem von den übrigen Bewohnern getrennten Warteraum sitzen müssen? Oder? Nie gehört? Nie gefragt, warum wohl?
In der Massentierhaltung jedenfalls werden wegen der ganzen Seuchen alle Tiere prophylaktisch medikamentiert. Immer rein mit dem Gift. Wurmkur.
Würmer sind Parasiten und woran sie sterben, sterben auch Insekten.
Wenn ihre Scheiße, die man Gülle nennt, wenn sie mit Wasser versetzt zum Sprühen aufbereitet ist, aufs Feld rausbringt, ist sie pharmakologisch verseucht.
Früher waren große Rinderherden die bevorzugten Verweilplätze für Storche. Wenn die Kuh auf die Wiese kackte, kamen Fliegen und legten ihre Eier, Käfer kamen und zersetzen die Fladen und die Wiese wurde gedüngt und wuchs prächtig und die Storche hatten unendlich viel Futter (Biomasse) für die Aufzucht der Brut. Die „Grützköpfe“ (Jungstörche) essen nämlich zunächst gar keine Frösche.
Heute tötet die Gülle alle Insekten und unter dem Giftbrühe verbrennt das Gras, denn der verdünnte Kot wird nun nicht mehr biologisch abgebaut und erstickt die Wiese.
Wenn ich hier auf dem Land das Wort „Gülle“ öffentlich in den Mund nehme, ruft mich die zuständige Vertreterin der Bauernschaft auf meinem Handy an und sagt mir, ich solle mal die Füsse stillhalten. Sie fragt allen Ernstes, warum wir Städter eigentlich aufs Land ziehen? Um uns zu beschweren, dass es dort stinkt? Die gute Frau scheint den Unterschied zwischen dem Geruch von Mist und Gülle nicht zu kennen.
Im Gegenzug wäre eher zu fragen, warum eigentlich Menschen, die ihr Einkommen aus und mit der Natur verdienen, mit solcher Todesverachtung gegen alles Lebendige vorgehen? Mit solcher Ignoranz. Wer einmal einige Stunden, ja Tage lang Traktoren beoabachtet, die mit Vollgas von der Strasse aus ins Feld brettern und in hohem Bogen Jauche versprühen, der versteht, was ich mit „Haß auf die Scholle“ meine.
Aber vielleicht ist der Energiebauer in der klimatisierten, schallisolierten, vollvernetzten Kabine seines Traktors, die er den ganzen Tag nicht verlässt, dermaßen von seiner Umwelt entkoppelt, dass ihm alles „da draußen“ wie eine Videolandschaft vorkommt, die es einkommensgerecht zu verändern, letztlich zu besiegen gilt. So wäre der bäuerliche Krieg gegen die Natur eine mit Chemiewaffen geführte Folge seiner Depravation, eine Art Kabinen-Koller.
Soll ich noch weitererzählen?
Na gut, einen noch.
Drone
Viel Geld verdient der Bauer mit Flächennachweisen. Mit Subventionen für Flächen. Die Flächen werden von einer staatlichen Drone ausgemessen. Kurz bevor die Drone fliegt und die Zuwendungen errechnet werden, fährt der Bauer mit dem Gestrüppmähbalken und häckselt den ohnehin kärglichen Feldrain-Bewuchs ab. Metzelt alle Vogelnester nieder. Wohlgemerkt: im Vogelschutzgebiet des UNESCO-Biosphärenreservates.
Der Bauer ist ein „rechtlich privelegierter“ Unternehmer, mit Sonderbaurechten in Schutzzonen, Sonderweiderechten und der Erlaubnis, die Wiese mit den Bodenbrütern Ende Mai, also während der Nistzeit, abzusemmeln und hinterher mit einem Riesensauger, der passenderweise „Gama Super Claas Jaguar Feldhäcksler“ heisst, die zerhackten Tierchen zusammen mit der Wiese einzusaugen. Eigentlich darf er erst nach der Lerchenbrutzeit mähen, aber, Sie wissen schon, da ist das Wetter schlechter oder etwas anderes liegt an und wenn einer herginge und sich beschwerte, weil er Lerchenschützer ist, greift wieder die Nichtigkeit.
Überhaupt, fahren Sie in ihrem Auto etwa Sprit, der zu 10% mit Lerchen versetzt ist?
Man muss auch mal die Kirche im Dorf lassen.
Und der Jaguar fährt.
Millionen Tote?
Na gut, einen letzten noch. Aber der hat nichts, rein gar nichts mit Industrieller Landwirtschaft zu tun. Deswegen hat den Zusammenhang seit Simone Weils Zeiten auch niemand untersucht.
Im Jahr Null ante Corona gab es einen kurzzeitig vielbeachteten und heute wahrscheinlich schon wieder vergessenen Artikel, den ich aus diesem Grund gern in Erinnerung rufen möchte.
Aber der gute Nachgeschmack verging schnell und so musste ich es heute noch einmal erzählen und zwar:
Angesichts der Oder-Katastrophe.
Angesichts zunehmender Waldbrände.
Angesichts steigender Zahlen von multiplen Infektionkrankheiten.
Angesichts der Diffamierung von Naturschützern als „Extremisten„.
Angesichts der Wiederzulassung von Glyphosat unter anderem Markennamen.
Angesichts der signifikanten Störungen der Darmflora durch viszeralem Botulismus in glyhosatverseuchten Gebieten, sprich überall auf dem Lande, wo sich im Brunnenwasser eine Gülle-induzierte Keimlast von 10 hoch n über dem Grenzwert nachweisen lässt.
Angesichts der Neubestimmung der letalen Dosen für Honigbiene und Mensch.
Weitermachen
Eigentlich müsste – erstmals seit 50 Jahren – ein Dichter wegen unhaltbarer Behauptungen ein Gedicht zurücknehmen. Wenn er noch leben würde, sollte Rolf Dieter Brinkmann zumindest teilweise widerrufen, was er in „Westwärts“ schrieb.
Richtig ist: Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Preise machen weiter.
Falsch aber ist Brinkmanns Zeile: die Tiere und Bäume machen weiter.
Deswegen schien mir Hannas Titel „Polyfone Gefüge“ wie auf den Geist der Weilschen Notate zugeschnitten, weswegen ich dieses vielstimmige, kenntnisreiche Werk hier erwähne. Selten habe ich einen so universellen, so umfassend interessiert geschriebenen Text gelesen. Selten so wenig verstanden, trotz wiederholtem Lesen. Simone Weil ist um Potenzen intelligenter, komplexer, zweifelnder, suchender, als die meisten vergleichbaren philosophisch-politischen Autoren des 20. Jahrhunderts.
Aber die Parallelen zum polyfonen Gefüge von Hanna Mittelstädt gehen weit über den Titel hinaus.
Weil schreibt (ca. 1933): „Unbedingt notwendig: Studium (besonders historisches) der landwirtschaftlichen Technik (ist das Ersetzen der Pferde durch Traktoren etwas anderes als Politik? Düngemittel, Geräte…) Herausfinden, ob die ultramoderne landwirtschaftliche Technik nicht den Boden auslaugt? Auch die Frage der Kunstdünger untersuchen.“ (Cahiers Bd. 1, S. 130)
Bei Mittelstädt heisst es in der Passage über die Reise nach Aragon: „Auch hier soziale Konflikte, ausgelöst durch die EU-normierten Fortschrittsideen (Energieproduktion von Konzernen, Warenversorgung durch die globalen Ketten, Fleischindustrie, industrielle Landwirtschaft). … Der Osten Aragons war in den Jahren 1936/37 Schauplatz eines großartigen Experiments. Hunderte Dörfer nahmen nach dem Putsch des Militärs gegen die Republik ihre Geschicke selbst in die Hand. Über nahezu anderthalb Jahre organisierte sich die Landbevölkerung kollektiv und föderativ, schaffte vielerorts das Geld ab.“
Bei Weil, die 1936 in der Brigade Durrutis am Ebro (an den Osten Aragoniens anschließend) kämpfte, schlägt sich die Frage des Geldes unter dem lebhaften Eindruck des spanischen Bürgerkrieges in folgenden Zeilen nieder:
„Die Ablösung des Industriezeitalters durch das Finanzzeitalter besteht hauptsächlich darin, dass der entscheidende Faktor für das Wachstum des Unternehmens nicht mehr die Kapitalisierung des Profits ist, sondern der Zugriff auf neues Kapital – daher die Zerstörung all dessen, was im Kapitalismus eine gut organisierte Produktion begünstigte. Das hat den Parasitismus entwickelt welcher seinerseits…
Zu erledigen: Liste der Unternehmen aufstellen. Indochinesische Broschüren. …
Zu untersuchen: Geschichte des Austausches zwischen Stadt und Land im technischen Sinne,… (im Manuskript folgen drei Seiten mit mathematischen Notizen: Kombinationen und Permutationen).“
Fast hundert Jahre alt, diese Gedanken – und noch so frisch, richtig und unbearbeitet, als wären sie nach der Finanz-, Staatschulden und Wirtschaftskrise des frühen 21. Jahrhunderts gedacht worden.
Offenbar sind mehr Analysen nötig, genauere Untersuchungen.
Vor allem: Unnachgiebigkeit. Festhalten am einmal Erkannten.
Wir müssen nicht fordern. Wir müssen handeln.
Beim Lesen von Hannas Text denke ich an die katalanische Organisation CIC, Cooperativa Integral Catalana : an ihre Programme zur Neuaneignung von Technologien für einen libertären Kommunalismus = XCTIT (Xarxa de Ciencia, Tècnica i Tecnologia), an ihre Bemühungen um Selbstverwaltung, Selbstversorgung, Selbstbefreiung, an ihren gelebten Ausstieg aus dem kapitalistischen Markt und ich denke daran, dass ihr Mitgründer Enric Duran als Terrorist verfolgt wurde von der spanischen Justiz unter dem Regime der Partida Popular, die sich als Christdemokraten verstanden wissen wollen, aber die unmittelbare Nachfolge der ultrarechten Falange sind, deren Geschichte und Rolle im spanischen Bürgerkrieg per Gesetz bis heute nicht aufgearbeitet werden darf.
Kreise, die sich schließen. 1929. 1936. 2008. 2020.
Wo stehen wir Westeuröpäer heute, 2022?
Wir alle haben knapp zwei Jahre lang unerwartet, unfreiwillig und die meisten von uns in jeder Hinsicht schuldlos, unter der Einwirkung einer neuen Qualität von Repression leben müssen. Diese Phase ist längst nicht abgeschlossen.
Cliquen, die davon profitieren, haben Kernenergie zur ökologischen Technologie für Europa erklärt. Minireaktoren sind die allfällige Lösung für unseren Energiebedarf und unser Klimaproblem, sagen uns Cliquen, die davon profitieren.
Vorausschauend arbeitende Cliquen, die davon profitieren, beständig ihr Ohr an den Arsch der Weltforen für Zukunftspolitik zu pressen und die lustvoll auf der dem „peak of inflated expectations“ des Gartner Hype Cycle surfen, haben in Europa seit 2019 – Corona war bei den Meisten von uns nicht einmal „am Horizont“ – zwanzig neue Rechenzentren errichtet, jedes mit einem Energieverbrauch des Metropolraumes von Paris, sprich so viel, wie 12,5 Millionen Menschen in einer durchweg beleuchteten Großstadtzone benötigen. All das weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit.
Die Rechenzentren wurden und werden gebraucht, um uns onlineversorgt zu Hause zu halten. Fressen auf Rädern. Distanzschule. Enthirnte Medien auf seelischem Entwurzelungskurs. Staatliche Brigaden des gleichgeschalteten Denkens. Der New Screen Deal. Turboschneller Finanzkapitalismus mit spekulativem Wohnungsmarkt. Digitalisierte Landwirtschaft. Mobilität mit 5G. KI-mässige Sichtung und Vergatterung der gesamten Bevölkerung.
Potenzen auch hier: unser Alltag heute liegt weit jenseits all dessen, was David Cronenberg 1983 am zynischen Beispiel der Kathodenstrahlmission (Videodrome) für maximale Dystopie hielt.
Wir haben – einige kurze Jahre erst – unter dem körperlichen Einfluss struktureller Gewalt gelebt. Wir sind aus dieser Phase längst nicht heraus, denn ein Zurück zur schon damals grundverkehrten Normalität von zuvor wird es nicht geben. Und vorn voraus sind die Weiselzellen des Kapitals, die wir versorgen sollen, schon fertig gebaut. Wir willige Arbeitsbienen füttern, wir züchten die Königin.
Die Gewalt des uns übergestülpten Zusammenhangs ist uns ins Blut übergegangen und hat sich dort bis zur Unkenntlichkeit verdünnt.
Wir leben unser kleines Glück als schäbige Abbilder eines Plattformreichtums und seiner Ideale, die sich in Recheneinheiten ausdrücken, deren kleinste vorstellbare Größe neun Nullen hinter der Wertzahl aufweist. 2022 gibt es weltweit 2.668 Milliardäre. Wir fahren in Elektroautos von einem davon. Wir kaufen alles ein in dem Onlineunternehmen eines Weiteren. Wir benutzen die Rechner eines Dritten. Alle sie sind Wortführer in der zuvor erwähnten Repressionsphase gewesen, haben Impfstoffe hergestellt, gigantische Automobilwerke errichtet, noch gigantischere Rechenzentren gebaut. Sie haben, während Millonen Menschen Pleite gingen (in Deutschland derzeit 13,8 Millionen an und unter der Armutsgrenze), hunderte Millarden zugelegt. Wir saßen zuhause und haben uns in die Welt gezoomt. Einen digitalen Apero zusammen getrunken und ansonsten ziemlich viele Beziehungen abgebrochen.
Denn der Gefühlsstau, den wir erlebten, weil unsere (sozialen) Grundbedürfnisse so lange unbefriedigt blieben, hat sich in Polarisierung und Haß ein Ventil geschaffen. Der Haß hat unsergleichen getroffen. Nicht die Cliquen, die davon profitieren. Eigenartige Unterwerfung unter den Sieger. Perverse Algebra der Gewinner.
Wir rechnen ständig mit Unbekannten. Doch die Mehrzahl der Zeitgenossen hat vergessen, dass „Algebra“ „das Zusammenfügen gebrochener Teile“ bedeutet. Weil wir angstvoll mit Unbekannten rechnen, haben wir uns das Zerbrechen zu unserer Eigenart gemacht.
Wie heilsam, wie klug liest sich in dieser Zeit der Auflösung, angesichts der gefühlten Kapitulation der Mehrheit, ein widerständiger Text wie „Polyfones Gefüge“. Wie vielversprechend die Routenangabe klingt: „Richtung Auswilderung“.
Der Text auf dem Beitragsbild bedeutet: 1. Knopf: „Meine dritte Dosis nehmen“ 2. Knopf „Erkennen, dass man mich für bescheuert hält“; darunter „Aufwachen/nicht aufwachen“
Heute erscheint in DIE AKTION Teil 2 des Textes „Die Entfremder“ von Rudolph Bauer. Seine in Teil 1 bei Karl Marx begonnene Untersuchung der diversen Industriellen Revolutionen der vergangenen knapp zwei Jahrhunderte kommt damit beim Transhumanismus an.
Der Begriff ist seit Kurzem wieder im Schwang, nachdem er bereits Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine Renaissance erlebt hatte.
Er geht auf den britischen Verhaltensforscher, Biologen und Eugeniker Julian Huxley zurück: „Die menschliche Spezies kann, wenn sie es möchte, über sich selbst hinauswachsen – nicht nur sporadisch, ein Einzelner mal so, ein anderer mal so, sondern als Ganzes, als Menschheit.“
Ich muss bekennen, dass ich anfangs, als ich etwa 1995 das erste Mal von dieser neuen „philosophischen“ Richtung Kenntnis erhielt, das Ganze für einen schlechten Science-Fiction-Witz hielt.
Das mag auch daran gelegen haben, dass die technischen Möglichkeiten, die seither entstanden sind, insbesondere die genetische Therapie, damals noch so weit außerhalb des mir vorstellbar Möglichen lagen, dass ich es für reine Spinnerei hielt, für einen feuchten Traum alternder weißer Männer, die sich verewigen wollten.
Ich will das am Beispiel von „Silicon Man“, eines für kurze Zeit recht erfolgreichen Romans von Charles Platt, deutlich machen. Platt hatte etwas später als Philip K. Dick in den frühen 60er Jahren begonnen, Texte zu veröffentlichen, die sich lasen, als sei Dick auf einem seiner zahllosen, autodestruktiven Drogentrips endgültig hängen geblieben. Platts dystopische Schundliteratur schreckte auch vor Porno nicht zurück. Man bekam den Einruck, ihm sei alles recht, wenn es darum ginge, Tabus zu brechen. Ich brauchte eine Weile, um zu kapieren, wie ernst Platt all dieses Zeug meinte. Ich hatte bis dato noch nie das Wort „Cryonics“ gehört , nichts von der gemeinnützigen Gesellschaft Alcor Life Extension Foundation oder dem Cryonics Institute. Aber als ich verstand, dass es darum ging, lebende Menschen in Edelstahltuben tiefzukühlen, um sie eines Tages in einer Zukunft, in der Gentherapie möglich sei, wieder aufzutauen und unsterblich zu machen, trug dies nicht gerade dazu bei, den Ersteindruck des schlechten Witzes zu mildern. Platt ist ein Kryoniker, der mit „Silicon Man“ 1991 eine Art Neues Testament des Transhumanismus verfasste.
Heute, nur drei Jahrzehnte später, hat sich etwa die Hälfte der Menschheit bereits freiwillig einer Gen-Therapie unterzogen. 11,4 Millarden Dosen wurden verspritzt.
Aus der quasireligiösen Idee einer an sich selbst angewendeten Biopolitik mit Life-Extension-Garantie ist jetzt ein weltwirtschaftliches Modell geworden: der pharmakologische Transhumanismus (siehe meinen Text über das zwiegesichtige Pharmakon), der den Umbau der Körper notwendig macht, weil dem Besitz an den Produktionsmitteln (durch Ausbeutung des Körperäusseren der entfremdet Arbeitenden) jetzt die Ausbeutung des Körperinnern nachfolgt, inklusive der Patentrechte an den genetischen Veränderungen im Körper des Kunden. Denn Kunden, willige Klientel für die Investitionen der großen „Entfremder“, sollen wir alle werden.
Wie gesagt: Eine fixe Idee von weißen Elitemenschen für weiße Elitemenschen.
Dieses traurige Kapitel kapitalistischer Selbstverwirklichung ist leider sehr ernst zu nehmen – und geht einher mit einer Verteufelung aller anderen Formen von Leben, Ansichten, Naturbezügen, Heilung.
Selbst das eigentlich zu Neutralität und Objektivität verpflichtete Wikipedia wirbt unverhohlen (und von keinerlei Mediatoren zensiert) für die Deutsche Gesellschaft für Angewandte Biostase und den „Neustart des Lebens“ durch Hochtechnologie, so wie es der (nicht anders als wahnsinnig zu nennende) Vater der „Aussicht auf Unsterblichkeit“, Robert Ettinger, einmal formulierte.
Neustart? Wem kommt das bekannt vor?
Ettinger hat die ganze Angelegenheit auf die kürzeste denkbare Formel gebracht: „Man Into Superman“ (so der Titel seines Buches von 1972)
Wo stehen wir also angesichts solch delirierender Gedanken?
„Am Abgrund“, wie es der Schriftsteller Jaime Semprun in seinem gleichnamigen Buch bereits 1997 befürchtete: „Um uns zu beruhigen, erklärt man uns, dass der Mensch erst dank der Technologie menschlich geworden ist und dass er mit seinen Kernkraftwerken, seinen Rechnern, seinen genetischen Manipulationen einfach das Projekt seiner Vermenschlichung fortsetzt.“ Der „Diskurs der Apologeten der unendlichen technischen Entwicklung“ (Semprun) treibt uns sukzessive über den Rand hinaus. Alle wesentlichen, das humanistische Projekt kennzeichnenden Trennungen, Ideale und Einsichten werden dabei aufgehoben.
„Wenn es ein Wort gibt, das die laufenden technologischen Veränderungen beschreibt, dann ist es zweifellos das Adjektiv dual. Die Unterscheidung zwischen zivil und militärisch ist nicht neu. Neu ist allenfalls die Tatsache, dass sie nun für alles gilt. Die Digital- und Gentechnologien sind in dieser Hinsicht am sinnbildlichsten. Es ist nur allzu gut bekannt, dass jede auf den Markt gebrachte Telematik-Innovation – Internet, virtuelle und erweiterte Realität, GPS, 5G, Drohnen, Quantencomputer, Kryptografie usw. – in Militärlabors geboren und auf Kriegsschauplätzen getestet wurde. … Wenn aber die Wirtschaft, angetrieben von immer größeren und unkontrollierbareren technisch-industriellen Mitteln beginnt, einen Krieg gegen den Menschen als solchen (und gegen alles Lebendige) zu führen, hat ihre totale Mobilisierung zwei Begleiterscheinungen: Immer mehr Menschen werden in den Keller getrieben, und: die ‘unterirdischen Methoden’ dringen an die Oberfläche. Die gemütliche Stube wird dabei immer wichtiger, nimmt eine immer größere Bedeutung an. Aber je höher der Turm der Übermenschen wächst, desto mehr dehnen sich auch seine Fundamente und Keller aus. Die Verhältnisse dort oben und hier unten repräsentieren Welten, die nicht einmal zeitgenössisch zu sein scheinen; die oberen Postmenschen der techno-finanziellen Herrschaft, die sich buchstäblich als Teil einer anderen Spezies fühlen, entwickeln aus ihrem Klassenbewusstsein immer allmächtigere Pläne zur Manipulation der Welt, der Natur, der hier unten Lebenden, über die sie herrschen.“
Lesen Sie heute in DIE AKTION, wie Rudolph Bauer diese Ideologie ganz aktuell bei Klaus Schwab und dem WEF wieder findet – und sie mit dem begrifflichen und theoretischen Inventar von Karl Marx analysiert.
Rudolph Bauer präzisiert seinen Marx-Bezug in einer Email zum Erscheinen seines Essays heute noch einmal wie folgt:
„Keine Sorge: Die Wiederentdeckung des „Unvollendeten“ (Jürgen Neffe über Marx) beschränkt sich nicht auf das Abspulen von linkem Vokabular. Sie beinhaltet eine Kritik an überlebten sozialistischen Dogmen. Sie zeigt auf, dass Entfremdung heute im Rahmen der Pandemie-Maßnahmen auf neuer Stufenleiter eingeübt wird und gesamtgesellschaftliche Dimensionen angenommen hat. Sie interpretiert die Gegenwart – einschließlich des Krieges in der Ukraine – als Folge des kapitalistischen Verwertungs- und Krisenzyklus. Sie verbindet den handlungstheoretischen mit dem strukturtheoretischen Erklärungsansatz und zeigt auf, dass es zum angemessenen Verständnis der Verhältnisse keiner verschwörungstheoretischen Interpretationen bedarf. Angesichts der Verschlafenheit der Vermeintlichlinken und der Staatsbesoffenheit Lockdown-süchtiger Zero-Covid-Renegaten reaktiviert der Text Marx als Vordenker eines Weges der Rebellion, als Alternative zum transhumanen Abgrund.“
Nachdem Phase I des Umbaus hinter uns liegt, die weiße Weltbevölkerung mehrheitlich mit Biotech-Produkten durchgeimpft ist und Gen-Modifikation nur noch bei Gurken und Tomaten kritisch gesehen wird, seit die KI dank Zoom in Gesichts- und Spracherkennung einen Sprung nach vorn geschafft hat, seit die Kontaktverfolgungs-App tracking als allgemein wünschenswert erscheinen lässt, seit die ins Bewusstsein gestanzte Infektionsgefahr das kontaklose Bezahlen als ersten Schritt zum Verschwinden des Bargeldes (schmutzig! verseucht!) etabliert hat, lesen sich die Pamphlete der großen Think-Tanker noch einmal ganz anders als vor COVID.
Dieser Entdeckung geht Rudolph Bauer in seinem Text „Die Entfremder“ nach. Er betrachtet die Gegenwart durch die Augen von Karl Marx, dessen zentrale Begriffe er im ersten Teil seines Essays, der heute in DIE AKTION erscheint, in Erinnerung ruft. Der zweite Teil erscheint in Kürze.
Dabei zielt der Soziologe Bauer auf die Frage, wie die Welt von morgen aussehen wird? Werden wir „im Erdzeitalter des Kapitals“ unter einer dunklen Sonne leben?
Elmar Altvater ging schon 2014 dieser Frage nach: „Die gesellschaftliche Gestaltung des Naturverhältnisses erfordert … Eingriffe in planetarischer Größenordnung. Damit schlägt die Stunde des Geoengineering. Nun muss die westliche Zivilisation Reparaturkolonnen und Taskforces zusammenstellen und an allen möglichen Fronten einsetzen: im Kampf gegen den Klimawandel, den Verlust der Artenvielfalt, die Verunreinigung von Biotopen; gegen die Unwirtlichkeit der Städte, gegen die Auswirkungen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise oder auch zum systematischen Abfangen von Daten, mit deren Kontrolle das globale Herrschaftssystem stabilisiert werden soll.“ Und mit Bezug auf einen Begriff, den Jason W. Moore in die Debatte eingebracht hat, konzediert er: „Im Kapitalozän sind die wichtigsten Gestaltungskräfte große Konzerne, Medienmogule, global operierende Finanzinstitute und Geheimdienste, die reguliert, kontrolliert und gegebenenfalls neutralisiert werden müssen, um die negativen Wirkungen der völlig rationalen Externalisierung auf die Erdsysteme zu unterbinden. Das verlangt nach Politik, und zwar auf globaler Ebene, gegen die Bewegungsgesetze, die Sachzwänge des Kapitals.“
Aber eine globale Task Force, wie auch ein Klaus Schwab sie schon vor Corona vorschlug, macht wenig Mut.
Denn „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“, so Albert Einstein.
Aber wo kämen die von Altvater geforderten Politiker her, die es wagen würden, gegen die Sachzwänge des Kapitals zu verstoßen?
Während deswegen zur Desertion aus dem falschen System aufgefordert wird (siehe Franco Bifo Berardi ) und schon seit einer Weile rundum tödliche Psychosen zum Ausbruch kommen (Mann tötet Frau und 3 Kinder, weil sein Geschäft mit gefälschten Impfpässen aufflog ) und obwohl man sich in der kritischen Linken allgemein einig ist, dass man etwas unternehmen muss gegen das „tödliche Kollektiv von Nationalismus, Krieg und Kapitalismus“ (Charles Reeve ), wagt sich dennoch kaum jemand an die Frage: wer wird denn den Alltag von morgen gestalten? Die Risikokapitalanleger, die auf den Schaumkronen des Gardner Hype Cycle surfen? Die Ranking-Agenturen, die das Barometer für das kapitale Wetter einstellen? Die uns versprechen, mit der Missachtung des Einsteinschen Diktums jedes Problem zu „fixen“?
Wollen wir wortlos, tatenlos warten, bis Phase IV beginnt? Oder kommen neue tragfähige Ideen „von unten“, von uns allen, die wir nicht zum Objekt spekulativer Begierden werden wollen? Und – wenn wir hierauf hoffentlich „ja“ antworten: wie machen wir das? Die Debatte hierzu wollen wir mit den kommenden Beiträgen in DIE AKTION weiter führen.
Einen Einstieg in die Diskussion liefert der zweiteilige Beitrag von Rudolph Bauer. Es folgen dann die zuvor erwähnten Beiträge von Reeve und Berardi – alle als deutschsprachige Erstveröffentlichungen.
Mentrups Stegreim-Extasen sind das beste Mittel gegen die – im Sinne des gefährlichen „creep“ – weiter sich einschleichende Agonie, die zwei Jahre lang die Gangart bestimmte. Mancher mag das geschmacklos finden. Humor ist eben keine Frage des Geschmacks. Sondern eine der Haltung. Mentrup fackelt nicht lange. Er springt einen gleich an: eine Technik, die er sich wohl bei Herbert Achternbuschs Meisterwerk „Bierkampf“ abgeschaut hat.
Mentrup, Mann der klaren Worte, hatte schon einige Tage vor seinem Song über die „Kinder des Spektakels“ ein Email herumgesendet, das den schönen Titel trug „Warum haben sich so viele die FFP2 Masken ins Gesicht tackern lassen?, ja- ich weiss, es sind vermehrt GRÜNNINEN und andere BeklopptInnen, aber“.
In der Mail empfahl er wärmstens Gabriel Azaïs Text „Die Erfindung eines dystopischen Momentums„, der auf dem immer unverzichtbarer werdenden noBlog der klugen anonymen autonomen kollektiven Autoren von sunzibingfa erschienen war. Der Empfehlung möchten wir uns anschließen.
Denn es lohnt, sich in Gedanken wie die folgenden hineinzudenken, um sich künftig aus der Agonie herausdenken zu können:
Die Fiktion ist im Grunde nicht a priori das Problem (der Mensch trinkt ständig von ihr). Sie wird zu einem Problem, wenn sie zu einer Form der allgemeinen Verfälschung neigt (eine Umkehrung, die Debord bereits in den 1960er Jahren mit seinem Konzept des Spektakels theoretisiert hatte).
Sie ist es umso mehr, wenn sie dazu neigt, Angst und Bedrohung zu vermitteln. Das ist die Sicherheitsfiktion, von der wir uns heute so schwer trennen können (die man hier auch als Dystopie bezeichnen könnte).
Diese Fiktion begünstigt die Lüge, oder besser gesagt – als ob sie keine eigene Geschichte mehr hätte – sie verschleiert ihre Gründe, ihre tiefere Logik. Sie verschleiert ihren Ursprung. So scheinen die Lügen aus dem Nichts zu kommen, sie sprudeln förmlich aus ihm heraus, ohne Worte zu benutzen.
Die logischen Verkettungen im Spektakel – und noch mehr in der Sicherheitsfiktion, die wir erleben – scheinen zerbrochen.
Lügen untermauern nicht mehr die klassischen Muster der Unterdrückung. Es erscheint daher komplexer, sich ihnen zu widersetzen. Wir spüren jedoch, dass etwas nicht stimmt, dass etwas ins Wanken geraten ist, ohne es in Worte fassen zu können. Diese neue Welt verlangt von uns sogar eine subtile, schmerzlose Kooperation, und das ist das Besondere an ihr: Die Lüge ist die Bequemlichkeit und Sicherheit, die uns als Endwerte auf Kosten aller anderen Werte angeboten werden.
Aber was bedeutet diese Sicherheit, für die wir bereit sind, alles zu opfern?
Wenn sie zunächst eine unerfüllbare Fantasie ist, wenn sie vor allem eine Illusion ist, dann ist sie zweifellos auch ein Ideal der Sicherheit.
Sie haben die Wahl: ein Paradies, panoptisch, schmerzlos, oder die virtuelle Hölle dieser Sicherheitsfiktion.
Das „Buch der Lüste“, ein Hauptwerk des großen Theoretikers und maßgeblichen Mitgliedes der Situationistischen Internationale, Raoul Vaneigem erscheint nach 40 Jahren im April 2022 wieder: bei Verlag Edition AV – eine Botschaft des Lebens aus der vom Kapitalismus wohl klimatisierten Vorhalle des Todes.
Wir veröffentlichen dazu heute in DIE AKTION Vaneigems engagiertes Vorwort vom Januar 2022, „Zurück zum Leben„, sowie einen einleitenden Text von Hanna Mittelstädt aus dem Februar dieses Jahres.
Bei jeder Gelegenheit wird von uns verlangt, unterwürfig zu sein und einer mechanistischen Wirtschaft zu gehorchen, die durch die Ware regiert. Wir stimmen zu, uns an manipulierte Objekte zu gewöhnen, daran, am Arbeitsmarkt verkauft zu werden, entsprechend den Kriterien von Verkaufbarkeit, Wettbewerb, Wettbewerbsfähigkeit, Austausch, Preis, spektakulärer Verpackung. Gegen dieses ökonomisierte Leben, das uns zugleich physisch und psychisch konditioniert, versuche ich, die Langeweile der Routine, und die Wahlmöglichkeiten, vor die ich jede Minute gestellt werde, zu durchbrechen – in einem Labyrinth der Möglichkeiten, das sich entsprechend meiner eigenen Disposition und den Gesetzen der dominanten Welt öffnet oder schliesst.
R.V. im Interview mit Le Monde 2003
Hanna Mittelstädt. Von einem Glück zum anderen
Plaisir: Vergnügen, Freude, Spaß, Lust, Genuss, Begierde, Lebenslust, Liebeslust, Lustbarkeit, Fest, Tafelfreuden, Belieben. Und zwar im Plural. Le Livre des plaisirs haben wir 1984 mit „Das Buch der Lüste“ übersetzt. Das schien uns dem Wunsch des Autors am nächsten zu kommen. Das Buch wurde im französischen Original 1979 veröffentlicht. Es atmet noch den großen Aufstand von 1968 aus, die Lust auf das Ende der Arbeit, des Zwangs, des Tausches, der Intellektualität, des Schuldgefühls, des Willens zur Macht. Die Zivilisation des Todes soll beendet werden mit ihrer allgegenwärtigen Diktatur der Ware, der alle Lebensbereiche umfassenden Ökonomisierung.
Das Leben geht verloren, wenn es nicht erschaffen wird.
Vaneigem verteidigt die Subjektivität, eine Subjektivität voller heiterer und quälender Ungeheuer, eine Subjektivität, die die Begierden aus der Macht des Todes befreien will und sich dazu ermächtigt. Eine Subjektivität, die sich in einer Welt der Kostenlosigkeit mit anderen Subjektivitäten verbündet, Partisanen des Genusses, Poeten der Autonomie, ohne Kategorien wie männlich, weiblich, sächlich, sondern wesensmäßig divers und grenzüberschreitend, maß-los. Eher mütterlich als väterlich, eher gebärend als tötend.
Jeder Genuss ist schöpferisch.
Vaneigems Handbuch der Lebenskunft für die jungen Generationen (Traité de savoir-vivre á l´ usage des jeunes générations) erschien im französischen Original 1967. Es war neben Die Gesellschaft des Spektakels von Guy Debord das wichtigste Buch der situationistischen Tendenz, die wiederum eine bedeutsame, innovative, grundlegend radikale Tendenz der Aufstandsbewegungen von 1968 zum Ausdruck und ins Spiel brachte. Zehn Jahre nach der Niederschlagung dieser Bewegungen fasst Raoul Vaneigem einmal wieder zusammen, was seine Basis war und ist (und in den folgenden Büchern bleiben wird): unsere Träume, unsere Abenteuer, unsere Lüste, unsere Musik, unser Umherschweifen …
Die individuelle Kreativität als Grundlage der Versammlungen der generalisierten Selbstverwaltung.
Darauf läuft es hinaus. Auf ein kollektives Projekt ohne Zwang. Ohne Tausch, ohne Konkurrenz, ohne Rechthaberei. Auf der Basis des individuellen Genusses.
Ohne Schuld. Ohne Gegenleistung.
Das große Gelächter gegenüber dem Pathos der Politiker und Agitatoren jedweden Geschlechts.
Gegenüber der Bürokratie, den Institutionen, Abstraktionen jeder Art, die den Individuen die menschliche Substanz aussaugen, sie zu Schatten der Ware machen.
Gegenüber dem Staat, dem schon wesensmäßig vom Lebendigen getrennten Denken und Handeln, ohne von dessen Korruption und Deformation zu sprechen.
Lächerliches Gerippe!
Und die Intellektualisierung als letzte Entwicklungsstufe der Warenexpansion. Verbales Herumfuchteln des Prestiges.
Die intellektuelle Partei als Reservearmee der Bürokratie, ihre Sprache eine auf die Körper angewandte ökonomische Reduzierung.
Dagegen: der Atem des Glücks.
Die Spontaneität der Begierden, die auf der Suche nach ihrer Befreiung sind.
Keine kleinmütige Angst vor dem Leben und einer kostenlosen Existenz.
Keine Traurigkeit wie die des Kleinen Mannes, welchen Geschlechts auch immer, Anhängsel des Willens zur Macht.
In der lebendigen Gegenwart unerwartet die Vergangenheit verbessern.
Kein Verzicht.
Eine neue Unschuld.
Die Gewalt eines Lebens, das auf nichts verzichtet.
Eine praktische Unschuld.
Ein unschuldiger Wind, der uns einschmeichelnd ins Ohr raunt, aus Faulheit Schluss mit der Arbeit zu machen.
Die Wiedergeburt des in allen Menschen verdrängten Kindes. Der straflosen Lüste.
Die Umkehrung der Perspektive.
Die Überfülle, der Überschwang.
Die mit Intensität erlebte Begierde, die auf den Flügeln der Zeit herbeischwebt und sich verwirklicht, sobald sich ihr Denken in einer spontanen Handlung auflöst. Wenn es beschlossen hat, für sich zu leben, lebt nichts von dem, was lebt, allein.
Eine Föderation von nach Autonomie verlangenden Individuen.
Tastende Versuche.
Impulse zum Genuss.
So lese ich das Buch. Als Impuls. Als Schritt, als Versuch, ein Essay. Ein Versuch, der noch die Maskeraden bekämpft, die Rudimente der „alten Welt“, aus denen er sich gerade befreit. Die Trümmer der Macht und der Ökonomie, des Faschismus, Kolonialismus, Stalinismus, Militantismus. Die Strukturen des eigenen politischen Milieus, das mit dem Betreiben einer Situationistischen Internationale die Ansprüche an das „Revolutionäre Individuum“ sehr hoch gehängt hatte. So hoch es vorstellbar war. Und diese Gruppierung, die mit so vielem und vielen gebrochen hatte, ging doch in die Falle der intellektuellen Rechthaberei, der vergiftenden Intellektualität. Sie hatte sich von der bestehenden Moral der strafenden Autoritäten und den vergitterten Vorstellungen gelöst und gerieten in den Sog, selbst so eine Instanz zu werden.
Man erlebt beim Lesen, wie die Masken abgerissen werden, in der Sprache, in den Gesten. In der Wut und Heftigkeit. Wie die Perspektive umgekehrt wird, als Manifest für die Befreiung der Menschen aus allen Rollenzuweisungen, Einschließungen und Ausschließungen, Enteignungen, Unterdrückungen, und wie wie die Gewaltverhältnisse in ein Potenzial übergehen, in eine Potenz, eine Möglichkeit und eine Stärke.
Wie das Imaginäre und die Befreiung zusammenhängen. Wie Freiheit nur ohne repräsentierte Identität möglich ist. Das „Unrepräsentierbare bildet eine Gemeinschaft ohne Voraussetzungen und ohne Bedingungen der Zugehörigkeit“, hat Giorgio Agamben formuliert, und dass weder Souveränität noch Recht „auf das befriedigende und absolut profane Leben, das die Vollkommenheit der eigenen Potenz und der eigenen Mitteilbarkeit erreicht hat“, Zugriff haben. Auf das „nackte Leben“. Und dass ein wahres politisches Leben erst „ausgehend von der unwiderruflichen Abwendung von jeder Souveränität denkbar“ ist. So bezeichnet Agamben die Lebens-Form, den Akt bewusster Inbesitznahme der eigenen „politischen“ Existenz. Die „reine Praxis“.
Walter Benjamin sprach von der „Idee des Glücks“, an der sich die „Ordnung des Profanen“ aufzurichten habe.
Und Vaneigem vom Lebensmechanismus, der die ökonomische Maschine ersetzt.
Ist das zu viel, zu wenig? Geht das zu weit? Nicht weit genug?
Die Idee des Glücks, der Kostenlosigkeit, der Subjektivität, der Schöpfung, der Lüste – seine Formulierung und praktische Durchsetzung, darum geht es, damals wie heute.
Angaben zur deutschen Erstausgabe: Das Buch der Lüste, aus dem Französischen übersetzt von Pierre Gallissaires und Frank Witzel, Edition Nautilus, Hamburg 1984
Wir alle sind während der vergangenen zwei Jahre in einen existenziellen Widerspruch geraten. Er lässt sich ziemlich präzise mit dem Wort „Pharmakon“ beschreiben.
Keine Angst: dies ist kein akademischer Text auf den Spuren von Jacques Derrida und Bernard Stiegler. Vergleichsweise stehe ich näher an Samia Henni, ihren Gedanken über Kriegs-Zonen, toxische Atmosphären, näher an ihrer „PHARMACOLOGIE DU LOGEMENT“ („Pharmakologie der Behausung“) und der Frage, wie in einem ungesunden Quartier ein gesundes Leben möglich ist. Von dieser Warte aus betrachtet, ist das kehrseitenreiche Bild vom Pharmakon allzu reizvoll, um es ungenutzt zu lassen zur Klärung der etwas verwirrenden Lage im Übergang, in dem wir uns befinden.
Bericht von einer ganz und gar nicht frühlingshaften Reise durch die Hinterlassenschaften autoritärer Politik. Zum Schluss ein schöner Ausblick: Frankreich tanzt.
Kehrseiten
Im Altgriechischen bedeutet Pharmakon sowohl Gift, Droge, wie auch Arznei und Medikament. Das geschlechtsneutrale Pharmakon liegt sprachgeschichtlich nah am „pharmakos“, dem Menschenopfer, das dargebracht wurde, um einen Stadt zu reinigen, wenn „Seuchen, Hungersnot, Krieg oder sonstige Krisen und Gefahren befürchtet wurden oder eingetreten waren„. Die gemeinsame Wurzel beider Worte ist φάρμα, was „Zauber, Blendwerk“ bedeutet. Hier befinden wir uns bereits ganz nah an Isabelle Stengers und ihrer „La Sorcellerie capitaliste“ (2005, Auszug in dt. in Supramarkt): der Hexerei, dem kapitalstischen Budenzauber.
Die Heilmittel des Kapitalismus sind unsere Krankheit. Keine ganz überraschende Einsicht. Denn schon lange kennen wir die auslösenden Faktoren für diese fundamentale Opposition, haben Gewissheit über die Kehrseite. Könnten sie zumindest kennen, wenn wir sie nicht verdrängen würden. Und doch lassen wir uns auf jedes noch so dumme Angebot des pharmakologischen Kapitalismus ein: wir riskieren uns, um uns zu verändern. Leben im Zwiespalt.
Jede Einnahme des Pharmakon, ob freiwillig oder gezwungenermaßen, ist mit Freuden und Leiden zugleich verbunden, mit Entlastung von Krankheit und mit Nebenwirkungen: Vergiftungserscheinungen. Mit unerwünschten Folgen. Die Dosis ist entscheidend – aber oft unbekannt. Lasen wir nicht gerade jüngst von dem Verdacht, einige Impfstoff-Tranchen seien womöglich aus Versehen und unerkanntermaßen extrem stark waren? Das ließe sich zumindest aus der Frage ableiten, dass es derzeit offenbar keine regelmässig angewandte Methode zur Sicherstellung der Dosis gibt.
Der Anfang von jedem nächsten menschlichen Zustand ist durch Nichtwissen gekennzeichnet. Von den Schmerzen des Übergangs bestimmt.
Eingeklemmt in der scheinbar unauflösbaren Dualität, des für und wider, des noch-nicht und des nicht-mehr, hocken wir in einer Spalte zwischen Rettung und Verlust.
Nur eins steht unerschütterlich fest: durch die Werkzeuge, die wir uns erfunden haben, insbesondere durch die genetische Modifikation und die Technik der binären Existenz, die schlagartige Cyborgisierung unserer gesamten Gesellschaft, sind wir bereits Andere geworden. Unwiderruflich.
Es ist nur eine Frage der Zeit, wann wir das von außen betrachten und verstehen können.
Zum Glück weiß jeder Wanderer: aus Spalten, in die wir stürzen, finden wir den Ausweg immer nur nach oben. Das ist erfreulich und fatal zugleich.
Denn wir wollen, wir können nicht im Patt stehen bleiben. Das Jetzt ist keine Endposition, in der alle beteiligten Spieler keinen gültigen Zug mehr machen können. Leben geht niemals Remis aus. Aber wo ist der Rettungsanker, mit dem wir uns aus dem Unentschieden ziehen?
„Andere haben es vorausgesehen, aber wir erleben es gerade: Das Ende der Welt ist nur ein weiteres Spektakel. Jede Woche fallen Plagen biblischen Ausmaßes über uns herein (Massensterben allmöglicher Tierarten, schmelzendes Packeis, Brände, Hitzewellen, Überschwemmungen, Erdbeben und Tsunamis) und doch wird diese unter allen anderen am wenigsten abstreitbare Tatsache auf Distanz gehalten, von sich gewiesen und nur aus der Entfernung betrachtet. …Niemals drängte sich eine Verwandlung der Realität mehr auf, während ebendiese Realität zugleich so sehr zugunsten ihres spektakulären, kybernetisch gewordenen Spiegelbilds vernachlässigt wurde. Die Nachrichten über die Apokalypse sättigen zwar die sozialen Medien, reißen aber niemanden aus seiner Erstarrung.“
Doch wie kommen wir aus diesem Erdulden, dem Schweigen, dem Hinnehmen, dem Ausharren wieder ins Handeln? In Freude am Leben?
Die Autoren der Zeilen setzen fort: „Einige komfortabel etablierte Avantgardisten sagen, dass es bereits zu spät sei und dass selbst eine Revolution nichts am unvermeidlichen Zusammenbruch ändern würde. Doch wir müssen ihr Argument umkehren, um darauf zu antworten. Im Gegensatz zu dem, was diese Resignierten glauben, bedeutet ihr als ausgemacht geltender Zusammenbruch der Gesellschaft nicht unbedingt das Ende des Kapitalismus und unseres Elends.
Der Zusammenbruch könnte sich in einer schrecklichen Vertiefung der kapitalistischen Logik äußern: Die letzten Tropfen Trinkwasser würden zu einem äußerst hohen Preis verkauft, ebenso wie die letzten Parzellen Land ohne Radioaktivität. Man sieht bereits chinesische Bauern, die die Arbeit der Bienen übernehmen und Apfelbäume von Hand bestäuben. Man verteidigt bereits die extreme Ausbeutung von Fahrradkurieren mit der Begründung, dass sie die Umwelt nicht verschmutzen. Es wird vorgeschlagen, Mauern zu bauen, um das Schmelzen der Gletscher zu stoppen.
Eine Revolution würde vielleicht nicht ausreichend sein. Aber sie ist auf jeden Fall notwendig. Sie allein würde es ermöglichen, den Produktionsapparat umzugestalten … gemeinsam eine materielle Reproduktion zu entwickeln, die die Welt nicht gefährdet und aufhört, die Menschen zu vergiften. Und um es nicht dabei zu belassen: die Revolution muss auch schön sein und die Zeit befreien.“
Aufhebung
Viele der Aspekte dieses vier Jahre alten Textes kommen uns in den Sinn, als wir diese Woche durch den Saharastaub vom Saarland aus über die französische Grenze nach Lothringen fahren.
Lothringen ist rot: auf der Autobahn, auf jedem Fahrzeug, jeder Fensterscheibe eine dicke Schicht strahlender Sand, radioaktiv von den Oberflächen der Wüste, in der die Kolonialmacht ihre Atombombenoberflächentests durchführte. Die gleiche Endzeitparty wie vor zwei Jahren, nur diesmal ohne Romy Haag. Unser Leben im 21. Jahrhundert: ein Stafettenlauf der Plagen.
Genau 62 Jahre nach dem ersten Test mit einer 70 Kilotonnen-Bombe (16 weitere „Versuche“ folgten) reist der Staub aus dem fernen Reggane in Algerien immer noch durch die Lüfte und senkt sich auf die Lungen. 3500 Kilometer weiter nördlich, in Lunéville, ist die Luft so dicht, dass die Menschen Masken tragen, obwohl Frankreich – auf den Tag genau zwei Jahre nach der ersten Ausgangssperre –gerade an diesem Tag (am 15. März) alle „Maßnahmen“ aufgehoben hat. Der Himmel ist gelb. …und ewig glüht die Wüste. Sogar in Berlin kommt der giftige Dreck noch an.
Psychokeime
Es scheint, es gibt keine Zuflucht mehr vor den Heilmitteln des Kapitalismus, weder den politischen (Bomben), noch den gesundheitlichen (mRNA). Das Pharmakon will die Macht übernehmen. Das Pharmakon herrscht bereits in der Ukraine: überall mit Apokalypse gesättigte Polarisierung. Wir leben oben auf dem Müllberg des ideologischen 20. Jahrhunderts. Unsere Schutzhütten sind kontaminiert.
Die Psycho-Keime gehen auf wie Giftpilze, wenn wir von Biowaffen-Laboren westlicher Nationen auf kleinrussischem Gebiet hören. Mussten wir alle mit Gensträngen geimpft werden, um die Antidotes für das befürchtete „lab leak“ (undichte Stelle in einem Labor) eines synthetischen Virus zu erhalten?
Nur um Verwirrung vorzubeugen: mich interessiert nur wenig, ob das Coronavirus vom Pangolin oder von Fledermäusen stammt oder ob es gar aus der biotechnologischen Forschung entfleucht sein könnte. Mir reicht aus, dass nichts ausgeschlossen, alles denkbar ist. Aber was mich brennend interessiert, ist die kollektive psychische Wirkkraft solcher Fragen. Weil sie auf den Kern von ökonomischen Projekten weist, die wir wiederum uns nicht trauen, grundlegend in Frage zu stellen, noch zu beenden. Ist (Gesundheits-)Forschung ein einziges potentielles „lab leak“, ein Pharmakon, das ständig neue Heilmittel notwendig macht?
Wie will man diese Fragen entscheiden? Wir können ja nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob Macron unter dem zunehmenden Druck der Öffentlichkeit (Konvoi der Freiheit, wiedererstarkende Gelbwestenbewegung), wegen der zurückgehenden Infektionszahlen (also aus medizinischen Gründen) oder aus einem anderen längst beschlossenen Kalkül im Kontext der anstehenden Präsidentschaftswahl an jenem symbolischen Jahrestag voranpreschte und allen Franzosen (und ihre sofort massenhaft einreisenden Gästen) eine gewisse Erleichterung verschaffte?
Das Misstrauen sitzt tief. Wir sehen nur: Maske runter. Maske rauf. Wir fürchten sofort: die aktuelle „leichte Erfrischung am Halse“ (Guillotines berühmtes Wort über die Wirkung seiner Erfindung) könnte uns am Ende des Tages den Kopf kosten. Ob wir am verseuchten Fernstaub sterben oder an der Überdosis mRNA: wen schert das noch? Paranoia sitzt tiefer als das Misstrauen.
Elementarteilchen
Die Franzosen haben im Gegensatz zu den Deutschen ganz offenkundig nicht vergessen, was die Worte bedeuten: Solidarität, gegenseitige Hilfe, Gemeinschaftsgefühl, die Erkenntnis, nicht nur ein wehrloses formbares Molekül des Staate zu sein, sondern sein Elementarteilchen. Brauchen wir nicht Trost in völlig aussichtsloser Lage? Die Franzosen gehen es an. Gefühlt jedes zweite Dorf, das wir durchqueren, hat schnell mit Hand ein Schild gemalt, auf dem noch für diese Woche ein „repas dansant“, ein gemeinsames Essen mit Tanz, anberaumt wird. Frankreich feiert das Ende der Pandemie. Sie wollen tanzen.
Wir fürchten, die Deutschen werden sich stickum aus den Beschränkungen mogeln und weiter zetern und geifern. Die Lebensfreude hat scheint´s ihren Wohnsitz bei uns abgemeldet.
Es wäre den Schweiß der Gerechten wert, zu untersuchen, woher dieser Mentalitätsunterschied stammt und wie man die Deutschen etwas französischer machen könnte, positiver – statt immer nur „positiv“.
Ich schließe deswegen mit einem letzten Zitat aus den „Zeilen“: „Trotz der biblischen Ausmaße der Katastrophe weiß jeder, dass sie von Menschenhand verursacht wurde. Diese Katastrophe … offenbart selbst den borniertesten Menschen, dass die Menschheit allein über ihr Schicksal bestimmt. … Dass das Leben nicht länger warten kann und dass es sich lohnt.“
Zitate aus „Ein paar Zeilen über das Ende der Welt“ übersetzt von Gianfranco Pipistrello, @desertions_
Der letzte Teil der Reisetagebücher über die französische Protest-Sternfahrt „Konvoi der Freiheit“ berichtet aus Paris und brüssel.
Kein Abenteuer ohne Pannen: Der „Roadtrip“ schliesst mit einer Selbstkritik – & der Erkenntnis, dass wir nach zwei Jahren der Erstarrung langsam wieder in Bewegung kommen (müssen).
Nachdem unser Konvoi das Nachtlager in Orléans verlassen und die Straßensperren, die den Zugang zur Hauptstadt kontrollierten, durchquert hatte, schlossen wir uns am Morgen der Demo der Gelbwesten am Place d’Italie an. Kurz darauf geht ein Gerücht auf dem Verkehrskreisel um: Die Champs sind eingenommen! Der Platz ist jedoch von Polizisten umstellt, sodass es unmöglich ist, in einem gemeinsamen Demonstrationszug loszuziehen. Wir nehmen die Metro. Als wir um 14 Uhr auf den Champs ankommen, gehen wir sie Richtung Place de l’Étoile hinauf, wo wir die ersten Fahrzeuge sehen, die in der Mitte der Avenue parken. Die Aufregung, uns an diesen (legendären) Orten wiederzutreffen, ist spürbar. Die Sonne brennt uns auf die Schädel und wir halten unter den Passanten Ausschau nach unseren Freunden, während wir die Gesänge der Gelbwesten anstimmen. Ich unterhalte mich mit einigen Autofahrern. Es sind die ersten Ankömmlinge aus St. Nazaire, dem Konvoi aus dem Westen. Obwohl wir von Polizeikräften umgeben sind, scheinen sie so glücklich und gelassen zu sein, dass wir es kaum glauben können. Es scheint, als ob sie sich des Risikos nicht bewusst wären, das sie bezüglich ihrer Führerscheine und ihrer Autos eingehen, noch sich vor eventuell zu bezahlenden Bußgeldern fürchten. Vielleicht pfeifen sie einfach drauf und stehen über den Dingen. Andere kommen aus Alpes-de-Haute-Provence, aus dem Dorf Manosque (oberhalb von Marseille und Aix-en-Provence, also ganz unten im Süden; Anm. d.Hrsg.). Es sind Fahrzeuge aus allen Konvois hier. Überall wird gehupt, ohne dass man entscheiden könnte, ob es sich um verzweifelte Pariser oder wütende Konvoifahrer:innen handelt. Die Präfektur hatte wahrscheinlich entschieden, durch ein fast beispielloses Aufgebot an Polizei den Verkehr aufrecht zu halten und die Geschäfte offen zu lassen, wohl mit dem Ziel, die Anwesenheit der Konvois zu verschleiern – eine Strategie, die teils auch aufgeht.
Was für seltsame Szenen, bei denen die Ordnungskräfte unterschiedslos Demonstranten und Touristen von den Champs zurückdrängen, auch auf die Gefahr hin, einige schicke Geländewagen mit Tränengas einzunebeln, um anschließend die Menge wieder die Avenue hochgehen zu lassen, ihnen zu gewähren, kurzzeitig Blockaden zu errichten und befreundete Fahrzeuge zu suchen, um sie dann erneut zu zerstreuen. So geht das über Stunden. Bis die Brutalität der Ordnungskräfte schließlich die letzten Träger von Vuitton-Taschen bei Einbruch der Dunkelheit vertreibt.
Die Brav-M und die neue CRS 8-Einheit, die auf die Aufrechterhaltung der Ordnung bei Demonstrationen spezialisiert sind, besetzten massiv die Champs – und das angesichts einer relativ geringen Anzahl von Demonstranten, auch wenn es einem Teil der verschiedenen Demonstrationszüge am Ende des Tages doch noch gelungen war, zu uns zu stoßen. Einige Fensterscheiben werden zertrümmert und die Polizei beschlagnahmt einige Autos aus dem Konvoi. Jemand schreit „Freiheit“ und wird bewaffnet angegriffen; ein sehr junger Mann wird gewaltsam zu Boden gerissen und festgenommen. Insgesamt gab es nach Angaben der Präfektur 97 Festnahmen und 513 ausgestellte Strafzettel. In dieser Atmosphäre bedarf es starker Nerven, an Ort und Stelle zu bleiben, weiter die Avenue hinauf und hinunter zu ziehen und den Verkehr zu stören. Die Entschlossenheit war groß und wir spielten stundenlang Katz und Maus, ohne dass die Menschen aus den Konvois bestrebt gewesen wären, die Polizei oder Luxusgeschäfte direkt anzugreifen.
Trotz ihrer Brutalität gelang es der Polizei erst um 21 Uhr, nachdem die Luxusgeschäfte geschlossen hatten und der Anteil der Polizeikräfte die Anzahl der Demonstranten und Touristen erreicht hatte, die Champs zu räumen. Aus taktischer Sicht bleibt die Erkenntnis, dass die bloße Androhung einer durch Autos erzwungenen Blockade die Machthaber erzittern lässt und sie sich mittels einer intensiven Kommunikation am Vortag, etlichen Straßensperren und Umleitungen große Mühe gaben, eine vollständige Lähmung von Paris zu verhindern. Um die Blockierer zu blockieren musste die Präfektur die Stadt selbst blockieren, denn es war sehr schwierig für sie, zwischen Demonstranten und eigentlich Unbeteiligten zu unterscheiden. Und nichtsdestotrotz gelangten einige mit ihren Autos auf die Champs. Wir merken uns also das Potential von solchen Straßenblockaden, auch wenn sie weitaus effektiver sein könnten.
BRÜSSEL: Überstürzte Flucht
Sonntag Nach einem etwas durchwachsenen Tag in Paris kommen viele Menschen bei „Einheimischen“ unter und verbringen dort die Nacht. Am nächsten Tag setzt der Konvoi seine Reise fort. Er bewegt sich fortan nur noch über Nationalstraßen (nicht auf Autobahnen, die von den Franzosen als „Gefängnisse“ betrachtet werden, da man alle Nutzer am einzigen Ausgang, der Mautstelle, leicht abfangen kann; Anm. d.Hrsg.). Wir treffen in einem Vorort von Lille, in Faches-Thumesnil, auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums wieder auf den Konvoi. Die Stimmung ist die gleiche wie bei den anderen Stopps des Konvois: Pyros, Feuerwerk, Menschenspaliere für die eintreffenden Autos, Kleintransporter, Lastwagen und Wohnmobile, Gesänge, Fahnen und ausreichend Verpflegung für alle. Über das Mikrofon hören wir, dass der Gemeindebürgermeister, ein Mitglied der als „radikal links“ eingeordneten) Partei France Insoumise anbietet, einen Saal (der Gemeinde) zu öffnen, um die Konvoi-Mitfahrer:innen über Nacht zu beherbergen.
Es ist die Rede davon, eine Versammlung abzuhalten, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Doch anstelle einer Vollversammlung schließt ein „ziviler Mediator“ ein Mikrofon an einen Lautsprecher an und organisiert die Wortmeldungen: Zunächst einige Berichte über das Geschehene, dann eine Scheindiskussion über das weitere Vorgehen. Soll man nach Brüssel fahren oder nicht und wenn ja, wann? Einige Personen, darunter insbesondere zwei von Convoy France, schlagen vor, nach Straßburg zu fahren, da dort in der kommenden Woche die Abgeordneten tagen. Sie berichten von einem Treffen mit den Abgeordneten am nächsten Dienstag. Man erfährt von ihnen auch, dass die Konvois aus anderen Ländern nicht ankommen würden und der erhoffte Zusammenschluß wahrscheinlich ein Flop wird. Aber so kurz vor Belgien und nachdem sie einen Großteil Frankreichs durchquert haben, will die große Mehrheit nichts davon wissen und skandiert „Brüssel, Brüssel, Brüssel!“, sowie „Diese Nacht, diese Nacht!“. Die Option „Straßburg“ findet keine Mehrheit und die Entscheidung, die Grenze zu überqueren und sich der belgischen Hauptstadt zu nähern, scheint gefallen. Convoy France veröffentlicht dennoch eine Bekanntmachung, in der dazu aufgerufen wird, sich in Straßburg zusammenzufinden und in der es gleichzeitig heisst, dass „die Freiheit eines jeden Einzelnen“ respektiert wird.
Wir machen uns also völlig unorganisiert auf den Weg zum letzten Pausen- und Versorgungspunkt, diesmal in Belgien, am Rand der Autobahn. Als wir in Faches-Thumesnil losfahren, verteilen zwei französische Polizisten an der Ausfahrt des Parkplatzes Flugblätter, die von der belgischen Polizei an diese geschickt wurden. Es ist tatsächlich das erste Mal, dass wir ein Flugblatt von der Polizei erhalten.
Sie „raten“ uns davon ab, an der Demonstration und der Blockade am nächsten Tag teilzunehmen, verweisen aber auf einen Parkplatz sieben Kilometer vom Brüsseler Zentrum entfernt, wo wir „geduldet“ werden würden. Obwohl wir uns der schicksalhaften Stunde einer angeblichen „Grenzschließung“ nähern, begegnen wir auf dem Weg dorthin keinem einzigen weiteren Polizisten. Ein neuer Parkplatz, Feuertonnen- und Paletten-Atmosphäre, Pfefferminztee und angeregte Diskussionen. Ein Polizeihubschrauber fliegt über uns hinweg. Wir wissen immer noch nicht, was am nächsten Tag passieren wird, aber wir sind glücklich, zusammen zu sein. Montag – der bittere Beigeschmack Wir schalten (die CB-Funk-App) „Zello“ ein. Die Informationen sprudeln nur so heraus, aber nichts ist klar. Schließlich folgen wir einem vagen Aufruf und treffen uns auf dem Parlamentsplatz, in einem Viertel, in dem mehrere europäische Institutionen ihren Sitz haben. Bei unserer Ankunft ist der Platz fast leer, nur ein paar Polizeiwagen sind zu sehen. Auf den Gehwegen treffen wir auf Gesichter, die wir schon einmal gesehen haben. Ein paar hundert Menschen schaffen es irgendwie sich zusammenzuschließen, aber die Menge ist eindeutig unmotiviert. Nach mehreren vergeblichen und von frustrierten Seufzern begleiteten Versuchen, den Platz als Gruppe zu verlassen, beschließen wir, wie viele andere auch, die Sache hier zu beenden.
Der Tag hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. Wir alle sind mehrere Tage lang durch Frankreich gereist, um am Ziel festzustellen, dass wir im entscheidenden Moment unfähig waren, uns zu versammeln.
Wie kann man dieses Scheitern erklären? Gab es letztlich kein wirkliches Ziel? Brüssel blockieren, die europäischen Institutionen blockieren? Haben die Vorschläge von Convoy France die Bewegung desorganisiert? War die Fülle der Diskussionen in den Netzwerken schädlich? Hat das Polizeiaufgebot die Beteiligten in den Griff bekommen?
Bevor man sich auf zweifelhafte Erklärungen stürzt (wie die, dass Rémi Monde ein Freimaurer sei): Vielleicht war das auch der Preis für eine derart schnelle Organisation über Netzwerke, an der mehrere Gruppen beteiligt waren?
Fazit
Beeindruckende Logistik, interessante Taktiken, die von besserer Koordination profitiert hätten. Die relative Verwirrung um die Ziele war zweifellos auf Meinungsverschiedenheiten und eine mangelnde Koordination auf der Zielgeraden zurückzuführen. Zurück in unseren jeweiligen Heimatregionen fragen wir uns, ob die Blitzaktion eine Fortsetzung haben wird. Wir können nicht glauben, dass das alles gewesen ist: Die Entschlossenheit ist ungebrochen, ebenso wie der Wille, die über zwei schwierige Jahre eingesteckten Schläge zurückzuzahlen. Es bleibt festzuhalten, dass uns diese Bewegung im wahrsten Sinne des Wortes aus einer gewissen Erstarrung herausgeholt hat. Was die Medien oft als eine irrationale und verschwörungstheoretische Opposition gegen die Gesundheitspolitik anprangern, lässt sich nicht einfach auf eine Summe von mehr oder weniger zweifelhaften Meinungen und Überzeugungen reduzieren. An diesem Punkt aufhören weiterzudenken, hieße, bei Argumenten stecken zu bleiben wie „die Schuldigen sind die sozialen Medien“; bei einer Politik mit Bildschirm und Tastatur, bei „Fake News“ und den dazugehörigen professionellen Faktencheckern und Aufklärern. Was übrigens die politischen Ansichten, die hier vertreten waren, betrifft, so scheinen uns Faschisten und Rechtsextreme (wie angeblich in Deutschland oder Kanada) in den französischen Konvois in der Minderheit, was nicht heisst, dass sie nicht vorhanden wären oder man sich mit ihnen abfinden müsste.
Man kann die Analyse noch endlos vertiefen, doch der Konvoi hat trotz seiner inhärenten Grenzen schon jetzt etwas anderes auf den Weg gebracht: Er hat Bewegung erzeugt, Begegnungen, Diskussionen und eine gemeinsame Aktion von Menschen aus relativ unterschiedlichen sozialen Bereichen in einer Situation ermöglicht, in der alle seit zwei Jahren wie eingefroren gelebt haben. Kurzum, wir haben eindrücklich erfahren, was genau wir verstärken und ausbauen müssen, um künftig über die ewige Katerstimmung nach Wahlen hinauszuwachsen.
Nachweise
Übersetzung aus dem Französischen von Gianfranco Pipistrello, @desertions_ , Einleitung von Janneke Schönenbach und Olaf Arndt.
Grüne & blaue Route – unterwegs von Toulouse und aus der Bretagne Richtung Paris. Der „Konvoi der Freiheit“ – zwischen New Age, Völkermord-Verdacht und Telegram? Wer fährt denn da mit? Ein Klärungsversuch.
Teil 2 eines insgesamt 3-teiligen, vielstimmigen Berichts über ein einzigartiges Protest-Abenteuer im 21. Jahrhundert.
Teil 1 erschien gestern (siehe genau hier unter diesem Beitrag – dort findet ihr auch die Streckenkarte!) und Teil 3 erscheint morgen, Donnerstag:Bleibt hinter dem Steuer!
DONNERSTAG UND FREITAG, GRÜNE STRECKE (TOULOUSER KONVOI)
Am Donnerstagmorgen brechen einige von uns auf, um die Fahrer:innen des Toulouser Konvois zu treffen. Es erinnert stark an einen von den Gelbwesten besetzten Verkehrskreisel: fast alle hupen und singen, während ein Team unter der Umgehungsstraße Sandwiches am laufenden Band zubereitet. Die Logistik ist beeindruckend und die Spenden stapeln sich in Plastiktüten. Schon bald fragt uns jemand, wie wir nach Paris kommen wollen, denn es gibt noch Plätze in einem eigens gecharterten Bus, der für bescheidene 30 Euro von Toulouse nach Brüssel und zurück fährt. Das ist unwiderstehlich und innerhalb einer Stunde haben alle, die es sich leisten können, ihren Alltag hinter sich gelassen, um sich dem Konvoi anzuschließen.
Das erste, was uns beeindruckt, ist der ausgeprägte Organisationsgrad. Ausgehend von einer großen Facebook-Gruppe und den „Anti-Pass“- und „Anti-Impf“-Netzwerken bildeten sich Dutzende von Telegram-Gruppen, die sich um sämtliche logistischen Aspekte kümmern. Vorne im Bus diskutiert eine 50-jährige Frau von „RéInfo Covid Toulouse“ mit den anderen Organisator:innen von „Convoy France“ den Streckenverlauf. In diesem Moment wird uns klar, dass diese Gruppen seit Monaten miteinander diskutieren, gemeinsam demonstrieren, in Schulen Flyer verteilen und stetig mehr Leute werden (es gibt mittlerweile allein in Toulouse vier Réinfo-Gruppen).
Die erste Pause des Konvois ist in Cahors, wo wir mit fast tausend Menschen auf einem Parkplatz einen Imbiss teilen.
Am Abend halten wir in Limoges, wo uns ein Sympathisant sein Tanzlokal am Straßenrand für die Nacht öffnet.
Alle sind überwältigt von soviel Solidarität: Einige lachen, andere weinen vor Rührung. Viele sind davon überzeugt, dass sie die Reise ihres Lebens machen. Mit jeder weiteren Pause wird uns immer bewusster, wie groß die Bewegung ist. Bis wir anfangen, selbst daran zu glauben: Was wäre, wenn wir den Élysée-Palast [4] erobern würden?
Der Weg ist lang und der Konvoi langsam, sodass wir reichlich Zeit zum Diskutieren haben. Viele Menschen sind in erster Linie über die Impfpflicht besorgt. Wir waren allerdings überrascht und verwirrt darüber, wie viele Menschen davon überzeugt sind, dass der Impfstoff ein Werkzeug für einen „Völkermord“ sei, mit dem vier Fünftel der Bevölkerung ausgerottet werden sollen.
Wenn wir Fragen stellten, wurden wir auf ein Universum von Quellen verwiesen, das wir kaum oder gar nicht kannten: der Corona-Ausschuss von Reiner Fuellmich, Rémi Monde [5], Bonsens.org, die Human Alliance [6] und mehr.
Wir lehnen die Impfpflicht ab, die sich hinter dem Gesundheitspass verbirgt, ebenso wie das uns beherrschende medizinische System. Wir alle teilen auch das Bauchgefühl, dass es falsch ist, dass der Staat Gesetze erlässt, die über das Schicksal unserer Körper und Seelen bestimmen.
Dennoch halten wir es für völlig abwegig, zu behaupten, dass der Impfstoff das Instrument für einen Völkermord sei. Zum einen, weil das Wort Völkermord eine präzise Bedeutung und eine Geschichte hat, die man die man nicht unterschlagen darf und zum anderen, weil es schwer vorstellbar ist, warum die westlichen Mächte zuerst ihre eigene Bevölkerung massakrieren sollten. Darüberhinaus haben wir nicht gesehen, dass geimpfte Menschen um uns herum „wie die Fliegen umfallen“. Unsere Argumente wurden von unseren Gesprächspartner:innen meist milde belächelt. Sie erwiderten uns dann: „Pass auf, denn du bist einfach schlecht informiert“. Das ist entwaffnend und ärgerlich, denn den staatlichen Manipulationen und Lügen werden Zahlen und Behauptungen gegenübergestellt, die genauso fragwürdig sind. In diesem Weltbild gibt es nur „Aufgeweckte“ und „Schlafende“. Diese Rhetorik hat uns zutiefst missfallen. Sie reduziert die Politik auf das sektiererische Teilen eines Glaubens, in dem man für oder gegen den Impfstoff ist. Dabei vertritt diese Bewegung trotz solcher Ansichten und Orientierungen auch noch eine andere Idee von Politik: dass wir alle die gleichen miesen Lebensbedingungen teilen, aber entschlossen sind, sie zu verändern.
Wir führten auch andere Diskussionen, die eher klassisch „politisch“ waren. Es ging dabei um das Verhältnis zu Polizei und Gewalt: viele Fahrer:innen winkten den Gendarmen zu, während andere, stärker von der Gelbwesten-Bewegung geprägte Leute, mehr auf Krawall gebürstet waren. Die Allgegenwärtigkeit der französischen Flagge, dem wichtigsten Erkennungszeichen für die Zugehörigkeit zum Konvoi, brachte auch die Fragen auf, die bereits während der Gelbwestenbewegung gestellt wurden:
Sollen wir uns das nationale Symbol wirklich wieder aneignen?
Unsere Anarchistenherzen pochten alarmiert, als unsere Fahrerin über CB-Funk fragte, ob es nicht pensionierte Soldaten gäbe, die bereit wären, dem Konvoi mit ihren logistischen Fähigkeiten zu helfen. Wir diskutierten lange, sprachen über die arabischen Revolutionen und den in einem Wochenmagazin veröffentlichten, offenen Brief, in dem rechtsextrem gesinnte Generäle zum Putsch aufriefen. Unsere Diskrepanzen waren deutlich und die Diskussionen manchmal hitzig, aber möglich: wir saßen im selben Bus.
Ansonsten herrschte große Unklarheit. Zweifel steckten stets in unseren Köpfen: Wo hielten sich Rechtsextreme und Faschisten versteckt? Die meisten Menschen zuckten mit den Schultern, wenn man ihnen von Louis Fouchés‘ (ein öffenlichkeitssüchtiger „Antiimpf“-Arzt) nachgewiesenen Verbindungen zur Anti-Abtreibungs-Bewegung erzählte. Sie waren skeptisch oder nicht auf dem Laufenden.
Andere sprachen davon, sich der Protestdemo des (souveränistischen; Anm. d.Ü.) Präsidentschaftskandidaten Florian Philippot am Pariser Denfert-Rochereau-Platz anzuschließen.
Der Islam oder die Einwanderung waren kein Thema – im Gegenteil, für manche waren die Anschläge der letzten Jahre offenbar eine Inszenierung der Regierung – und auch über Antisemitismus wurde nicht geredet. Es ist unabweisbar notwendig, über die sich in den Vordergrund drängenden Gesichter von Convoy France oder La Meute vermehrt Nachforschungen anzustellen. Aber immer wenn wir uns dazu unter den Mitreisenden umhörten, war es unmöglich, eine einheitliche politische Tendenz zu erkennen.
Es gab Unterstützer des UPR-Politikers François Asselineau (der konspirative Theorien und Komplottvermutungen verbreitet; Anm. d.Ü), es gab Leute mit antikapitalistischen T-Shirts und es gab viele Menschen, die weder an die Rechte noch an die Linke glaubten.
Für viele war es die erste politische Bewegung, an der sie teilnahmen und sie waren anwesend, weil sie an Naturmedizin glauben oder sich weigern, den Befehlen der Regierung zu gehorchen. Die Menschenmassen, die die Empfangskomitees bildeten, waren hauptsächlich weiß, recht alt, hatten unterschiedliche Berufe (darunter Landwirte, Feuerwehrleute, Lehrer:innen, Elektriker, Schauspieler:innen, ehemalige Soldaten, Angestellte, Köche und auch viele Arbeitslose, suspendierte Arbeitnehmer usw.) und ihre Körper wirkten oft (von Arbeit) verbraucht.
Unsere politischen Reflexe reichen nicht aus, um diese Bewegung verstehen zu können. Sie lässt sich nicht in eine Genealogie von Kämpfen einordnen, außer in die der Gelbwesten. Dennoch klingen viele Ideen in uns nach: die Ablehnung von Parteien, von Zwangsimpfungen und Kontrolltechnologien, die Kritik an den Medien, das Gefühl von Prekarität und Marginalität, der Wunsch nach Horizontalität etc.
Zum ersten Mal nach drei Jahren teilten wir mit Unbekannten unseren Schlafplatz, unser Essen und einen überschwänglichen Enthusiasmus, um diejenigen anzugreifen, die uns regieren.
FREITAG, BLAUE ROUTE (WESTLICHER KONVOI)
Der ultralange Schneckenzug
Der westliche Konvoi hat seine eigene Dynamik, die jeden scheitern lassen würde, der versucht, ihn zu skizzieren, zu erfassen oder als Modell darzustellen. Sein herausragendstes Merkmal ist, dass er mit jeder Etappe wächst, um sich dann, immer länger werdend, durch eine schier endlose Nacht zu schlängeln. Manchmal bietet ein eigentlich unbedeutender Hügel den kaum fassbaren Anblick einer unendlichen Parade von Warnblinkerlichtern. Manchmal verlängert ein unglücklicher Fehler beim Abbiegen die Route um mindestens eine Stunde; bis die lange Schlange wieder umgekehrt ist. In jedem Dorf, jedem Weiler und an jedem Verkehrskreisel, den wir durchqueren, werden wir von Einheimischen angefeuert, die den Konvoi auf ihre Weise unterstützen, auch wenn sie sicherlich schon seit Stunden in der Kälte auf den ungewöhnlichen Schneckenzug warten. Die Müdigkeit, die sich langsam bemerkbar macht, ist plötzlich verflogen und wir erleben wieder aufgemuntert unser erstaunliches Abenteuer. Mit dem Soundtrack des Films „Convoy“ aus dem Jahr 1978 als Geräuschkulisse und den hin- und herfliegenden CB-Funksprüchen (über die Fernfahrer-App „Zello“) könnte man bis an das Ende der Welt reisen!
Auf der Landstraße D923 zwischen Le Mans und Chartres stellt sich jeder mit einer Portion Fantasie vor, wie eine Ankunft in Paris aussehen könnte – denn wir folgen den Spuren eines der historischen „Wege zur Freiheit“, wie die Kilometersteine uns zeigen (Welch ein Schicksal!).
Es ist 22:30 Uhr, als wir in Chartres ankommen. Von Rennes aus haben wir 13 Stunden gebraucht, im Gegensatz zu den sonst üblichen 3 Stunden. Auch wenn es eine echte Tortur war, gerät sie durch den herzlichen Empfang dort schnell in Vergessenheit.
Jedes Fahrzeug in unserem 35 Kilometer langen Konvoi wird von einem Spalier von Menschen begrüßt, die pfeifen, singen, Feuerwerkskörper zünden, sich gegenseitig anfeuern und beglückwünschen.
Was sollte jetzt getan werden? Welche Entscheidung sollte man um 23 Uhr treffen, angesichts der offensichtlichen Planlosigkeit und Verspätung des Konvois? Einige schlagen mutig eine Versammlung vor, trotz des Risikos, das es mit sich bringt, um diese Uhrzeit, bei diesem Grad an Aufregung und Müdigkeit eine Hauptversammlung zu beginnen. Wider Erwarten gelingt nicht nur die Versammlung, sondern scheint die Wahrnehmung der Situation weitgehend die gleiche zu sein. Die große Mehrheit möchte nach Paris fahren. Um es zeitig dorthin zu schaffen, einigt man sich darauf, um 5 Uhr morgens loszufahren. Wir versuchen also, Paris zu blockieren? – Ja, klar! Mit dem Auto wäre das am Sinnvollsten, denn zu Fuß wären wir nicht viel mehr als ein paar Tausend, die sich bei mindestens vier geplanten Demonstrationen und gegenüber eingespielten Ordnungskräften in der Hauptstadt verlieren würden.
Lasst uns also die Stadtautobahn blockieren!
Drehen wir auf ihr ein paar Runden, während wir auf die anderen Konvois warten. Die groß angelegte, einen Tag vor Ankunft des Konvois gestartete Medienkampagne der Regierung über patrouillierende Räumpanzer, die Ankündigung der Mobilisierung von 7200 Ordnungskräften, Abschleppwagen usw. scheint die Entschlossenheit der Konvoifahrer:innen nicht im Geringsten zu beeinträchtigen. Das ist erstaunlich. Ebenso erstaunlich ist die Tatsache, dass niemand in der Versammlung vorschlägt, sich der einen oder anderen Demonstration aufgrund ihrer politischen Ausrichtung anzuschließen. Diese Versammlung hat gezeigt , dass es möglich ist, eine gemeinsame Entscheidung zu treffen, und das obwohl die Organisatoren von Convoy France ursprünglich beschlossen hatten, Paris zu umgehen und direkt nach Brüssel zu fahren – wobei natürlich „jeder frei sei, das zu tun, was er wolle“.
Am nächsten Tag bricht der Konvoi in die eisige Nacht auf und fährt in Richtung Paris.
Unsere Ankunft auf der Stadtautobahn ist aufsehenerregend und wird sehr schnell von den Brav-M-Motorradpolizeieinheiten gestoppt (Brav-M heisst Brigades de répression des actions violentesmotorisées = motorisierte Brigade zur Unterdrückung von Gewaltakten; Anm.d.Hrsg).
An dieser Stelle gelingt uns letztlich die einzige erfolgreiche Blockadeaktion neben der über zwei Stunden dauernden Blockade der Porte de Saint Cloud. Leider wurde unser Konvoi aus dem Westen von den anderen Konvois nicht eingeholt und so löste sich dieser mit seinen Tausenden von Fahrzeugen in der Hauptstadt in Luft auf.
Mit den bereits über Nacht am Stadtrand von Paris stationierten Konvois konnte keine taktische Koordination für eine konzertierte Aktion aufgebaut werden. Die Péripherie verschluckt die Fahrzeuge, die sich in der überwältigenden Normalität ihres Stroms verloren haben.
Dabei waren wir wenige Minuten zuvor noch Tausende!
Was bleibt uns noch zu tun?
Die Mutigsten schlagen es wagemutig vor: die Avenue der Champs Élysées hochfahren!
Fußnoten
[4] Die Bewegung scheiterte teilweise an ihren taktischen Zielen: einerseits weil die Konvois ihre Ankunft nicht koordinieren konnten und so ihre vielen tausend Fahrzeuge von der Hauptstadt verschluckt wurden und zweifellos andererseits, weil die beiden wichtigsten Organisationsstrukturen, La Meute und Convoy France, sich über das Ziel der Operation nicht einig waren: La Meute sowie die meisten Konvoiteilnehmer wollten Paris blockieren, Convoy France machten südlich vor Paris einen Picknickstopp in Fontainebleau, um anschließend nach Brüssel weiterzufahren. Schließlich machte dieser Konvoi eine Kehrtwende Richtung Straßburg, nachdem er erfuhr, dass es keine weiteren großen europäischen Konvois in Brüssel geben würde. Unsere Gruppe reiste hauptsächlich mit Leuten von Convoy France.
[5] Im Stil von den vor Jahren selbsternannten Gelbwestenanführer Éric Drouet, Priscilla Ludowsky oder FlyRider ist Rémi Monde, der bereits eines der medienwirksamsten Gesichter der Anti-Gesundheitspass-Bewegung war, in den letzten Wochen zu einem der wichtigsten virtuellen Influencer des Freiheitskonvois geworden.
[6] Human Alliance sind eindeutig mit QAnon verbunden, deren Goodies wir auf Wohnmobilen, Kappen und Drohnen mehrmals gesehen haben.
Übersetzung aus dem Französischen von Gianfranco Pipistrello, @desertions_ , Einleitung von Janneke Schönenbach und Olaf Arndt
Zurück aus Paris – die Reisetagebücher des „Konvoi für die Freiheit“
Teil 1 eines insgesamt 3-teiligen, vielstimmigen Berichts über ein einzigartiges Protest-Abenteuer im 21. Jahrhundert.
Teil 2 und Teil 3 erscheinen morgen, Mittwoch und übermorgen, Donnerstag: Bleibt dran!
Titelbild: Südwest-Konvoi, auf offenem Feld gestoppt
Intro
Der Konvoi der Konspirateure gehört zu den aktuell meist gelesenen und diskutierten Beiträgen auf diesem Blog. Wir haben uns daher entschieden, hier einen längeren Bericht der Teilnehmer:innen der Fahrt zu veröffentlichen, der am 21. Februar 2022 auf der französischen Webseite Lundimatin erschien.
Einige Freund:innen von lundimatin hatten sich am vergangenen Donnerstag, 17. Februar 2022, spontan dem „Konvoi der Freiheit“ angeschlossen, der bis zum 21. Februar dauerte. Dabei haben 3.600 Fahrzeuge aus Protest Frankreich komplett durchquert, um in Paris für ihre Meinung und ihre Rechte einzutreten. Immerhin 700 Autos aus dem Konvoi sind bis auf den Pariser Stadtring gelangt, und haben dort versucht, die Aorta der Metropole zu verstopfen.
Die Polizei griff hart durch, um den Verkehr aufrechtzuerhalten. Es gibt Fotos, auf denen es aussieht, als hätten die neuen Spezial-Einsatzkräfte halb Paris unter Tränengas gesetzt – wobei die Manifestanten und ihre Unterstützer mit ihren Bengalos viel dazu beigetragen haben.
In ihren Reisetagebüchern schildern die Demonstranten ihre Eindrücke der Fahrt von Toulouse nach Brüssel, von Rennes nach Paris. Insgesamt wurden Paris und Brüssel auf fünf Routen sternförmig angesteuert – auf jeder Route gab es jeweils Unterverzweigungen (siehe Karte).
Mit anderen Worten: der Konvoi setzte sich in allen Regionen des Landes in Bewegung.
Der Konvoi knüpfte dabei an die erfolgreichen Strategien der Gelbwesten an: Besetzung des öffentlichen Raumes, praktizierte Solidarität und verblüffende Zielstrebigkeit bei der Durchsetzung der Vorhaben. Der Konvoi richtete sich explizit gegen den Impfpass, gegen die galoppierende Inflation und gegen den Kurs der französischen Regierung im Allgemeinen.
Die Reisetagebücher illustrieren eine ganz erstaunliche Dynamik und Leidenschaft, die sich während der Fahrt entwickelte – einige Teilnehmer glaubten gar, sie könnten ganz Paris mehrere Tage lang blockieren. Die Notizen zeigen gleichzeitig aber auch, wo der Konvoi an seine Grenzen gestoßen ist.
Die Konvoisten – wo stehen sie? (Statement von Lundimatin)
Die Reise nach Paris – und für einige sogar weiter bis Brüssel – erfüllte uns sowohl mit Zweifeln als auch mit Begeisterung. Mehrere intensive Tage auf den Straßen, stundenlange, teils verwirrende Gespräche, Einheimische, die ihre Häuser öffnen – oder ganze Tanzlokale zum Übernachten zur verfügung stellen – und den Konvoi mit einem „Einkaufstüten-Bankett“ auf Parkplätzen begrüßen, um schließlich an einem Samstagnachmittag durch die Tränengasschwaden die Champs-Elysées rauf und runter zu fahren und sich am Ende der Reise in Brüssel zu verlieren.
All das erinnert stark an die Anfangszeit der Gelbwesten, doch nach zwei Jahren Pandemie steht die politische Landschaft auf dem Kopf, wie uns diese wenigen Tage bildhaft vor Augen führten.
Eingetaucht in die Notwendigkeit, etwas hoch Komplexes zu organisieren, waren wir nicht nur völlig überfordert. Sondern der Konvoi erschütterte insbesondere auch unsere bisherigen Orientierungspunkte: die vertrauten politischen Schemata von Rechts und Links.
Wir hätten niemals erwartet, dass solche nebulösen Facebook-Gruppen, Influencer und lokalen Kollektive der Anti-COVID-Pass-Bewegung in der Lage wären, innerhalb einer Woche die Mobilisierung, Versorgung und Unterbringung von acht motorisierten Konvois zu organisieren, die versuchen, die Hauptstädte Paris und Brüssel zu stürmen.
Seit dem Spätsommer waren wir nicht mehr auf Demos gegangen, einige aus Überdruss, weil die Manifestationen nichts mehr erreichten, andere aus Unsicherheit und wegen der mehr oder weniger versteckten Präsenz der extremen Rechten.
Wir schlossen uns also teils mit großem Misstrauen einer mehrheitlich weißen Bewegung an, die in Kanada von Trump und Elon Musk unterstützt wird und in einigen Fällen offen faschistische Symbole zeigt. So hielten wir nach feindlichen Symbolen und Bezeichnungen Ausschau.
So hatten die Organisatoren des Konvois die irritierende Entscheidung getroffen , den Namen eines islamfeindlichen kanadischen Kollektivs, La Meute [1], zu übernehmen. Und doch handelt es sich hierbei nicht um eine rechtsextreme „Unterwanderung“ [2], sondern vielmehr um eine Neukonfiguration der Koordinaten des politischen Konflikts.
Es gibt ein offensichtlich ein gemeinsames Ziel mit den anderen Beteiligten des Konvois, die Überzeugung, dass im Augenblick etwas Wichtiges passiert – wie jedes Mal, wenn diejenigen, die man mit konzertierter Kommunikation und Schlagstöcken steuert, es schaffen, sich dennoch zu versammeln, um zurückzuschlagen. Es ist leicht zu verstehen, warum wir glücklich darüber waren, müde zu sein und über Kilometer hinweg einfach nur gemeinsam Sandwiches zu essen.
Denn keineswegs dienen die Gesundheitsmaßnahmen vorrangig unserer Gesundheit und ein würdiges Leben beschränkt sich nicht auf eine eindimensionale Kurve. Vielmehr wollen wir die Mächtigen daran hindern, ihre Kontroll- und Ausbeutungsinstrumente im Namen einer Erpressung zur Solidarität, die ihnen scheißegal ist, weiter auszubauen [3].
Doch plötzlich tat sich auch ein Abgrund auf, als jemand vom „geronnenen Blut der Geimpften“ sprach und eine andere Person vom „Völkermord“, der im Gange sei.
Unsere Ansichten überschnitten sich nur partiell und manchmal hatten wir das Gefühl mit unserer wirtschaftlichen Analyse der aktuellen Lage noch Teile des 20. Jahrhundert auf unseren Schultern zu tragen, während wir mit Menschen konfrontiert waren, von denen viele in erster Linie nur aus Protest gegen die Impfung da waren.
Es wäre absurd, die Forderungen in gute (antikapitalistische) und in schlechte (verschwörungstheoretische) aufteilen zu wollen, wobei das Fragwürdigste der Glaube dieser Bewegung ist, im Besitz der Wahrheit zu sein, eine Wahrheit, die ebenso „wissenschaftlich“ und unbestreitbar zu sein behauptet, wie jene der Regierung.
Hier nun also sechs kurze Berichte über diese beeindruckenden Tage. Die Reise war insgesamt viel verrückter als ihre paar öffentlichen Kristallisationspunkte, ihr medial verwerteten Momente. Aber es tat jedem Teilnehmer sichtbar gut, drei Jahre nach den Gelbwesten wieder einmal zu sehen, wie Fahrer in schrottreifen Kleinwagen die Räumpanzer auf den Champs-Élysées verspotteten.
Wir sind noch nicht am Ende unserer Überlegungen angelangt und behaupten weder, dass wir verstanden hätten, was sich da abspielte, noch dass wir aufgrunddessen irgendeinen Weg bestimmen könnten. Aber es ist erwiesen, dass sich gerade etwas ereignet, und jeder, der wichtig findet, den realen Bewegungen, die auf den Körper einwirken und die Regierenden herausfordern, Aufmerksamkeit zu schenken, sollte dabei sein.
I. DONNERSTAG, RENNES. Die Abreise.
Seit einer Woche beobachte ich, wie die Facebook-Gruppe „Le Convoi de la liberté“ zusehends größer wird. Die Beiträge sind berührend und erinnern mich an die besten Zeiten der Gelbwesten. Viele bieten an, die Türen ihrer Häuser zu öffnen, um die Teilnehmer der Konvois zu beherbergen, man grüßt, ermutigt und bedankt sich. Das Gefühl, dass etwas Wichtiges im Gange ist, bestätigt sich, als wir am Donnerstagabend auf die beiden bretonischen Konvois am Sammelpunkt in der Nähe von Rennes treffen. In alle Himmelsrichtungen parken Hunderte von Fahrzeugen und man kann darunter alle möglichen Modelle von Wohnmobilen und verschieden ausgestattete Lastwagen finden. Die Leute sind überwiegend guter Dinge und voll aufrechter Freude darüber, zusammen zu sein und sich wieder zu finden. Das Kommuniqué des Kollektivs „Grand Ouest“, das den Konvoi organisiert, wird am Mikrofon verlesen. Obwohl für uns nicht eindeutig ist, welche Positionen die Verfasser der Bekanntmachung vertreten, werden darin Positionen und Einsichten dargelegt, die wir größtenteils teilen.
Hier ein Auszug:
„(…) Zwei Jahre lang habt ihr gelogen. Ihr, die Politiker, die Medien, die Fernsehstudioärzte, die Pseudo-Experten. Ihr habt ständig und absichtlich gelogen. Über die Wirksamkeit der Masken habt ihr gelogen. Über die Gründe der Ausgangsbeschränkungen habt ihr gelogen. Über die Gefährlichkeit des Virus habt ihr gelogen. Über den Zustand unserer Krankenhäuser habt ihr gelogen. Über die Gründe für den Impfpass habt ihr gelogen. Über die Wirksamkeit des Impfstoffs habt ihr gelogen. Über seine Nebenwirkungen habt ihr gelogen. Über die Gründe für die Impfpflicht habt ihr gelogen. Was die Impfung den Kindern antut, auch darüber habt ihr gelogen. Worüber habt ihr noch gelogen und worüber werdet ihr zukünftig noch lügen?
Nach zwei Jahren haben wir jetzt Daten, haben wir Zahlen, nicht die von Verschwörungswebseiten, nein, die von euch, die von den offiziellen Seiten. Wir haben Berichte, analysierbare Statistiken. Wir haben jetzt einen Überblick. Jetzt, nach zwei Jahren, können wir ohne Nachsicht das katastrophale Management sehen, das von unseren sogenannten Eliten stur weiter betrieben wird. Wir sind uns heute über die außerordentliche Manipulation im Klaren, über die kollektive Hypnose, die ihr gegen uns eingesetzt habt, um eure Irrwege, eure Inkompetenz und eure Bestechlichkeit zu kaschieren. Jetzt sehen wir, welche Gesellschaft ihr für eure kommende Welt aufbauen wollt.
Wir sind hier, um euch klar zu sagen: NEIN! Wir wollen eure Neue Welt nicht. Wir wollen keine ständige Bespitzelung. Wir wollen kein Krankenhaus, das mit Unterversorgung kämpft. Wir wollen keinen QR-Code, der unser Leben bestimmt. Wir wollen keine Welt, in der Pflichten wichtiger sind als die Rechte. Wir wollen keine Welt, die aus Misstrauen, Argwohn und Hass besteht. Wir wollen auch nicht zurück zur Welt von vorher, in ebenjene Welt, die all dies ermöglicht hat. (…).“
Wer wäre angesichts der zahlreichen Kursänderungen der Gesundheitspolitik, die wir in den letzten zwei Jahren hinzunehmen hatten, nicht damit einverstanden, den Charakter der Regierung als krankhaft verlogen zu bezeichnen?
Die Gesundheitspolitik ist gekennzeichnet von von einer ultra-affirmativen Übereilung, die sich bis heute dadurch auszeichnet, dass die Regierung Einschränkungen so schnell aufhebt, wie sie sie verhängt. Wir alle teilen das Gefühl der Verunsicherung, das Unbehagen und die Machtlosigkeit, die wir seit zwei Jahren empfinden. Wer hatte sich nicht gewundert, dass die Gelbwesten nicht schon früher wieder aufgetaucht sind – angesichts von dem rasanten Anstieg der Inflation und der Energiepreise? Wenn eine größere Protestbewegung entstehen soll, muss sie zwangsläufig über den engen Rahmen der Proteste gegen den Gesundheitspass hinausgehen. Sie muss vielmehr alle Themen, wie Inflation, sinkende Kaufkraft, steigender Ölpreis, die Einschränkungen der Freiheiten, die Sprache der Regierung, die mit uns redet, als seien wir Babys oder Idioten usw. – all das muss eine neue, breit aufgestellte Bewegung in den Fokus bekommen.
Was die Menschen in den Konvois vereint, ist einerseits ihr Überdruss an der Regierungspolitik – egal ob man für oder gegen den Impfstoff ist – und andererseits der tiefe Wunsch, aus der Isolation auszubrechen. Zwei Jahre Pandemiemanagement haben eine beträchtliche Politisierung zur Folge, die weitgehend durch die sozialen Medien strukturiert wurde. Heute offenbart die Bewegung, dass ihre Verbindungen bei weitem nicht nur virtuell sind.
Natürlich ist es nicht immer leicht zu verstehen, welche Anspielungen in den geäußerten Ansichten stecken und es ist keine leichte Aufgabe, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Wenn zum Beispiel einige Leute „Gerechtigkeit für unsere Toten“ fordern – welche Toten sind dann gemeint? Sind es die Toten, die am Virus, oder am die, die am Impfstoff gestorben sind oder durch die massive Komorbidität als Folge schlechter Lebensbedingungen und ungesunder Ernährung, verursacht durch den Kapitalismus der letzten 50 Jahren?
Trotz allem, als wir auf diesen Konvoi treffen, beschließen wir, uns auf das Abenteuer einzulassen. Was gibt es Besseres als einen spontanen Roadtrip, um sich auf Augenhöhe zu begegnen? Und was für ein Abenteuer!
(Morgen geht es weiter mit den Reisetagebüchern des Toulouser Konvoi, sowie der BLAUEN ROUTE (WESTLICHER KONVOI). Im dritten teil am Donnerstag lest ihr Szenen-Berichte aus Paris und Brüssel, sowie ein abschließendes Statement der Konvoisten)
Fussnoten
(1) La Meute OBT waren neben Convoy France die Hauptorganisatoren der Bewegung, die die Blockade der Hauptstadt unterstützen. Ihr fragwürdiges Logo (ein in die Höhe springender Wolf in den Farben Frankreichs) hat uns nachdenklich gestimmt, aber sie verteidigen sich auf Telegram gegen jegliche Zugehörigkeit zu kanadischen Rassisten. Es handelt sich dabei um die um Rémi Monde organisierte Gruppe, die beispielsweise eine versuchte Vereinnahmung durch den Berufspolitiker Philippot im Namen ihrer „politischen Neutralität“ zurückgewiesen hat.
(2) Wir haben keine Flagge, kein Logo, keine virtuelle oder reale Gruppe gesehen, die sich explizit zu einer identitären Ideologie bekennt (nach unseren Recherchen ist selbst der „Bloc Lorrain“, dem wir in Paris begegnet sind, trotz des unglücklichen Namens in Wirklichkeit eine anarchistische und antikapitalistische Gruppe). Hingegen stießen wir auf eine Vielzahl von Bezugnahmen, Einzelpersonen oder Medien, die der sogenannten „Verschwörungssphäre“ angehören, worauf wir zu einem späteren Zeitpunkt noch eingehen werden.
(3) Siehe hierzu die Forderungen im offenen Briefes von Convoy France an Emmanuel Macron, die wir für durchaus sinnvoll, wenn auch nicht für ausreichend halten: Ende des Ausnahmezustands, Ende der berufsspezifischen Impfpflicht und unabhängige Untersuchungen über den Umgang der Regierung mit der Pandemie, Wiederanstellung von Pflegekräften, Aufhebung des „nationalen Sicherheitsgesetzes“ und die demokratische Kontrolle der digitalen Identität.
Übersetzung aus dem Französischen von Ginafranco Pipistrello, @desertions_ , Einleitung von Janneke Schönenbach und Olaf Arndt
Heute erscheint der Beitrag von Neil Vallelly über die existenzielle Perspektivlosigkeit als dominierenden Erfahrung im neoliberalen Alltag in DIE AKTION. Zum Text geht es hier!
Vallelly arbeitet an der Universität von Otago, Neuseeland – im Center for Global Migrations – über Grenzmanagement unter Corona-Bedingungen und über gewaltsame Deportation. Sein zweiter Arbeitsschwerpunkt ist Neoliberalismus.
Die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown sagt über sein jüngstes Buch: „Neil Vallelly bietet einen umfassenden Überblick über das, was er die futilitaristische Bedingung nennt. Diese systemische und allgegenwärtige Bedingung beraubt uns eines sinnvollen Lebens und raubt der Welt ihre Zukunft. Mit eleganter Feder, leserfreundlicher philosophischer Nachdenklichkeit und einer Fülle von Beispielen erklärt Vallelly dieses nagende Gefühl: Ist das, was ich tue – in meinem Job, in meinem ökologischen Handeln, in meinem ethischen Konsumverhalten – nicht eigentlich völlig sinnlos? Gemeinsam dagegen anzugehen sei der einzige Ausweg, so Vallelys Schlussfolgerung.“
Die „gelebte Erfahrung der Perspektivlosigkeit“ in einer Zeit epochaler Katastrophen, vom Klima bis hin zu tödlichen Pandemien, sei für den „Aufbau einer egalitären, nachhaltigen und hoffnungsvollen Zukunft unerlässlich, der Nichtigkeit der neoliberalen Existenz vehement entgegenzutreten.“ Vallelly sieht hierin die Voraussetzung für einen neuen Sozialismus gekommen.
Als Übersetzer möchten wir zur Vielzahl der Wortspiele im englischen Original noch kurz etwas erläutern. Der Autor setzt, um sein Anliegen zu verdeutlichen, dem ökonomischen Begriff des Utilitarismus ein „F“ vornan. So entsteht das titelgebende Kunstwort „Futilitarismus“ – ein Prinzip, das er durch das ganze Buch variiert: so wird aus dem Prekariat das Futilitariat, aus dem „homo oeconmicus“ der “homo futilitus“, aus der Semiotik die “Semio-Futilität“.
Wir haben uns mit dem Autor darüber abgestimmt, wie dies ins Deutsche übertragen werden kann, damit der Sinn der Neologismen nicht leer bleibt. Doch das ist kein simples Unterfangen. Das englische Stammwort futile bietet schon im Lexikon eine schier unüberschaubare Menge von Varianten. Laut Oxford Advanced bedeutet futile “kein Ziel zu haben“, weil das eigene Handeln keine Aussicht auf Erfolg bietet. Doch alle machen weiter, denn es treibt sie die (nie einlösbare) Verheißung, dass es eines Tages besser wird.
Wie der berühmte Schlittenhund jagen wir einer Wurst nach, die von einer Stange im fixen Abstand vor unserem Mund gehalten wird, in dem uns das Wasser zusammenläuft, ohne wir uns je am Geschmack der Wurst erfreuen könnten. Im Gegensatz zum Hund, der sicher schon nach einer Tour merkt, dass er betrogen wurde, wird dem unter futilitaristischen Bedingungen Beschäftigten jedes Jahr ein neues Wurst-Produkt vors Maul gehängt. Doch näher kommt er ihm nie, wie auch immer er es anstellt. Die ganze Zeit über zieht er jedoch den Schlitten weiter.
Die resultierende futtilitas (lat.) ist eine existenzielle Nichtigkeit und Zerfahrenheit.
Laut des Latein-Lexikons von Stowasser bedeutet das Stammwort fundere: sich ergießen, aber auch (Vermögen) vergeuden, (im feindlichen Sinne) jemanden niederwerfen, zu Boden strecken.
Wir haben daher gleich eingangs mit dem Autor versucht zu klären, wo seine Gewichtung bei der Wortbenutzung liegt.
Ob er bei futile mehr an die Sozialschädlichkeit, an die Produktion von überflüssigen Gegenständen (Umweltverschmutzung) oder die Konditionierung des Menschen denkt, die Zurichtung durch ein Wirtschaftssystem, das nur Dinge anbietet, die für ein sozial und persönlich befriedigendes Leben vollkommen nutzlos sind?
Er hat sich eindeutig für die letztere Variante entschieden und gesagt, das bei seiner Untersuchung des Futilitarismus die Auswirkung auf das Leben der Einzelnen im Zentrum stehe. Aus diesem Grund haben wir uns dafür entschieden, überall wo futile/futility steht, es mit (existenzieller/wirtschaftlicher) Perspektivlosigkeit zu übertragen – und sein Kunstwort zu belassen, wo es auf -ismus endet.
Überall wo Vallelly futility mit meaninglessness variiert, haben wir uns für Sinnlosigkeit entschieden.
Seit Tagen verfolgen mich die Bilder des kanadischen Konvois. Was sehen wir dort? Ist es die Erhebung der seit zwei Jahren Entmündigten und Beleidigten, an den Rand der Existenzvernichtung Gebrachten, mit der sie auf die Unerträglichkeit und Zumutung reagieren, auf krankhafte Phantasmen darüber, wie man eine Pandmie einfängt, auf die grotesken, doch tief einschneidenden Reglementierungen von Arbeit, Leben, Alltag? Oder sehen wir verbohrte, rückwärtsgewandte Holzköpfe – so wie eine gut geschmierte (Verleumdungs-?)Kampagne uns glauben machen will? Wie vielfältig im Kopf sind die Menschen, die sich hier – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben – aus Protest auf die Straße begeben und sich zuvor über ihre eigene politische Linie keine (ausreichenden) Gedanken gemacht haben und dies womöglich zu Recht, denn es geht ja um etwas viel Tiefgreifenderes, Grundsätzlichers als die Selbstverortung in einer klischee-isierten politischen Landschaft: es geht um die Bedrohung unserer demokratischen Lebensordnung durch wildgewordene, freidrehende Politiker, die die Profilierungschance ihres Lebens riechen, um Wirtschaftsförderung für Konzerne, um Plattform-Kapitalisten und ihre eigennützigen, rein profitorientierten Weltentwürfe. Oder ist das etwa konspirativer Irrsinn, den ich hier wiedergebe? Völlig ausgeschlossen? Geht es etwa bei den Milliarden verspritzer Dosen eines nicht wirklich zugelassenen Schutzmittels um unser aller Gesundheit und wäre es daher asozial, die Goldgrube zu sehen?
Können wir aus all den Widersprüchen und Fragen noch Sinn erzeugen? Oder leben wir in einer Kultur des immer Sinnloseren?
Mit welcher Schablone im Kopf vermessen wir die Motive der Akteure? Ist es die Schablone „Wem soll es gut gehen?“ Sehen wir Widersprüche, wenn wir darauf gleichzeitig „der Wirtschaft“ und „den Menschen“ antworten? Sehen wir bevorzugte Kandidaten und aus dem Betrieb ausgeschiedene, überflüssige Protagonisten? Zur Belanglosigkeit, Nichtigkeit, zur Marginalität Bestimmte? Steht der Inanität dieser Menschen die Bonität der Wenigen gegenüber und was macht das aus uns? Sehen wir ihr zahlenmäßiges Verhältnis und was fühlen wir dabei? Wie viel von dem, was wir für unsere Gefühle halten, sind von den bevorzugten Kandidaten gestanzte Worthülsen?
Ich frage mich das in erster Linie, um besser einschätzen zu können, auf welche Art Zukunft ich mich einzustellen habe, Seite an Seite mit Menschen, deren Motive zum Handeln, deren Denken, deren (vermeintliche) Argumente mir immer schwerer zugänglich werden.
Ich frage mich dies auch im Bezug auf die schützenswerteste Gruppe der Mitmenschen: die heute ganz jungen Leute. Was von unseren zivilisatorischen, von unseren gesellschaftlichen Errungenschaften wird augenblicklich im Vorbeigehen demoliert und wie lange werden wir benötigen, um uns davon zu erholen?
Können wir sicher sagen: nichts! ? Alles im grünen Bereich?
Sehen wir – mit anderen Worten – einen „Konvoi der Freiheit“ (wie ihn einige nennen) oder sehen wir eine dumpfe Horde von „Sozialschmarotzern“, die sich aus mangelnder Solidarität mit den vulnerablen Gruppen oder sonstigen mittelalterlichen Gründen nicht impfen lassen wollen – wie uns dies in Deutschland zumindest Grün, Rot und „Links“ unisono einbläuen? Sehen wir mithin eine von den Maßnahmen schwer geschädigte, oft diffamierte Gruppe, die zu den letzten gehört, die noch nicht bedingungslos auf Linie sind? Oder sehen wir deviante Irre?
Die negative Ethik des bewusst Schädlichen
Um die Frage beantworten zu können, möchte ich auf zwei Texte verweisen: ein höchst emotionales, anonym verfasstes Manifest aus dem weiteren Umfeld der französischen Gelbwesten. Und einen soziologisch-analytischen Essay, in dem der Autor, der regelmässig bei Rethinking Marxism und Roar-Magazine veröffentlicht, der Frage nachgeht, ob die „Coronvirus-Dekade ein postkapitalistischer Alptraum“ sei oder das Erwachen eines neuen Sozialismus ankündige?
Zunächst zu letzterem Text, der zu Beginn der Pandemie veröffentlicht wurde. Der neuseeländische Theoretiker Neil Vallelly fragt in ihm bereits im Mai 2020: Wie sieht unsere Welt eigentlich in zehn Jahren aus, wenn das so weiter geht?
„Im Kielwasser der Pandemie navigieren uns Tech-Giganten in die nächste Dystopie. Sozialismus bietet eine hoffnungsvolle Alternative. Welche post-kapitalistische Welt wird sich herausbilden? … Wenn die gegenwärtigen Machtstrukturen so bleiben, wie sie sind, oder sich sogar noch weiter in Richtung Konzerne und Tech-Giganten entwickeln, wird der Postkapitalismus in noch mehr Ausbeutung und Verelendung münden. … Wenn wir das Jahr 2030 unversehrt und hoffnungsvoll erreichen wollen, dann ist es die Entfesselung eines erneuerten sozialen Bewusstseins, des Internationalismus, der Arbeiterbewegung, der ökologischen Nachhaltigkeit und des Klassenbewusstseins des Prekariats durch die Pandemie, die uns dorthin bringen kann, und nicht weiter fortschreitende Automatisierung, noch Informationsaustausch und Datensammlung. Mit anderen Worten: Ein massenhaftes sozialistisches Erwachen ist das Einzige, was uns vor einem postkapitalistischen Albtraum bewahren kann.“
Inzwischen hat Vallelly der Frage eine ganze Theorie des vorsätzlich Vergeblichen nachgeliefert: des Neoliberalismus als Wirtschaftsform des sozial Schädlichen, Nichtigen, Zwecklosen, dabei sinnlos Aufwändigen. Er nennt das – in Anlehnung an den Utilitarismus – Futilitarismus (von engl. futility). Es geht Vallelly bei der „Produktion des Überflüssigen“ (so der Untertitel seines gleichnamigen Buches) „um die subjektiven Auswirkungen unseres Wirtschaftssystems.“ (zit. Gespräch mit dem Autor)
Soweit die soziologische Perspektivierung unserer aktuellen Weltlage.
Wie betrifft dies den Konvoi? Die Menschen an den Lenkrädern der Fahrzeuge haben die fragilen Lieferketten bislang selbst unter stärkstem Druck aufrechterhalten, aber die rote Linie war offenbar der Eingriff in ihren eigenen Körper.
Auch wenn die FahrerInnen sicher wenig Zugang zu postkapitalistischer Theoriebildung haben, so ist ihnen ganz offenbar der eklatante Widersinn bewusst, der sich aus einer negativen Ethik des bewusst Schädlichen ergibt, derzufolge ohne Rücksicht auf die Integrität der Angestellten mit Gewalt in die Selbstbestimmung über den intimsten Bereich (das eigene Innere) hineinregiert wird, nur um einen Konsum in voller Bandbreite aufrechtzuerhalten, der ohnehin zu großen Teilen einem ökologisch ruinösen und daher zynischen Prinzip der Verschwendung gehorcht.
Protestpraxis des verhassten Objekts
Nun kommen die Bilder des Konvois in Europa an. Mitten in Paris sind sie zu sehen. Und wiederum sofort verbunden mit der Frage: wen sehen wir hier?
Ich zitiere ein längeres Stück einer Einschätzung eines anonym in der online-Zeitschrift „Entêtement“ (zu deutsch: Eigensinn) publizierten Textes aus dem Umfeld der Konspirationisten, Gelbwesten und der Parti Imaginaire/Tiqqun:
In den letzten Tagen (Anfang Februar 2022, Anm. d. Hrsg.) hat sich eine Trendwende abgezeichnet. Das Auto, Symbol der kapitalistischen Moderne, in dem der Körper mit der Maschine verschmilzt und das den Körper isoliert und in die Warensphäre integriert, findet endlich eine revolutionäre Verwendung! Es verkehrt seine Funktion im kapitalistischen Apparat ins Gegenteil, um ihn besser zu lähmen. Die Spannung zwischen dem Auto als Sinnbild kontrollierter Mobilität und dem Auto als Bild der Freiheit scheint nun ihre dialektischen Auflösung zu finden im Wiederaufflammen einer Protestpraxis des verhassten Objekts.
Von Kanada ausgehend, überschreitet diese Protestform nun Grenzen und gelangt in einer Zeit erlahmender gouvernementaler und medialer Feinsteuerung auch nach Frankreich.
Im Auto kommt alles Entwürdigende zusammen: der überteuerte umweltschädliche Treibstoff; der obligatorische, täglich zu fahrende immergleiche Weg zum versklavenden Job und später dann zum Einkaufen in den Abgrund hässlicher Gewerbegebiete; das Auto steht für (auf der franz. Mautautobahn; Anm. d. Hrsg.) nicht vorhandene Wahlmöglichkeiten in den Kanälen der von Leitplanken begrenzten Autobahnen, aus denen es kein Ausbrechen und Entdecken gibt.
Diesem alles erstickenden Automobil müssen wir die Freude am gemeinsamen Reisen entgegensetzen; ein Rausch der Stärke, politisch zu handeln unter Nutzung der Effizienz von Technologie ; das Glück, das Unbekannte und Ungewisse zu entdecken. Umherschweifend müssen wir wieder nomadische Erfahrungen machen!
Frankreichs Straßen werden jüngst von einer unbekannten „sozialen Nicht-Bewegung“ bevölkert, die sofort weithin verpönt ist. Dieser Nicht-Bewegung wohnt das Antipolitische inne, so wie einer gewissen anderen Nicht-Bewegung von 2018. Das Erscheinen von Antipolitik mitten im Präsidentschaftswahlkampf zeigt den Wunsch, ohne die professionellen Pfuscher der Politik leben zu wollen.
Schon vor dem letztem Freitag wurden die ersten kritischen Stimmen gegen den Konvoi der Freiheit laut. Die extreme Linke schimpft herum und empört sich auf ihren Smartphones und bestreitet einmal mehr die Einzigartigkeit des Geschehens auf den Straßen. Sie verunglimpfen die Nicht-Bewegung und finden es offenkundig passend, sie als Faschisten, „ungeimpfte Eugeniker“ und Verschwörungstheoretiker zu beschimpfen.
Ja! Es stimmt, es gibt dort rechtsextreme Gruppen. Aber sie bleiben ziemlich isoliert von den anderen Menschen dieser Nicht-Bewegung. Und nein! Es stimmt nicht, dass sich diese neue kraftvolle Bewegung gegen die Idee einer vielfältigen Gemeinschaft richtet. Im Gegenteil, die Nicht-Bewegung verbreitet eine ungeheure Freude am Zusammenleben, daran, eine gemeinsame Welt zu schaffen, aus der Isolation des Alltags auszubrechen, um das Erlebte zu teilen. All diese Bilder des Jubels bei der Durchfahrt der Konvois an den Rastplätzen, die gegenseitige Hilfe unter den Menschen charakterisieren den Tonfall einer neu errungenen Stärke, einer Gemeinschaft, die pulsiert. Man muss sich die metaphysische Leere des hässlichen Stadtrandgebiete Frankreichs vergegenwärtigen, um das Gefühl der Erleichterung zu verstehen, das mit diesem Ausbruch einhergeht. Den Wutschnaubenden, die permanent über die verlorene Reinheit (gemeint vermutlich: in den Reihen der linken Ideologie; Anm. d. Hrsg) plärren, raten wir, Linien in das Nichts ihrer erbärmlichen Existenz zu ziehen.
Das wagemutige Ziel, das sich der Freiheitskonvoi steckt, lautet Brüssel mit Hilfe anderer europäischer Konvois lahmzulegen. Dies erinnert an einen kinematographischen Konvoi, in dem sich Kris Kristofferson (durch Zusammenschluß mit anderen Truckern, Anm. d. Hrsg.) polizeilicher Verfolgung entzieht.
Zuvor war es jedoch notwendig, das Symbol der Verachtung, die „Metropole“ anzugreifen, auf Paris loszugehen. Wenn auch der kühne Versuch des Freiheitskonvois, Paris und seine Ringautobahn zu blockieren, eine hoch komplexe Schlacht bedeutete, so war die Eroberung der Champs-Élysees für mehr als acht Stunden doch ein voller Erfolg. Es war eine Riesenfreude, auf dieses berühmte Feld (im Orig.: champs, Wortspiel mit Schlachtfeld/champs de bataille und dem Strassennamen, Anm. d. Hrsg.) zurückzukehren; diese verkörperte Warenwelt wieder einmal zu blockieren; sich an die Geschichte der Kämpfe zu erinnern, die hier stattfanden; wieder einmal zu spüren, in welchem Ausmaß die Polizei überhaupt niemanden mag, und insbesondere das Gefühl von Gemeinschaft hasst. Der Polizei gelang es mit ihren Einschüchterungen und ihren Waffen nicht, den gemeinsamen Willen zur Blockade des Champs zu zerstören. Was man auch sagen mag, es war ein ethischer Sieg, nach Paris zu gehen und eines seiner Symbole zu besetzen. Der Weg ist zwar noch lang. Doch es wird künftig noch ausreichend Gelegenheit geben, der Macht Tiefschläge zu verpassen. Es gibt eine Vielzahl von Zielen und Abläufen, die es zu stören lohnt. Nicht nur institutionelle, auch industrielle.
Denn eines hat der Konvoi gemeinsam mit den „Gelbwesten“ klar gezeigt: dass unsere Welt auf Logistik fußt.
Es steht nun aus, bei diesem Konvoi der Freiheit geknüpfte Verbindungen zu vertiefen, sich weiter zu organisieren, um noch eindrucksvoller einzugreifen. Denn wie wir am Samstagabend an den Wänden der Häuser am Champs-Élysees lesen konnten: „Die Konspirateure werden triumphieren“!
(Text aus dem Französischen übertragen von Gianfranco Pipistrello / twitter @desertions_)
Nicht alle können so beherzt formulieren, so mutig denken und agieren wie die Autoren des Manifestes zur Eroberung der Champs-Élysees durch den Konvoi der Freiheit. In Deutschland bestimmen – neben einer erstaunlich breiten Zustimmung zu den Maßnahmen der Regierung – Resignation, stummes Entsetzen und Rückzug das Klima – selbst unter solchen Menschen, die wir sonst als Aktivisten sehen.
Wenn wir uns all den eingangs gestellten Fragen nicht mehr stellen mögen, uns zurückziehen, dann sind wir weder dumm noch feige. Sondern – wahrscheinlich – von der Dimension notwendigen Umdenkens überfordert. Verdrängung, Diskursverweigerung und sich nicht mehr dem Zwängen aussetzen kann eine effiziente Strategie sein, das falsche System zum Abdanken zu zwingen: so hat es Franco „Bifo“ Berardi jüngst in seinen Texten zur methodischen resignation (erschienen Teil 1 hier, Teil 2 hier und Teil 3 hier) beschrieben.
Dadurch, dass wir nur über Sprache und feste Begriffe Gedanken entwickeln und Welt verstehen können (und wenig Anderes gelernt haben), fehlt uns jetzt das „Handwerkszeug“, um zu sortieren, zu verstehen und zu reagieren – angesichts dieser wahnwitzigen Verdrehung aller Worte in ihr genaues Gegenteil, durch diese massive, handwerklich fast perfekt gemachte Gehirnwäsche-artige Kommunikationskampagne (man kann es kaum anders nennen: diese nachhaltige Zerstörung jeder Glaubwürdigkeit von Aussagen und Zahlen, diese nun wahrhaft mittelalterliche, quasi Kirchen-hafte Austreibung unerwünschter Gedanken, das freiwillige inquisitorische Mitwirken großer Teile der Bevölkerung hieran).
Aber das wird nicht immer so bleiben.
Es beginnt offenbar schon etwas anderes. Der Konvoi (als Idee der gesellschaftlichen Antwort auf das Unerträgliche) scheint mir ein Vorzeichen zu sein. Wir können die Apparate unserer Gängelung zu Werkzeugen der Erkenntnis machen. Wir werden den Sinn zurück erobern.
Heute erscheint der Text „Das Wortmonopol“ von Hanna Mittelstädt in DIE AKTION. Dazu einige kurze Vorbemerkungen. In unserer Diskussion um den aktuellen gesellschaftliche Zustand war uns schon vor zwei Jahren eine massive Kampagne zur Schaffung neuer Worte durch regierungsnahe Agenturen aufgefallen. Wir haben versucht, dem Phänomen mit einem Projekt – dem „Wörterbuch des Unrates“ – Rechnung zu tragen. Aufgrund der dicht aufeinander folgenden Wellen – nicht eines Virus – sondern machtstrategischer Eingriffe in unseren Alltag, ist das Projekt bislang nicht über erste Schritte hinausgekommen. Aber wir verfolgen es weiter.
Inzwischen sind neue Worte entstanden. Wahre Fluten. Wortfluten aus gesellschaftlichen Deichbrüchen. Sie überschwemmen uns. Sie ertränken unser Denken.
Ich nenne nur zwei: Impfdurchbruch und Verdachtsfall. Beide kaschieren Tatsachen. Der zur Naturgewalt hochstilisierte Impfdurchbruch will das Versagen der Impfung wegreden. Der Verdachtsfall soll die Nebenwirkung zur unbeweisbaren Einbildung des Kranken herunterskalieren. In beiden Fällen soll Haftung der Verantwortlichen vermieden werden. Siehe hierzu auch unsere Diskussion unter dem Artikel „Die rote Linie„.
Wahre Genies in den Agenturen der Regierung denken sich solche Worte aus; als Waffen gegen die eigene Bevölkerung. Was setzen wir dagegen?
Warum sind uns Worte so wichtig?
Worte waren schon immer die wichtigsten Werkzeuge in der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit. Wenn diese Werkzeuge stumpf werden, entgleitet nicht nur den kritischen Intellektuellen eines Landes, sondern allen Mitbürgern die Kontrolle über das Handeln ihrer Regierung. George Orwell formulierte es einmal so:
Ich möchte … darauf hinweisen, dass es zum Teil von dem herrschenden intellektuellen Klima abhängt, welcher Art der Staat ist, der uns reagiert, d.h. in diesem Zusammenhang von der Haltung der Schriftsteller und Künstler selber und von ihrer Entschlossenheit, den Geist das Liberalismus lebendig zu erhalten.
in „Rache ist sauer“ (S.171), 1948
Er hat vollkommen recht: wir könnten nicht nur, wir müssten mehr tun.
Fraglos war die Corona-Kommunikations-Strategie der Bundesregierung von Anfang an hinsichtlich ihrer psychologischen Wirkung pfiffig ausgedacht, handwerklich brilliant umgesetzt und mit viel Geld flächendeckend platziert. Aber genau das müsste den Anreiz für unsere Dichter, Denker, Philosophen eher noch erhöhen, sich ihr wichtigstes Werkzeug nicht einfach aus der Hand nehmen zu lassen. Hier scheint mir ein anderes Problem zu greifen, dass aktuell fatale Folgen zeitigt. Die Intellektuellen im deutschen Sprachraum waren (und sind – laut Selbsteinschätzung) mehrheitlich links. Links im politischen Sinne, als damit noch ein Bündel von Ideen gemeint war, die für eine menschenwürdige, gerechtere Gesellschaft standen. Dass nun ausgerechnet jene linken Intellektuellen, denen früher die Kritik am staatlichen Handeln das Zentrum ihres Denkens war, mehrheitlich zur bedingungslosen Befürwortern staatlicher Anordnungen geworden sind, führt dazu, dass keinerlei relevante kritische Theorie über das aktuelle Geschehen entsteht.
Damit ist das Feld offen für (krypto)rechte Autoren, die sich höchst erfolgreich einer wohlfeilen Staatskritik befleißigen – die, weil augenblicklich konkurrenzlos, viel Zuspruch geniesst, aber herzlich wenig zur Überwindung der geistigen Krise beiträgt.
Meine geschätzte Professorin Elisabeth Lenk hat ihren Lehrer Theodor W. Adorno gern mit einem Wort zitiert, das zwar auf den ersten Blick etwas überheblich klingen mag, aber unser jetziges Problem auf den Punkt bringt: „Wer nicht klar sprechen kann (nicht die richtigen Begriffe benutzt), kann auch nicht klar denken.“ (aus der Erinnerung an die Vorlesungen vor 40 Jahren zitiert).
Was aber tun, wenn es „die richtigen Begriffe“ nicht mehr gibt?
Je mehr uns unsere schärfsten Werkzeuge, die Worte, stumpf werden und uns zum Schluss gänzlich entgleiten, zum geistigen Eigentum jener Personen werden, die mit Worten nur Befehle erteilen und uns damit ihren Willen aufzwingen, desto weniger Handhabe besitzen wir, um uns erfolgreich wieder aus dem Dilemma herauszuarbeiten.
Es gibt viel zu tun. Arbeiten und nicht verzweifeln!
Heute erscheint in DIE AKTION ein kurzer Beitrag von Thomas Immanuel Steinberg. Der Autor war zwölf Jahre lang Controller in der Privatwirtschaft und achtzehn Jahre im Hamburger Öffentlichen Dienst. Er geht der Frage nach, inwiefern die seit Beginn der Pandemie verhängten Maßnahmen einer Prüfung hinsichtlich möglicher Erfolge unterzogen wurden.
Mit diesem Beitrag und einem weiteren, der kommenden Samstag erscheint – Neil Vallellys Text über den „Nutzlosigkeitismus“ – gehen wir der Frage nach :
Wo stehen wir zu Beginn des dritten Pandemiejahres? Was hat sich verändert auf persönliche Ebene, in gesellschaftlicher Dimension und was wird am Ende herauskommen – zu welcher Art von neuer Gesellschaft wird es sich höchstwahrscheinlich hinentwickeln? Wir fragen uns dies mit besonderem Interesse angesichts des Umstandes, dass in unserem Land eine beträchtliche, leider auch zunehmende Anzahl von Menschen „das Positive an der Pandemie“ erkennt und einige es wagen, offen über die „Pandemie als lang erwarteten Innovations-Booster“ zu sprechen. Ich habe das in meinem Artikel über Alena Buyx bereits thematisiert, der nun in einer gegenüber dem Blogbeitrag eingeschärften Fassung auch in der NRhZ erschienen ist.
In welchem Wirtschaftsbetrieb hätte man so verfahren dürfen, wie unsere Regierung mit ihrem gesamten Land? Oder hat man sich so wenig um den Erfolg der Maßnahmen geschert, dass wir – rückblickend auf die letzten zwei Jahre – zu Einsichten kommen müssen, wie sie das oben stehende Plakat nahelegt ?
In Frankreich wurden die Verben „reden“ und „lügen“ an einem Ort zusammengefasst: dem Parlament. Die Leute, die dort Gesetze erlassen, um die Menschen zum „Schweigen“ zu bringen, heißen „Parlamentarier„.
(Übersetzung des obigen Bild-Textes, Umhängeplakat, gesehen auf einer Demo in Frankreich)
Was aber sollen wir tun? Uns passiv verhalten, rät Berardi.
Wie kommt er zu solchen Überlegungen? Lesen Sie nach in Teil 1 und Teil 2.
In Teil 3 zitiert der Autor Horckheimer/Adorno. Sein Zitat bricht ab an einer höchst aktuellen Stelle, die ich hier gern ergänzen möchte. Der nächste Satz danach lautet:
An der rätselhaften Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen, in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten, an ihrer selbstzerstörerischen Affinität zur völkischen Paranoia, an all dem unbegriffenen Widersinn wird die Schwäche des gegenwärtigen theoretischen Verständnisses offenbar.
Teil 2 handelt von der Notwendigkeit, gemeinsam den Kollaps des aktuellen Systems zu beschleunigen, damit wir wieder zu einer lebenswerten Gemeinschaft zurückfinden können.
Nach Erscheinen des ersten Teils haben einige Leser mir geschrieben, es handele sich um eine „gute Bestandsaufnahme“. Der Text enthalte zwar radikale, aber „interessante, durchaus gangbare Perspektiven.“ Andere wiederum haben scharfe Kritik geübt – Berardi sei Pessimist, geradezu nihilistisch, die Lektüre deprimierend.
Ich möchte darauf zweierlei antworten.
Wer angesichts der aktuellen Lage voller Optimismus ist, muss naiv sein. Aber das legitimiert natürlich noch keinen negativen Verstärker. Berardi jedoch propagiert keine Weltsicht des Nichts. Er benutzt lediglich eine höchst präzise, geist- und humorvolle Technik der Demaskierung unserer gesellschaftlichen Antriebskräfte. Er hält dem allgemein als alternativlos bezeichneten Handeln unserer Wirtschaft solange den Spiegel vor, bis sie sich als das entblößt, was sie sonst geflissentlich verbirgt: als natur- und menschenverachtend. Offenbar können wir erst dann, wenn jemand so erbarmungslos bis zum Ende durchformuliert, erkennen, dass wir ein totes Pferd reiten, von dem wir absteigen sollten, bevor es uns beim Sturz erschlägt. Das möchten aber die Wenigsten gerne und suchen daher im Überbringer der schlechten Botschaft den Schuldigen.
Ohne sich dem Verdacht auszusetzen, Apokalyptiker zu sein, lässt sich festhalten, dass diverse Szenarien (Klima, Energie, Ernährung) in den letzten 200 Jahren gründlich so eingestellt wurden, dass es kein Zurück mehr gibt.
Das Wasser wird steigen.
Berardi bleibt – schon aus philosophischer Verantwortung gegenüber den Mitmenschen – nicht viel anderes übrig, als das mehr als deutlich festzustellen. Denn er will es abwenden. Nicht umsonst schlägt er eine „eine autonome Gemeinschaft für das Überleben“ vor. Nihilisten würden das nicht tun.
Aber es ist auch klar: wir weißen Westler können nicht auf Dauer am Rand der Klippe leben und wenn sie abgängig ist, ein Mittel hervorzaubern, das alles wieder befestigt, auf das es immer so weitergehen kann wie schon zuvor. Der Booster-Junkie ist kein role model für den Menschen der Zukunft. Noch rettet uns das Boostern vor der nächsten Pandemie, weil es deren Gründe nicht heilt. Denn, wie die Ökofeministin Starhawk in ihrem hellsichtigen Roman „Das Fünfte Geheimnis“ schon 1993 schrieb, ist Booster eine „stark süchtig machende Droge“, die uns gegen die viralen Kollateralschäden der Konzernkriege schützen soll. Halten wir fest: Selbst wenn unser Wunsch sehr stark ist, noch ein wenig im Sattel zu bleiben, wird der tote Gaul nicht mehr weiter galoppieren.
Der zweite Hinweis, wie man Berardi als durchaus aufbauend lesen könnte, hat mit Sozialisation und Jugendkultur zu tun. Der Ton, den viele ältere oder wesentlich jüngere Leser für pessimistisch halten mögen, ist in Wahrheit nur Provokation – eine methodisch angewandte Konfliktzuspitzung. Oder vielmehr eine Herausforderung der Wahrheit.
Wer – wie ich in den 80er Jahren als Punk – mit dem Idiom der Zukunftslosigkeit liebäugelte, versteht unmittelbar, welche befreiende Wirkung es hat, nicht mehr an das Morgen zu glauben, das nur eine Verlängerung der Qualen des Heute bedeutet. Gegen die Beschwerden hilft die donnernde Musik, das laute gemeinsame Heraus-Schreien, übertriebener Lärm, um das falsche Alte zu vertreiben.
Wir waren damals hauptsächlich deswegen „no future“, um einer überversorgenden, auf ewiges Wachstum und Sicherheit getrimmten Kultur ins Gesicht zu spucken, deren natürliches Ende jedem nicht vollständig ignoranten Menschen schon lange sichtbar war: 1973 erste weltweite „Ölkrise“ und dann noch einmal 1979/1980, 1986 Reaktorexplosion in Tschernobyl mit fall-out rund um den Globus; nicht zu vergessen die nukleare Wettrüsten mit Stationierung von Pershingraketen in Deutschland Mitte der 70er. Jeder, der das einmal durchdacht und durchlebt hat, dem ist klar, warum Berardi immer wieder mit musikalischen Metaphern arbeitet und seine Texte wie Songs komponiert. Es geht dabei nicht nur um eine Variation des Bonmot, man müsse den Verhältnissen solange ihre Musik vorspielen, bis sie ins Tanzen kommen. Es ist vor allem die Lust am gemeinsamen Singen, die Berardi anzutreiben scheint, als einem einfachen Akt, der Gemeinsamkeit schafft, kraftvoll ist, uns motiviert. Punk als gesellschaftliche Befreiungsbewegung war deswegen gut, weil das gemeinsam Singen funktionierte, selbst wenn nicht jeder im Chor die Fähigkeit zum Solisten hatte. So steckt in den Musik-Metaphern die wesentliche Kraft, die wir heute wieder erringen müssen: die der Solidarität.
Franco Berardi setzt tatsächlich seine Worte wie Noten. Er komponiert sie in unerwarteter Weise zur einer Symphonie des Endes (siehe „Phänomenologie des Endes“) Er verfügt über eine große Kraft des zu Ende Denkens. Ich bin versucht, ein Wort des Soziologen Immanuel Wallerstein zu variieren: Berardi denkt das herrschende Wirtschaftssystem kaputt.
Seine Liebe zur kollektiv erzeugter Musik hört man schon im ersten Satz des zweiten Teils von „Resigniert massenhaft“: Wie ein Schlachtgesang klingt es, wenn er sagt: „Es ist an der Zeit, den Kollaps zu beschleunigen, mit unseren Instrumenten mitzuspielen im Orchester des Chaos. Denn Widerstand kann die Katastrophe zwar verlangsamen, sie aber nicht aufhalten.“
Dabei denke ich an das in der Einleitung für Teil 1 benutzte Bild vom Gong. Damit klar ist, welche Art Gong ich meine: ich denke nicht an asiatische Mönche oder meditative akustische Rufe – eher an John Cage („Construction in Metal“ aus dem ersten Weltkriegsjahr 1939) oder an FM Einheit, der mit dem Fäustel auf der Bühne eine Blechplatte bearbeitet.
Auch Berardi beherrscht virtuos die Technik, das Objekt seiner Betrachtung so lange verbal anzuschlagen, bis es zum Instrument wird, das durch den Ton seiner Eigenschwingung, mit dem es auf den Impuls des Schlegels antwortet, sich selbst entäußert und über die elementaren Kräfte und nackten Materialien spricht, aus denen es gefertigt ist. Das ist kurz gesagt die Technik einer poetischen Wissenschaft, die Gewalt in Worte fassen kann und sie dadurch fühlbar und erfahrbar werden lässt.
Das mag aufgeblasen und pompös kling, doch was ich sagen möchte, ist ganz einfach: Nur Autoren, die ausreichend Humor, poetische Begabung und unkonventionelle Intelligenz besitzen, verfügen über die Fähigkeit, vor unserem inneren Auge die Zukunft wie einen Film ablaufen zu lassen.
Wer die Augen vor dem Offenkundigen nicht verschließt, weiß, wo wir stehen. Die Fakten sind hinlänglich bekannt, „die Messen gesungen“, wie es in Teil 1 schon hieß.
Jetzt sind es wir alle, die aus der gegenwärtigen „mechantery“ (Boshaftigkeit gegen das Leben) etwas machen müssen.
Eben gerade erhielt ich von unserer Freundin Hanna einen Bericht von der Demo gegen Impfpflicht in Hamburg gestern, Samstag, 8. Januar 2022. Ich möchte ihn gern einem breiteren Publikum zum Lesen zur Verfügung stellen und die Autorin ist damit einverstanden:
„Ihr Lieben, ich habe mir gestern die Demo „Gegen Impfpflicht“ in Hamburg angeguckt: die Polizei sprach von 16.000 Menschen, also waren es in etwa 20.000. Demoroute: Treffpunkt Kunsthalle, Lombardsbrücke, Musikhalle, zum Gänsemarkt runter, Jungfernstieg, zurück zum Hauptbahnhof. Als die Demospitze vom Jungfernstieg abbog, sah man die Polizei auf der Lombardsbrücke den Demozug abschließen. Rechte habe ich keine gesehen, weder im Outfit noch an Parolen noch an Plakaten oder Transparenten. Es waren „ganz normale Leute“, sehr viele Frauen, auch Pflegekräfte als Block, junge Leute, ältere Leute, Familien, sehr gemischt. Keine Szene. Ich kannte niemanden. Souveräne Demoleitung. Auf die Massen drei Lautsprecherwagen. Musikgeschmack leider etwas gruftig, aber wohl den Demonstrierenden entsprechend. Auffällig wenig Plakate und Transparente, Flugblätter gar keine. Ich konnte keine „politische“ Grundierung erkennen, nur den Bezug zum Grundgesetz. Parteipolitisch war nichts zu identifizieren. Auch den Sprecher im 1. Wagen, dem ich folgte und lauschte, konnte ich nicht politisch einordnen. Es ging von der stets freundlichen Ansprache an die Polizei: wir danken Euch für den Einsatz, der es uns ermöglicht, hier zu demonstrieren, bis zur Forderung nach Rücktritt von Bürgermeister Tschentscher. Auch die Denunzierung als „Rechte“ und „Schwurbler“ wurde zurückgewiesen, namentlich die Kritik der Partei Die Linke (Hosemann) und der taz. Das aber berechtigt. Denn eins ist ziemlich klar: da in Hamburg demonstrieren keine Rechten und Schwurbler. Das ist eine ganz andere soziale Strömung. Ich bitte Euch sehr, das zur Kenntnis zu nehmen.
Interessanterweise demonstrieren hier anscheinend Leute, die keine Gesellschaftskritik im Gepäck haben. Sie werden Impfgegner sein, Waldorf-Schüler-innen, Verteidiger des Rechts auf den eigenen Körper, homöopathische Ärzte und Patienten, alternative Mediziner und solche, die alternative Medizin nutzen und Menschen, denen der immer weiter verengte Diskurs der politische Klasse gegen den Strich geht, deren Existenz auf dem Spiel steht, wenn die Impfpflicht kommt. Die sich jetzt schon jeden Tag testen lassen müssen, dann aber gar nicht mehr arbeiten können „Die Rote Linie sind wir, Olaf“ war eine der Parolen.
Eine Frau hatte einen großen gelben Stern auf dem Mantel mit dem Wort „ungeimpft“, das werde, erfuhr ich aus der Presse, strafrechtlich verfolgt. Wenige Menschen trugen keine Maske, sie wurden zunächst alle durch kleine Polizeitrupps aufgesucht und mussten ihren Ausweis und Attest zeigen. Aber so gut wie alle Demonstrierenden trugen Maske und hielten Abstand.
Das Verschweigen der Impfschäden (es gibt bei dieser Impfung nach weltweiten Studien{LINK vom Hrsg. ergänzt, ebenso Sicherheitsbericht des Paul Ehrlich Instituts} erheblich mehr gravierende Schäden als bei jeder anderen bisherigen Impfung, bis hin zu Todesfällen), das manipulative Jonglieren mit den Zahlen (immer noch werden die Inzidenzzahlen als Angsterzeuger eingesetzt, obwohl schon lange klar ist, dass die Inzidenzzahlen nur ein sehr schwaches Grundrauschen darstellen, und dass die eigentlich wichtige Zahl diejenige der schweren Erkrankungen / Hospitalisierungen ist), war Thema der drei oder vier Ansprachen auf der Demoroute, ebenso: der Abbau von 4.000 Intensivbetten seit Ausbruch des Corona-Virus wie die unveränderte schlechte Bezahlung der Pflegekräfte und der Mangel an politischem Willen, ihre Arbeitssituation zu verbessern. Der Bezug zu den täglichen Hungertoten weltweit, zu der 300 %igen Steigerung von Suizidversuchen bei Kindern hier, zur den galoppierenden Milliardengewinnen der Pandemie-Gewinner und den Existenzvernichtungen andererseits, eine Neuorganisation des Gesundheitssystems. Die politische Forderung war ein Runder Tisch und die Diskussion der Situation auf Augenhöhe, eine basisdemokratische Minimalforderung, der man sich ja nur anschließen kann. Der Bezug auf Hamburg war stark, die Forderung nach Abtreten der politischen herrschenden Klasse, die diese teilweise strengsten Maßnahmen Deutschlands durchdrückt, offen ausgesprochen.
Am Rand der Demo standen einmal fünf Antifas mit einem Transparent: Kein Bündnis mit Rechts. Sie wurden von der Polizei geschützt, aber die Massen gingen sowieso einfach an ihnen vorbei. Und aus dem Gängeviertel stürzten sich ebenfalls etwa fünf Antifas, um sich der Demo, die genau hier vorbeikam, mit dem straßenbreiten Transparent „Zero Covid“ entgegenzustellen. Die Demonstrierenden gingen außen am Transpi vorbei, die Polizei musste die Antifas abräumen, sie ließen sich wegtragen. Das war schon extrem verpeilt. Auch als Antifa muss man akzeptieren, dass 20.000 Menschen für ihre Meinung auf die Straße gehen.
Ich habe das Gefühl, dass es bei den Demonstrierenden einen diffusen Einspruch gibt, von dem die Leute eigentlich nur wissen, dass die Impfpflicht nun echt die rote Linie ist. Und in diesem diffusen Einspruch sind sie ohne gesellschaftliche Kritik bzw. nur mit einem wachsenden Ungehagen ausgestattet. Wie gut wäre es, dieses Unbehagen in Richtung weitergehender Forderungen, einer breiteren gesellschaftlichen Kritik zu forcieren.
Wenn die Gelbwesten in Frankreich als Aufstand von Provinzlern an Kreisverkehren gegen die Erhöhung von Benzinpreisen begannen und sehr schnell, durch die Beteiligung (keineswegs Führung) von Menschen mit verschiedenen politischen Erfahrungs-hintergründen derartig radikalisiert werden konnten, wie es ja nun mal geschah, dann sollte man sich in den hiesigen Kreisen mit politischen Erfahrungen wirklich fragen, wieso diese Bewegung des Einspruchs als rechts und verschwurbelt bezeichnet/gebrandet wird. Das Label „rechts“ auf diese Menschen bedeutet in jedem Fall eine Denunzierung. Es bedeutet, sie zu isolieren.
Dass, zumindest in Hamburg, der Populismus und die Ressentiments noch nicht vorherrschend sind unter diesen Leuten, bedeutet für mich eine gewisse Reife. Vielleicht ist es eine persönliche Reife dieser Menschen, die sich mit dem Gesundheitsbegriff auseinandergesetzt haben. Das müsste man mehr in Erfahrung bringen. Auf jeden Fall ist es eine politisch gewordene Stimme, die man nicht denunzieren sollte. Ich denke, man sollte den Gedanken an eine Art Bündnis mit kritischen Geistern aus dieser Strömung, die basisdemokratischen Formaten aufgeschlossen sind, erwägen. Oder zumindest sollte man das, was da passiert, mit offenem Interesse beobachten! Ist meine Meinung. Einen schönen Sonntag wünschend grüße ich Euch herzlich Hanna
Nach Desertiert aus dieser Gesellschaft – sie mündet in Vernichtung! von Julien Coupat ist „Resigniert massenhaft!“ von Berardi der zweite Schlag an den Gong. Sein idiophonetischer Ton verkündet: „Es ist vorbei!“ Manchem mag das zu pessimistisch klingen. Berardi dient es als Aufruf zum Massendefätismus, als Mittel, eine radikal neue Gesellschaft zu begründen.
Fremd wie das Auftauchen eines längst ausgestorben geglaubten Büffels im Großstadtdschungel, erscheinen die Metaphern Berardis in unserem Denken.
Er präsentiert den Text als „paradoxe Strategie“ und fordert dazu auf, die jetzige Gesellschaft ins Chaos zu führen, womit er auf sein eigenes älteres Konzept der autonomen Lebensgemeinschaften verweist: CAOS, das ist die Comunità Autonome Operative per la Sopravvivenza, die autonome Arbeiterkommune für das Überleben.
Der Originaltitel,“Rassegnatevi“, unter dem der Text am 1. Dezember 2021 bei Nero Edtions in ihrem online-Magazin „not“ erschien, ist ein Wort, das man ins Deutsche schwer in dieser Härte und Kürze übertragen kann.
Es bedeutet, dass wir „zurücktreten“ sollen, keinen Widerstand mehr leisten gegen ein falsches Regime. Denn Widerstand würde dessen Laufzeit bloß verlängern. Aber „zurücktreten“ können wir eigentlich nur aus einer offiziellen Bestallung. Als Mensch kann man höchstens aus Protest die Arbeit niederlegen (Streik?) oder resignieren. Aber das klingt uns wiederum, obwohl Berardi unseres Erachtens alle diese Facetten anspielt mit der Wahl dieses Titels, zu depressiv.
So daß „rassegnatevi“ vielleicht mit „Verweigert euch!“ gut übersetzt wäre. Doch tönt das gar zu bieder – angesichts eines solch gewaltigen Gedankens, endgültig Schluß zu machen mit dem Festhalten am irreparablen System. Es ist nicht reformierbar.
Auch „Steigt aus!“ ließe fälschlicherweise an romatisches Aussteigertum denken, wie es mit Bezug auf Thoreaus „Walden“ als Flucht aufs Land bekannt ist. Da es aber keine Zufluchten mehr gibt in unserer „nazi-liberalen“ (Berardi), mit rund 450.000 erdnahen Satelliten lückenlos die Erdoberfläche ausleuchtenden, wirtschaftsgeleiten Kultur, geht auch diese Übersetzung fehl. Auf dem Globus bleibt fast kein Ort für einen Rückzug, fast keine alternative Umgebung. So sucht Berardi innen in uns nach der geeigneten Haltung angesichts des Wahnsinns unserer Umwelt.
Eher passt daher schon der Verweis auf Kafkas brilliante Miniatur „Gibs auf„. Damit wären die angemessene Klarheit und Härte und Unumkehrbarkeit in der Übersetzung des Titels. Doch schien uns das schon wieder zu weit entfernt von Berardis intendiertem Wortspiel mit Resignation, Re-Signifikation und dem doppeldeutigen des englischen Bezugswortes, wo es auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch verweist (great depression). So dass wir uns am Ende für „Resigniert massenhaft!“ entschieden haben, weil darin der zentral wichtige Aspekt des Streiks am stärksten hervortritt.
Teil 2, „Die nukleare Option“ (in italienisch publiziert am 21. Dezember 2021, als Teil von Berardis „Nachrichten über die Psychodeflation„) erscheint in Kürze ebenfalls in DIE AKTION als deutsche Erstveröffentlichung.
Teil 3 und 4 sind derzeit in Vorbereitung und werden in den kommenden Wochen zunächst in Italienisch veröffentlicht: eine neue „Phänomenologie des Endes„, wie der Verlag Nero sie 2020 am Anfang von COVID publizierte.
Wir werden nicht aufgeben und diesen Prozeß mit den entsprechenden deutschen Übertragungen begleiten!
Darin heisst es mit Bezug auf COVID, den „Angriff der Natur“:
„Zunächst fühlten wir uns als ein bedrohter Körper vereint.
Dann griff die Technik ein … und brachte die chemisch-algorithmische Formel eines Impfstoffs hervor, der eigentlich kein Impfstoff ist, sondern eine mutagene Prothese, die in unser Immunsystem eingesetzt wird. Innerhalb weniger Monate folgte die Herstellung von Ampullen, Seren, Behältern – kurzum, die gesamte industrielle Kette, die Schutz und Immunität verfügbar macht.
Wir sind also in die zweite Phase des viralen Zeitalters eingetreten. Die Haltung der Menschen gegenüber den Menschen hat sich geändert. Sie leiden nun nicht mehr gemeinsam unter dem Angriff der Natur, sondern konkurrieren um die Macht über die Impfstofftechnik.
Das Regime des Mangels an lebensrettenden Verteidigungsmitteln stellt den Zustand des Krieges wieder her, der ausgesetzt war, solange wir in unserer Wehrlosigkeit vereint waren.
Der Umprogrammierungsimpfstoff wird zum Terrain, auf dem die symbolischen Spiele von Wirtschaft, Geopolitik und Krieg neu definiert werden.
Auch Immunität wird zu einer Ware. Als Produkt der technisch-wissenschaftlichen Arbeit von Virologen, Biologen und Ingenieuren, als Objekt der unternehmerischen Aneignung, die es der Herrschaft des Profits unterwirft, stellt die Immunität die neue Grenze der menschlichen Sklaverei dar.
Wenn der Besiegte vor dem Sieger kniet und verlangt, dass er und seine Kinder verschont werden, wird der Besiegte zum Sklaven, und seine Kinder werden mit ihm versklavt. Leben, einfach Leben, egal welches Leben.
Sklave ist derjenige, dem das Überleben gewährt wurde. …
Von diesem Moment an ist die Geschichte der ehemaligen menschlichen Rasse vorbei. Die Geschichte der Herde beginnt. Es ist eine Geschichte der Unterwerfung unter die höhere Macht der Immun-Reprogrammierung, die entscheidet, wer es verdient, als Sklave zu überleben und wer es verdient, ausrangiert zu werden.“
„Das Unvorstellbare“ war, wie ich heute weiß, nur die Overtüre für einen phänomenalen Wurf, den Berardi in zwei Teilen Anfang Dezember und wenige Tage vor Weihnachten 2021 veröffentlichte und dessen deutsche Übersetzung wir in den nächsten Tagen in der AKTION herausbringen wollen.
Bis ich diesen neuen Text las, hatte ich nicht erwartet, dass noch einmal ein Autor unsere sich blitzschnell wandelnde Welt so schonungslos zeigen und dies so beeindruckend formulieren könnte, wie es im vergangenen Jahr Julien Coupat im vergangenen Jahr mit „Wir haben gesehen“ gelungen ist.
Berardis großer Coup heisst im Original „Rassegnatevi“ und erscheint nun – nur wenige Tage nach der Originalpublikation in Italienisch – in DIE AKTION erstmals auf Deutsch.
Der Ernstfall
Ich hatte jene komplexen und radikalen Gedanken von Berardi im Kopf, als mir die Kulturstiftung des Bundes (das ist der Geld-spendende Arm des Beauftragen des Großkanzlers Scholz für Kultur und Medien, BKM) die neueste Ausgabe ihres namen- und bodenlosen Magazins wie immer unaufgefordert zusendete.
Der Interviewer ist nicht etwa ein Künstler, denn die Kulturstiftung des Bundes ist offenkundig nur noch nominell mit Kunst und Kultur befasst. Sie hat bereits seit vielen Jahren eine eigene Kultur der sog. Initiativprojekte entwickelt, mit denen sie dem Staat genehme Themen als unabdingbare Fördervoraussetzungen für Kunstprojekte etabliert. Mit der Nummer 37 ihres Hausmagazins wird nun ihre neue Rolle als kulturell getarnter Arm der Bundeszentrale für politische Bildung offenkundig.
Um die Ziele der Corona-Kommunikation der Bundesregierung maßgenau einzuhalten, hat man vom Risiko der Wahl eines womöglich unabhängig denkenden Künstlers als Fragensteller abgesehen und Frau Buyx mit einem Ökonom sprechen lassen. Ökonomie ist ja ohnehin unsere stärkste Kultur.
Der Fragensteller Robert Lepenies ist ausweislich der Kurzbiographie des Kulturstiftung Professor für „heterodoxe und plurale Ökonomik“ an der Karlshochschule in Karlsruhe. Drei Worte, drei Fragezeichen.
Mir fällt der Witz ein, dass am Hauptbahnhof Berlin für eilige Kunden auf dem Weg zum Bewerbungsgespräch ein Visitenkartendrucker stehe, der unter der Namenszeile ein Feld für eine obligatorisch dreiteilige, englischsprachige Berufsbezeichnung bietet: „junior webdesign consultant“ – die pompöse Null.
Um was geht es nun in dem Gespräch?
Das umfängliche Transkript ist kein Interview im engeren Sinn. Der Fragesteller assistiert der Befragten durchweg, ist hilfreicher Stichwortgeber. In einigen Fällen, in dem ihm die Gesprächspartnerin nicht scharf genug ist, radikalisiert er sie sogar.
Das Ganze steht im Zeichen der „Sollbruchstellen kommender Krisen“. Bereits die Anmoderation ventiliert die „Chancen institutioneller Veränderungen im Krisenmodus“: was könnten geeignete Maßnahmen sein zur notwendigen „Anpassung gesellschaftlichen Verhaltens“ und unseren „Umbau für den Ernstfall“?
Wer sich von dem an sich schon hinlänglich eingetrichterten dystopischen Diskurs („kommende Krisen“ = es kommen gewiss noch viele – ohne zu fragen, wer sie macht; „Umbau“ = du musst dich verändern, sonst wirst du verschwinden; „Sollbruchstelle“ = alles wird kaputt gehen, weil es so vorgesehen ist) nicht abschrecken lässt, wird allerdings schwer verschreckt, wenn er liest, was im Kopf einer hauptberuflichen, regierungsnahen Ethikerin vorgeht.
Die „liebe Frau Buyx“ (Lepenies) – um es gleich vorwegzunehmen – denkt, laut Selbsteinschätzug, „realethisch“ (S. 13).
Was mag das bedeuten?
Wenn bei der klassischen Ethik das moralische Handeln im Zentrum steht, muss wohl analog bei der „Realethik“ der Frau Buyx das Amoralische zulässig sein, wenn es denn nützt. So sagt sie schlussrichtig im Interview gegen Ende auch, das sittliche Verständnis (so etwa die direkte Übersetzung des Wortes Ethik) sei stets im (nationalen) Kontext zu betrachten sei: „Im Staatswesen geht die eigene Bevölkerung ganz klar vor den distant others.“
Dazu kommt mir ein Bild aus Berardis „Gibs auf!“ in den Sinn: er sieht den sprichwörtlichen alten weißen Mann, der sich „Injektionen, Injektionen, Injektionen“, eine nach der anderen reinjagt, ein hässlicher bleicher Junkie, dem der globale Süden schnuppe ist.
Solche Gedanken darf man also haben und äußern, wenn man Mitglied des Etikrates ist. Damit keine Mißverständnisse entstehen, sagt Frau Buyx auch klipp und klar: die Betonung läge auf „Deutscher Ethikrat“.
Bis hier hin habe ich durchgehalten. Aber an dieser Stelle muss ich erwähnen, rein informativ: Frau Buyx ist knallblond und stinkreich.
Zur Ermittlung der Haarfarbe diente mir das Internet (Bildersuche). Den Beweis für ihre Gehaltsklasse liefert sie selbst. Auf die Frage „Zu welchen gesellschaftlichen Gruppen und zu welchen Ängsten haben sie denn einen besonderen Zugang?“ antwortet sie keck:
„Ich war im positiven Sinne von vielen Angstkulissen isoliert. Unsere Wohnung war nicht winzig klein.“
Ja, das muss man wohl bestätigen: in der Ausgangssperre ist eine weitläufige Wohnung äußerst „positiv“! Auch junge erfolgreiche Frauen können alte weiße Männer sein.
Ich will nicht zu viel verraten von dem, was im übrigen Gespräch gesagt wird. Es lohnt, es einmal selbst zu lesen, um zu wissen, wohin „unser Zug“ fährt.
Doch zwei Dinge liegen mir sehr am Herzen. Ich kann nicht schließen, ohne auf sie zu verweisen.
Frau Buyx ist eine ausgeschlafene Formulierungskünstlerin und beherrscht die Rhetorik des „project fear“ wie kaum jemand sonst. Das Gespräch ist von Angst-Metaphern gerahmt, alle zentralen Kampagnen-Stichworte fallen gleich eingangs (Bergamo, Triage, „eigene Angst hat die Funktion, auf den Ausnahmezustand zu verweisen“, nicht zu vergessen die brandgefährlichen Narrative der Corona-Leugner etc.).
Zum Schluß zieht sie noch einmal alle Register ihre Redekunst. Sie benutzt die Figur der Verneinung, um Angst zu schüren.
Sie sagt: „Ich bin niemand, die sagt: Uns stehen jetzt Krisen ins Haus, die noch viel schlimmer werden als das hier. Das wäre Katastrophisieren. … Aber ja, so etwas wird wieder passieren, das war nicht die letzte Pandemie.“
Das ist schon sehr pfiffig, wie sie das macht. Sie streicht dabei gleich noch den Vorzug der „Krise“ heraus: Pandemie, das sei ein gewaltiger „Innovationsschub“. Wir profitieren von der Katastrophe. Diesmal waren die „weltbesten Logistiker“ aus Deutschalnd noch nicht federführend bei der Bewältigung der Krise beteiligt, aber diese „absoluten Spitzenunternehmen“ werden eine „Art Task Force“ aufstellen und sollten damit „jenseits von Legislaturperioden“ künftig über ausreichende „Durchgriffsmöglichkeiten verfügen“, um die „Quadratur des Kreises“ zu bewirken.
Womit wir beim zweiten Thema wären: dem Umbau unserer Gesellschaft nach der buyxschen Fasson, die im Kern die „Ethik“ in den Rahmen der „Ökonomik“ stellt.
Sie leitet das Motiv auf Seite 12 mit einem Zitat von David Rockefeller ein, ohne es als Zitat auszuweisen. Sie sagt: „Wir haben jetzt ein günstiges Gelegenheitsfenster, um uns neue Strukturen zu schaffen. Das muss man nutzen.“
Rockefeller sagte in seiner umstrittenen und oft als „deep fake“ bezeichneten Rede vor dem Business Council der United Nations am 14. September 1994: „We are on the verge of a global transformation. All we need is the right major crisis and the nations will accept the New World Order. But this present window of opportunity… will not be open for long.“
Nun gut, selbst wenn das oft zitierte Wort eine Fälschung ist, so klingt doch „günstiges Gelegenheitsfenster“ ziemlich exakt wie eine holprige google-translate-Übersetzung von „window of opportunity“ und „Das muss man nutzen.“ scheint mir doch recht ähnlich zu „will not be open for long.“
Warum Buyx ausgerechnet dieses Zitat benutzt, obwohl es in der Literatur als beständiger Beleg für das „Narrativ“ der Verschwörungstheorethiker („new world order“) gilt, oder ob sie diesen Gedanken genau in dieser Form selbst gedacht hat, ist mir nicht recht klar. Aber angesichts der zuvor aufgezeigten Gerissenheit der übergreifenden Konzeption ihrer Antworten mag ich nicht an Zufall glauben. Es ist eher ein offenes Kokettieren mit autoritärem (Berardi würde sagen „nazi-liberalem“) Gedankengut.
Dieser Eindruck bestätigt sich nur zwei Zeilen später. Frau Buyx möchte das Bundesgesundheitsamt wieder einführen. Sie hält diese Idee für einen „absoluten no brainer“ (im Original kursiv, soll heißen: Zaudert nicht! Denn darüber gibt es kein Nachdenken!).
Das Bundesgesundheitsamt ist – wie schon zu vermuten war – tatsächlich die Nachfolgeorganisation des Reichsgesundheitsamtes und wurde von keinem Geringeren als Dr. Helmuth Kohl wegen schwerwiegender Fehler aufgelöst. Das ist offenbar der Typus von Historie, der Frau Buyx gefällt.
Nicht etwa, dass sie vorschlägt, etwas radikal Neues, ein Anti-COVID-Amt oder eine Pandemie-Präventionsinstitution, zu erfinden. Nein, es muss gleich die einzige Behörde sein, die je wegen Inkompetenz aufgelöst wurde.
Buyx sagt: „Es ist nun offensichtlich geworden, dass wir sie (die Institution Bundesgesundheitsamt) gebraucht hätten…“
Wen? Das Amt, das am 30. Juni 1994 nach fast 600 Toten infolge HIV-verseuchter Blutpräparate seinen Dienst beenden musste? Ein Amt, das schon wankte, weil es just zuvor einen Skandal hinter sich gebracht hatte, da Warnungen vor gesundheitsschädlichen Holzschutzmitteln unterblieben, die in seinen Zuständigkeitsbereich gefallen wären? Ein Amt, dessen Vorgängerorganisation zwischen 1933 und 1945 die Rassenpolitik der Nationalsozialisten umsetzte, indem es Zwangssterilisationen anordnete?
Was steht uns da – selbstredend nach deutsch-gründlicher Reformation des Amtes durch den Wirtschafts-„Liberalismus“ und unter den Auspizien des Deutschen Ethikrates – ins Haus?
Ein ganz besonders effizientes Zwangsanordnungsorgan – eine pandemic response force?
„Liebe Frau Buyx“, sind Sie wirklich sicher, dass „nun offensichtlich geworden“ ist, dass wir genau dieses Amt jetzt wieder brauchen?
Liebe Kulturstiftung des Bundes, liebe Hortensia Völckers, sind Sie in Ihrem Amt wirklich so geschichtsvergessen, dass Sie jemandem wie Frau Buyx ein Forum bieten, ihre Visionen über die „Anpassung (unseres) gesellschaftlichen Verhaltens“ zu verbreiten? Einer Frau, die auf ihre luxuröse Wohnung stolz ist und als einzigen konkreten Vorschlag für den angeblich höchst notwendig anstehenden „Umbau unserer Institutionen für den Ernstfall“ die Wiedereinführung eines Amtes vorschlägt, das wie kein zweites die Würde und Unversehrtheit der Menschen angetastet hat in den vergangenen Epochen?
„Liebe“ Kulturstiftung, „lieber“ Ethikrat!
Sie haben aus meiner Sicht mit der Verbreitung solchen Gedankengutes Ihre Berechtigung verwirkt, die Begriffe „Kultur“ und „Ethik“ im Namen zu führen.
Ich spreche Ihnen für die Veröffentlichung meine tiefe Verachtung aus.
Ich streiche Sie aus dem Kreis der von mir geachteten Kulturverwalter, Mediziner und Philosophen.
Treten Sie zurück!
Und wir?
Was sollen wir tun?
Wir müssen einem Land, in dem solche Gedanken unwidersprochen verbreitet werden, die Gefolgsamkeit aufkündigen!
Heute ist die erste Lieferung meines neuen Buches aus der Druckerei gekommen und ab morgen versandbereit! Es ist wie Unterdeutschland bei mox& maritz Bremen erschienen.
Eine Freundin schrieb mir heute dazu: „Beim Lesen der Ankündigung Deines neuen Romans musste ich unweigerlich daran denken, wie es uns mit unseren pubertären, sich gegen alles auflehnenden Kindern gegangen ist, wo schon ein „Guten Morgen“ die erste Lüge des Tages war. Weihnachten saßen wir dann auch nicht unter dem Tannenbaum – Weihnachten war als Kommerz-Veranstaltung verachtet und geächtet – sondern im Gorki-Theater und haben uns „Kommunismus für Wahnsinnige“ angesehen. Nun bin ich gespannt, wie es Deiner Romanfamilie ergangen ist.“
Am 16. Dezember 2021 beginnt die Auslieferung meines neuen Romans “KAISERGABEL”. Er erscheint – wie schon “Unterdeutschland” – bei mox&maritz Bremen und kann ab dem 10. Januar 2022 in jedem guten Buchladen bestellt werden. Wer unbedingt gern schon ein Exemplar vorab oder ein signiertes Exemplar haben möchte, schreibt mir eine Mail über diese Website.
1975. Wir haben schulfrei, meine Schwester und ich. Mutter hatte schon zum Frühstück gesagt, das sei kein Grund, morgens um 9:00 Uhr Schallplatten zu hören. Dabei tat sie wieder einmal so, als wenn sie nur mit mir redete. Meine Schwester behandelte sie wie Luft.
Von meinem Platz vor dem Fenster konnte ich über das kiesbedeckte Flachdach unseres Anbaus gucken, und über die Garage vom Telefunken-Direktor, deren Dach ebenfalls eingeteert und mit Kies bedeckt ist. Scheelhaases machen uns immer alles nach. Das nervt Mutter. Hinter der Garage die leere Straße. Wie üblich.
Über mir hängen zwei Poster. Der Mond, erdabgewandte Seite. Daneben T. Rex in schwarz-weiß, die seltene Beilage zur Erstauflage von Electric Warrior 1971.
Zwei Fotos, zwei Ziele. Erstens. Möglichst weit weg kommen von hier, auf die erdabgewandte Seite. Dabei zweitens möglichst lässig aussehen, so wie Marc Bolan. Er sitzt auf einem zerknautschten Sessel. Sein linker Arm liegt auf einem Stück weißer Spitze. Ich vermute, die Stickerei verdeckt eine Schadstelle an der Lehne. Während die rechte Hand komponiert, reibt die linke eifrig den Stoff runter. Ein blanker Fleck auf seiner Seele. Den will er natürlich nicht zeigen. Genies sind nicht nervös beim Komponieren.
Genies sind völlig entspannt.
Wie gesagt, der Sessel ist oll. Aber fett wie ein Thron. Vor dem Thron schwebt ein Glas Weißwein auf einem Glastisch. In seinem Rücken, klein wie Spatzen auf seiner Schulter, Mickey Finn und die anderen Musiker. Alles ist mit Orientteppichen ausgelegt. Nicht so mein Stil. Aber ich verstehe schon. So eine Teppichhöhle, das ginge bei Eltern gar nicht. Außerdem hat Bolan ein Bein untergeklappt. Der Stiefel steht auf dem Sitzkissen. Das ist pure Provokation. Mitten im Wohnzimmer. Die Schuhe auf dem Möbel.
Vater hat meinen Mond auf eine Pressspanplatte aufgezogen. Mit Leim. Weil Pressspan selbst hauptsächlich aus Leim besteht, hat er auch die Rückseite beklebt. Neutral, einfach mit einem Bogen Papier. Vater kennt sich aus. Er ist nicht umsonst Ingenieur. Techniker wissen, wie das geht. Wenn er sich schon die Mühe macht, soll die Platte sich nicht krummziehen.
T. Rex habe ich mit Tesa zwischen die lichtgrauen Regalböden von Dieter Rams geklebt. Nicht ideal. Dafür ging es schnell.
Vater hat für den Mond den ganzen Samstag Vormittag gebraucht. Blasen waren das Hauptproblem. Blasen mitten im Bild, da wo eigentlich Krater liegen.
Wir wohnen Nummer 1. Am Ende vom Sack. Oder ganz vorn, wie man’s nimmt. Jedenfalls direkt am Wendehammer. In der Nische vor Nummer 5, hinter den Scheelhaases, parkt der Mercury Cougar von Herrn Amiri.
Herr Amiri ist Perser. Seine Firma ist gerade pleitegegangen. Am Ihme-Zentrum. Den Cougar durfte er behalten. Beziehungsweise gehört der jetzt seiner Frau. Der Cougar ist kobaltblau metallic. Ein echter Lichtblick. Wenn es in Hannover ausnahmsweise mal nicht regnet, glitzert der Lack in der Sonne wie die Schah-Moschee.
Ölkrise hin oder her. Mit dem Cougar kommst du sehr schnell sehr weit weg von hier. Über die Fähre nach London zum Beispiel, T. Rex besuchen. In London regnet es auch dauernd. Nichts hat nur Vorteile. Vorläufig, solange der Führerschein noch in weiter Ferne liegt, bleibt mir wenigstens die Musik.
Marc grient mich an. Eine Locke hängt über seine Stirn an der Nase vorbei bis zum Kinn herunter. Er sagt, du schaffst es. Halte durch.
An der Anlage habe ich kürzlich viel verbessert. Die innen vergoldeten Lautsprecherkabel wurden neu verlegt. Schräg, ohne scharfe Knicke. Das optimiert den Sound, weil weniger Ohm entsteht. Habe ich mir sagen lassen. Ohm will man nicht haben. Der brummt.
Ich habe kalte Füße. Kein Sessel zum Hochstellen, wie in Bolans Wohnzimmer. Socken auf Teppichboden, das wärmt nicht richtig.
Wenn es stimmt, dass der ganze Bau aus massivem Kalksandstein bestehts, zwei Schichten gegeneinander gemauert, und mit den angeblich vollkommen ausreichenden sechs Zentimetern Coloroc zusätzlich gedämmt, dann musste das Konstrukt an dieser Stelle ein Loch haben, genau dort, wo ich saß, um Schularbeiten zu erledigen. Coloroc – die hinterlüftete Steinfassade aus Schweden hatte zweifelsohne von dort oben kalten Zugwind mitgebracht. Im Vertikalschnitt ohne Abstandsleisten kann man gut sehen, wieviel Platz für den eisigen Atem des Nordens da bleibt. Und überhaupt haben Vorhangfassaden nur einen einzigen Vorteil: Man kann die angeblichen Steine, in Wahrheit aufgeschäumte Rauhputzplatten, die mit echtem Stein soviel zu tun haben wie eine echt fotografierte Holztapete mit einem Brett, jederzeit von ihren säurefesten Bügeln an den Montageleisten herunternehmen und Ersatzschlüssel dahinterschieben. Oder Geheimbotschaften. Dabei kannst du aber für sicher davon ausgehen, dass du dir die Haut der Handrücken zerkratzt, weil die Kanten von dem Zeug messerscharf sind: Das Ergebnis von jahrelanger Forschung und Entwicklung. Solche kleinen Schrammen und Hautabschürfungen sind verräterisch. Immer beide Hände zugleich. Mutter wusste daher, wann wir wieder an der Fassade rumgefummelt und etwas dahinter versteckt hatten. Im Haus war wenig Chance, etwas unbemerkt zu tun.
Ich schaute auf die leere Gummimatte vom Plattenspieler und beschloss: Heute ist der Tag der Abrechnung:
Sippenpanorama I.Ich stamme aus einer ganz normalen Familie. Meine Mutter wäre, wenn es zu ihrer Zeit schon freie Berufswahl für Frauen gegeben hätte, sicherlich Diktatorin geworden.
Punkt. Das sitzt. Da kann ich direkt Teil zwei hinterherschieben.
Die Pflicht, die gesamte Weltbevölkerung einer Gentherapie zu unterwerfen mit Mitteln, die bei ihrer Zulassung sämtlich noch nicht auf systematische Nebenwirkungen getestet, für deren Anwendung wir also Probanden waren, ist nicht nur medizinisch nach hinten offen, wie dieser Bericht zeigt, denn es wurden „bei BNT162b2-Empfängern (Biontech/Pfizer) vier schwerwiegende unerwünschte Nebenwirkungen festgestellt: Schulterverletzung im Zusammenhang mit der Verabreichung des Impfstoffs, Lymphadenopathie in der rechten Achselhöhle, paroxysmale ventrikuläre Arrhythmie und Parästhesie im rechten Bein.“
Die Impfpflicht ist auch rechtlich interessant.
Die Bundesregierung zieht sich bigotterweise im Moment noch aus der Affäre, weil die Impfempfehlung ja „beim Kunden“ in einer freiwilligen Annahme des Angebotes resultierte. Sollte die gesetzliche Impfpflicht nun – wie es aussieht – kommen und somit die mRNA-Gentherapie auch rechtlich mit Impfstoff gleichbehandelt werden, hätte man bei Nebenwirkungen wohl prinzipiell einen Entschädigungsanspruch gegen den Staat.
In jedem Fall zeigt Hanna Mittelstädts Beobachtung ein Muster: Versuchskaninchen muss man einsperren, damit sie nicht weglaufen.
Ein Gedankenpotpourri zum Thema Ausgangssperre für Ungeimpfte und 3B (das Berliner Nachimpfkonzept: alle gehen zum Boostern bei Beerenwein und Bratwurst ins Seniorenheim nebenan). Dazu einige philisophische Überlegungen von Giorgio Agamben über Sprache und Freundschaft, vorgeschlagen von unserer Freundin und AKTION-Autorin Hanna Mittelstädt.
Hocken wir – sinnbildlich gefragt – strampelnd auf einem Mini-Fahrrad im Kinderkarussell, das sich ohne unser Zutun immer schneller dreht? Oder sitzen wir schon auf dem rasenden Teufelsrad ?
Du gehorchst, damit es aufhört.Aber solange du gehorchst, wird es nie aufhören.
Transparent auf einer Demo gegen den europäischen Impfpass in Italien
Rummelplatz
Fahrgeschäfte auf Jahrmärkten haben mich schon immer magisch angezogen. Ich bin aber selber nie eingestiegen. Andere zu beobachten hat mir gereicht. Vielleicht hatte ich Angst, nicht mehr rechtzeitig aussteigen zu können? Oder es gab ein traumatisches Erlebnis auf dem Kinderkarussell? Ich sass auf einem Karussellfahrrad und strampelte. Wie jedes Kind glaubte ich, das Tempo des Karussells hinge davon ab, wie stark ich in die Pedale trete. Als es mir zu schnell wurde, hörte ich auf. Das Tempo nahm trotzdem zu. Ich trat rückwärts. Bremste. Trotzdem: Schneller schneller! Ich schrie, zappelte, wollte absteigen, aber alle brüllten mich an: bleib im Sattel!
Ein Albtraum, für den meine Eltern Geld bezahlt hatten.
Fünfzig Jahre später. Ein Freund hat mir ein Klapprad geschenkt. Meine Knie passen nur unter den Lenker, wenn ich die Sattelstütze so hoch ausfahre, dass ich mir wieder wie auf dem Kinderkarussell vorkomme. Ich quäle mich gegen den Wind einen Damm entlang. Nach einer Stunde gebe ich auf und wende. Mit Rückenwind muss ich nicht einmal mehr treten. Die Fahrt geht immer zügiger voran. Der Kanal neben mir nimmt ebenfalls Fahrt auf. Schäumt über. Es kommen Böen mit Orkanstärke. Ich fliege voran, kriege wieder die alte Angst. Zum Glück, schießt es mir durch den Kopf, während ich fast schwerelos auf dem Klapprad dahinfliege, sind Rausch, Rummel und Volksbelustigung heutzutage eh verboten. Jedenfalls für Leute ohne Impfpass, Green Pass, Pass Sanitaire. Booster, Booster und noch ein Booster. Hohe Viruslast und Du bist schuld! Ich? Nein! Wer? Du? Doch ich. Ja, ich selbst. Aber was habe ich denn gemacht? Ist doch kein Karussell. Das ist ja eine Geisterbahn.
Achtung: veränderte politische Rahmensetzung!
Eingermaßen unbeschadet zu Haus angelangt, erhalte ich eine Email, die sich liest, als stamme sie direkt aus dem Antriebszentrum des Kinderkarussells.
Ich zitiere aus der Email und ihrem PDF Anhang („Pressemitteilung des brandenburgischen Regierungssprechers Florian Engels zu Ergebnissen der Kabinettssitzung vom 23.11.2021“) nur die auffälligen Keywords – neben den Fragezeichen und assoziierten Worten, die beim Lesen in meinem Kopf entstanden.
Liebe Unternehmerinnen und Unternehmer in Brandenburg, Betreff: Informationen zur Corona-Landesverordnung Datum: 24. November 2021 13:18:40 MEZ, von der Potsdamer Industrie- und Handelskammer, dem „IHK-POT Corona“: Ausgangsperre für Ungeimpfte, Auswirkung auf den UNTERNEHMERISCHEN ALLTAG!? Viruslast, härtere Strafen, strengere Auflagen. Zwangsimpfung. Alle geimpft. Trotzdem: Volksfeste? Nein. Weihnachtsmarkt? Nein. Disko, Club, Festival? Nein. Bist du schon mal auf einem „Spezialmarkt“ gewesen? Nein? Egal. Geht sowieso nicht mehr. Personenobergrenze. Einschränkung. Auslastung. Absage. Lohnfortzahlung? Nein. Kündigung. Ja! Körpernahe Dienstleistung? Nein! Aber was ist das denn nun wieder? Egal, sowieso kein Zutritt zu den jeweiligen Angeboten. Verordnung, Verordnung zur Eindämmung, Verordnung. Nur ungeimpfte Jäger sind ausgeschlossen von der Beschränkung. Ehrlich? Ja, so steht es dort! Ich schwöre. 3G, 2G, 2G-Plus-Regel, nein 3 G! 3G-Nachweise vor Betreten der Arbeitsstätte. Ausweitung, Ausweitung. Verpflichtet! Bei Nichtbefolgen Strafe. Vor dem ersten Luftholen: Berechtigung nachweisen! Erfasst, gültig, dokumentiert. Dynamische pandemische Entwicklung. Homeoffice, besser zu Hause bleiben, Rechte und Pflichten, Mut, verhindert, Hotline. Informieren Sie sich! Achtung: zeitweilig verzögert sich der Verbindungsaufbau aufgrund starker Frequentierung. Achtung: veränderte politische Rahmensetzung! Verschärft. Tägliche Überprüfung. Es drohen hohe Bußgelder.
Es saust nur so um uns herum: Überbrückungshilfe III Plus ist über Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und gelistete Rechtsanwälte zu beantragen. Ein Antrag auf Neustarthilfe Plus ist… am Ende, Enddatum, am Ende unnötig, denn das Ende ist da …ein Gelächter von fern, vom anderen Ende des Universums.
Trotz aller Einschränkungen möchte ich Ihnen auch mit Blick auf das kommende Jahr Mut zusprechen – die IHK Potsdam steht weiter an Ihrer Seite. Mit freundlichen Grüßen, Ihr Peter Heydenbluth, Präsident Industrie- und Handelskammer Potsdam.
Meine Beine fangen an, wie lösgelöst von mir Radelbewegungen auszuführen, während ich den Text der Handelskammer lese. Aber rückwärts. Das ist fatal. Das geschenkte Klapprad hat dort, wo ich die Rücktrittbremse vermute, eine automatische Gangschaltung, die beim Rücktreten einen Gang höher schaltet.
Ich rase voran, wo ich bremsen wollte. Alles passiert scheints unabhängig von meinem Verhalten. Ich spüre: bald, unter der neuen „Fortschrittsregierung“, wird alles noch viel härter.
Nun kapiere ich endlich, was das Gefühl, wieder auf dem Kinderkarussell zu sitzen, mir sagen wollte:
ich komme „voran“ ohne mein Zutun. Aber wohin?
Im Schnellverfahren verändere ich mich vom moderaten, demokratischen Kapitalismuskritiker zu einem angeblich radikalen Fortschrittsskeptiker, ohne dass ich das Geringste an meinem Verhalten geändert hätte.
Auf dem Kinderkarussell „konsumierst“ du positive und negative Erlebnisse: blitzhafte Eindrücke, schattenhäfte Sturz-Ängste, Fetzen eines größeren Zusammenhang, der schon vorüberhuscht, wenn du glaubst, ihn kurz als Schemen aufleuchten zu sehen. Eben war „die Logik“ noch scharf, jetzt schon verwischt.
Die Fähigkeit zu sortieren, konsistente Gedanken zu formulieren, zusammenhängende Texte zu schreiben, die andere Leute als schlußrichtig verstehen können, vom Gedankenbruchstück zur Lösung zu gelangen, geht dir auf diesem „reality“-Kinderkarussell verloren.
Was tun?
Ich versuche dennoch, einige der Fetzen zum Bild zu fügen … es wird schwer, dem zu folgen, aber jeder Fetzen für sich enthält eine kleine Wahrheit, ist Teil des Puzzles, das ohne ihn nicht vollständig wird.
Der Übermut der Nachtwächter
Was mache ich nun mit diesem Dokument zur neuen Dimension des Zuhausebleibens?
Ich will mich ja gern an die Eindämmungsverordnung halten. Aber ich muss einfach zwischendurch mal raus. Mich bewegen. Im Namen meiner Gesundheit.
Ich bin verzweifelt. Der Übermut der Nachtwächter, die mich um 22 Uhr – solange ich keinen Jagdschein vorweisen kann – ins Bettchen schicken – er nutzt uns nichts.
Die ganze Impferei hat unsere Krankenhäuser mal wieder an ihre schon sagenumwoben niedrige Belastungsgrenze gebracht … ach, hätten wir doch nicht so viele Betten abgebaut, Intensivbetten. Nein, stimmt ja gar nicht, es sind die bösen Zwangsimpfungsverweigerer, die jetzt morgen früh vor dem Morgengrauen laut Herrn Spahn von der Bundespolizei abgeholt und im CSG (Club der sadistischen Genesenen) mal ordentlich durchgeimpft werden …
Wir schleppen, aber Spahn schleppt nicht mit. Denn: Er fände das absurd, ergänzt er nach dem Zitat.
Körperlicher Zwang? Nein, nicht doch in einer Demokratie, die sich den lästigen Aufwand der körperlichen Peinigung durch strukturelle Gewalt (Ordnungsstrafen) ersparen kann.
Spahn versäumt aber auch nicht, das Bild schon mal an die Wand zu projizieren, für das dann Scholz, der Mann ohne „Beisshemmung“ gegenüber Kriminellen (=Impfverweigerern), die gesetzliche Grundlage schaffen wird.
Ist das gesponnen oder steht das vor der Tür?
Leider ist es ja so, dass man bei negativen Prognosen ungern recht behält, so dass ich darauf keinesweges stolz bin, aber.
Unser Freund, der mich Anfang 2020, als ich das alles kommen sah, belehrte, dass in einem Land, das Wildbrücken baut, niemals ein Impfzwang kommt, kann sich jetzt schon mal einen Presslufthammer beim Baugerätefachhandel ausleihen, um die Wildbrücken abzureißen – um damit den Widerspruch aufzulösen, den er mit seinem Gottvertrauen in „unsere“ Politiker erzeugt hat.
Totale Soziale Tatsachen
Bald wird es so sein, wie auf diesem Bild:
Du gehorchst, damit es aufhört, aber solange du gehorchst, wird es nie aufhören.
Auf der Website il rovescio, von der auch das Foto stammt, heisst es weiter: „In Anlehnung an einen Begriff von Marcel Mauss können wir den Covid-19-Notstand als eine totale soziale Tatsache definieren. Sie brachte all das an die Oberfläche – sowohl in der Gesellschaft als auch in den „Bewegungen“ -, was bereits vorhanden war, aber nicht gesehen werden konnte. Sich mit dieser totalen sozialen Tatsache nur bruchstückhaft auseinanderzusetzen, die sichereren und weniger problematischen theoretischen und praktischen Wege zu beschreiten, hat zu katastrophalen Folgen geführt und wird es auch weiterhin tun.“
Was war „unter“ der Oberfläche los?
Das Liebesleben der Hyänen
Die Nachwendezeit (soll heißen: das globale Ende der großen ideologischen Widersprüche zwischen Kommunismus und Kapitalismus 1990) hat uns eine gewaltige Errungenschaft der Vorwendezeit urbar gemacht. Die (digitale) Technologie, die vor dem Kollaps des Kommunismus das „Gleichgewicht der Schrecken“ gewährleisten sollte, war nun frei verfügbar für zwei ganz große Projekte, die seit dem Ende des 1. Weltkrieges unablässig verfolgte Wunschprojekte der „Fortschrittsregierungen“ waren:
– jede Person weltweit ist ins selbe System eingegliedert und somit persönlich haftbar zu machen. Dieses Projekt hat in Clintons „30 seconds“-Idee (jedermann weltweit innerhalb von 30 Sekunden aufspüren und wenn nötig neutralisieren) ihren Höhepunkt gefunden. Der Dronenkrieg hat dieser Vision die technische Machbarkeit nachgeliefert.
Erinnern Sie sich an die 3F-Strategie? find fix finish (finden fixieren den finalen Stoß verpassen)
Sie ist gut brauchbar heutzutage.
– jede Person weltweit soll mit demselben System einkaufen und bezahlen und zwar alles, was er zum Leben braucht.
Damit ist die nationale Identität von Geld (Währung) und jeder damit verbundene Spielraum endgültig aufgehoben. Was vorher Werte waren (Rücklagen, Besicherungen, vertrauenswürdigen Festlegungen) ist nun gegenstandslos. Geld kann jetzt jede physische Form aufgeben, da diese nichts Individuelles/Politisches mehr „transportiert“: man legt die dem Geldsystem Unterworfenen (=uns alle) damit auf eine einheitliche Inanspruchnahme durch den Gewinner im Ideologie-Wettbewerb (jetzt: Plattformkapitalismus = digitalen Finanzkapitalismus) fest.
Zu diesem Gedanken passt ein Text, den ich kürzlich zufällig wiedergelesen habe. Seinen Ekel vor der Heuchelei der Sieger des Kalten Krieges hat dereinst Heiner Müller in seiner Einleitung zu „Was von den Träumen blieb“, erschienen 1993 bei Wolf Jobst Siedler Verlag GmbH Berlin, auf den Punkt gebracht.
„Ein Kadaver kann dem Obduktionsbefund nicht widersprechen. Der historische Blick auf (den Kommunismus) ist von einer moralischen Sichtblende verstellt, die gebraucht wird, um Lücken in der eigenen moralischen Totalität zuschließen. Die Funktion der Medien in diesem Verdrängungsprozess bestimmt sich aus dem Systemzwang, die Probleme der Zentren an die Peripherie zu delegieren: der Rand wird „Zone“, das Problem wird eine „Nachricht“. …
(Mir) stellt sich die Frage, ob nicht alle Gesellschaftsentwürfe der Neuzeit mehr oder weniger gelungene Versuche sind, die Schrecken der Ausbeutung im Interesse einer Minderheit an eine Mehrheit zu delegieren oder im Namen einer Mehrheit an diverse Minderheiten, der Faschismus ein Laborversuch, der Stalinismus ein Vorauskommando auf dem Weg in die kapitalistische Zukunft. …
Auf den toten Gegner kann man jedes Feindbild projizieren, das vom Blick in den Spiegel abhält.“
Der Text mit dem schönen Titel „Das Liebesleben der Hyänen“ (übrigens ein Zitat aus der ZEIT, die diesen Tiervergleich laut Müller nur benutzt, um den „Gegner in die Zone der Vernichtung“ zu verweisen) liest sich doppelt hellsichtig, wenn man dieser Tage immer wieder vom ehemaligen „Osten“ als der Hauptproblemzone im Eindämmungs-Krieg hört. Dresden, Thüringen etc., das ist quasi schon synonym mit Viruslast, Impfverweigerung, allgemein gesprochen identisch mit Verantwortungslosigkeit, AfD, PEGIDA, gleichbedeutend mit allem, was die Regierung nicht haben möchte.
K wie Kampagne, Kontrolle, Kapitalismus, Koronavirüs
Wir leben in interessanten Zeiten.
Wer hätte je gedacht, dass Plagen stärker sein würden als unsere für unfehlbar gehaltene Technologie der Gesundheit und des Sozialwesens? Oder war es gar nicht die Technologie der Gesundheit und des Sozialwesens, die fehl ging?
Giorgio Agamben sagte kürzlich auf der Website „Illwill“ (Das Übelwollen):
„Es geht nicht um den Impfstoff, sondern um den politischen Gebrauch des Impfpasses.“
„Der Mensch kann nicht leben, wenn er sich keine Gründe und Rechtfertigungen für sein Leben gibt, die in jedem Zeitalter die Form von Religionen, Mythen, politischen Überzeugungen, Philosophien und Idealen aller Art angenommen haben. Es scheint, dass diese Rechtfertigungen heute zumindest für die reichsten und am stärksten technologisierten Teile der Menschheit verschwunden sind, so dass die Menschen vielleicht zum ersten Mal mit ihrem reinen biologischen Überleben konfrontiert werden, das sie offenbar nicht akzeptieren können.
Nur so lässt sich erklären, warum sie, anstatt sich auf das einfache und liebenswürdige Zusammenleben einzulassen, das Bedürfnis verspüren, einen unerbittlichen sanitären Terror zu errichten, in dem das Leben ohne jede ideale Rechtfertigung bedroht und in jedem Augenblick mit Krankheit und Tod bestraft wird. So wie es keinen Sinn macht, die Freiheit im Namen der Freiheit zu opfern, so ist es auch nicht möglich, im Namen des bloßen Lebens auf das zu verzichten, was das Leben lebenswert macht.“
Wer profitiert nun von dieser Reduktion auf das „nackte Leben“, das „rein biologische Überleben“?
In Drill, insbesondere im Abschnitt über kapitalistische Egoismuspflege, habe ich mich, wie ich es nun eine Woche später empfinde, nicht ausreichend genau ausgedrückt. Hier eine der vielen denkbaren und notwendigen Ergänzungen.
Es dürfte ja unbestritten sein, dass Kapitalismus heutzutage das global herrschende Gesellschafts- und Wirtschaftssystem ist. Somit unterliegt die Mehrheit der Menschheit den Verkaufskampagnen dieses Systems.
Im Kapitalismus gibt es keinen Wechsel der Kampagne. Alle Kampagnen dienen einem einzigen Ziel: Reichtum.
Ein Kampagnenziel, das Volksgesundheit heisst, existiert nicht. Aber gegen das Reichwerden mit Gesundheitsanwendungen hat der Kapitalismus nichts einzuwenden.
Insbesondere dann nicht, wenn die staatlich moderierten Konditionen, unter denen die Gesundheitsanwendungen verkauft werden, gleichzeitig Verdienstoptionen auf allen der Gesundheit benachbarten Feldern, also der allgemeinen Versorgung der Bevölkerung eröffnen. Ich spreche von Bringdiensten und Onlinehandel.
Zum Verdienen benötigt dieses System keine individuellen Konsumenten mehr. Konsumenten sind jetzt die Staaten selber, die in unmittelbaren Kontakt mit den globalisierten Konzernen treten.
Dies ist kein Phänomen, das sich auf den Gesundheitsmarkt beschränkt. Das gleiche Phänomen lässt sich ebenso bei einer der größten Industrien weltweit, der Autoindustrie, beobachten. Nicht mehr der „enduser“ soll den Wagen konsumieren, sprich kaufen. Das soll künftig der Staat tun, die Gemeinde, die Mobilität zur Verfügung stellen möchte. Mit dieser Vision hat Mercedes beispielsweise seinen autonomen Smart der Weltöffentlichkeit präsentiert.
Ähnliches auf dem noch gigantischeren Kommunikationsmarkt.
Kein Nutzer soll sein Telefon allein zum privaten Kommunizieren mit irgendwelchen für den Markt zunächst uninteressanten, für die großen Geschäfte und Plattformen des Kapitals nicht einträglichem privaten Bekannten verwenden.
Telefonieren, absolut genauso wie Strom verbrauchen, soll nachvollziehbaren, wirtschaftlich nachnutzbaren Traffic generieren. Nur damit lässt sich etwas verdienen. Deswegen ist das Telefon auch kein Gesprächsapparat für enduser, sondern ein Knoten im Netzwerk des online-Handels.
Unsere Kinder, um ein drittes Beispiel zu geben, sollen künftig nicht mehr in die Schule gehen, um sich mit Bildung aufzuladen, die womöglich noch ein kritisches Abwehrpotenzial generiert. Kinder sollen in der Schule mit dem kritikfreien Gebrauch von digitalen Zugangs- und Endstellen vertraut gemacht werden, die später wirtschaftlich ausgeschlachtet werden. Ihre Stimmen und Gesichter sollen über entsprechende Kommunikation-Softwaresysteme wie Zoom die künstliche Intelligenz trainieren – dies in einer bislang unvorstellbare Dimension und Geschwindigkeit. Diese Systeme werden dann wiederum eingesetzt, um den Umsatz zu verbessern.
Deswegen benötigt der Einzelne im Prinzip künftig keine Barschaft mehr. Mit Barschaft wäre er freier in seiner Konsumentscheidung. Auch könnte er auf den fatalen Gedanken kommen, die Barschaft zu horten, etwas anzusammeln, dass ihm eine gewisse Macht und Freiheit gibt. Dies kann durch die Abschaffung von Bargeld mühelos ausgeschlossen werden. Denn für ein zentralisiertes durchkapitalisiertes digitales System wäre es besser, er würde numerische Zuteilungen in Form von digitalem Geldersatz erhalten, dessen Einsatzzweck klar definiert ist: in seiner Verwendung festgelegt durch den Staat und die in stützenden wirtschaftlichen Einheiten.
Wir sind bereits auf dem besten Weg. Mit den Gutscheinen vom Amt kann man auch nur bestimmte Dinge einkaufen. Und damit nicht gemogelt wird, beobachten alle genau ihren Vordermann in der Schlange und halten ihn mit den Sozialpunkten im Schach.
Damit der Staat genau solche Operationen auf allen Feldern durchführen kann, muss er allerdings seine Erscheinungsformen wechseln. Als Demokratie kann er das nicht tun. Jedenfalls nicht ohne über sich selbst zu lügen.
Wie komme ich zu dieser Überzeugung? Warum erzähle ich angesichts von COVID19 etwas über Kinder und Bildung, über Autoproduktion, über Telekommunikation und was hat das alles mit Gesundheit zu tun?
Um es ganz unmissverständlich und auf die aktuelle Lage bezogen zu sagen:
Die Pharmaindustrie des konzernkapitalistischen Zeitalters wendet sich mit ihren Produkten nicht an individuelle Einzelpersonen als schutzbedürftige Konsumenten. Der Kunde der Impfung ist nicht der Bürger, der seine Gesundheit schützen will. Der Kunde ist der Staat.
Um eine der größten Errungenschaften der Menschheit, die Erfindung der Impfung, als konzernkapitalistisches Umsatzziel durchzusetzen, zerstört die aktuelle Politik eine noch wesentlich größere Erfindung der Menschheit: die Demokratie.
Wie kann nun ein einzelner Bürger, der so eine Strukturveränderung der Demokratie nicht hinnehmen möchte, aktiv werden?
Sichtbar machen
Vielleicht ist unsere Arbeit die, die Il Roviesco so beschreibt: Sichtbar machen, was nicht sichtbar ist.
Das, was nicht sichtbar ist, ist „der Schattenbereich des Gesagten, die Gewalt hinter der Entwicklung, die Kontrolle hinter der Sicherheit, die Disziplin hinter der Erziehung, die Sklaverei hinter dem Smartphone, die Einsamkeit hinter der Verbindung, der blutbefleckte Keller unter dem demokratischen Salon, die Gesten der Rebellion, die nie erzählt wurden, die Unzufriedenheit hinter dem falschen Lächeln, das dringende Bedürfnis nach Liebe hinter der Wut, die verschiedenen Klassen hinter der Gemeinschaft, der Staat hinter dem Gemeinwohl.“
Ich hätte ja von mir selbst nie gedacht, dass ich dereinst mal einen blog schreiben und „Sachen sichtbar machen“ würde, so ein mistiges Stück selbstgefälliger Veröffentlichung von bloß persönlichen Ansichten – so sah ich das vor Corona.
Dann ergab sich das blogschreiben durch meine Rückfahrt letztes Jahr im ersten Totallockdown am 16.3.2020.
Ich erinnere noch ganz genau die Situation, in der der Entschluss entstand.
Meine Freundin Janneke und ich sassen an der deutsch-französischen Grenze fest, am Rhein bei Mülhausen.
Die Brücke war zu und drüben auf der deutschen Uferstrasse patroullierte Bundespolizei – im Einsatz gegen etwas Unsichtbares, das durch Singen, Blasen und gemeinsam Essen übertragen würde. Es lauere auch auf Türklinken, Toilettendeckeln und Handybildschirmen.
Wir hatten – zum ersten Mal in unserem Leben – „kontaktlos“ eingecheckt. Jemand hatte uns einen Schlüssel hingelegt in einem desinfizierten Briefumschlag. Hohes Gruselllevel.
Ich zog mir die Vinylhandschuhe an, denn ich musste noch mal zum Auto runter – es stand vor dem Hotel auf dem Parkplatz – und irgendetwas für die Nacht rausholen. Ich drehte mich um und sah auf die Fassade des Hotels zwanzig erleuchtete Zimmer, alle Zimmer in der gleichen Ecke den Fernseher, auf allen Fernsehern Macrons Gesicht in Nahaufnahme, ein lautlos sich bewegender Mund unter zu allem entschlossenen Augenbrauen. Er verkündete den Krieg gegen das Virus. Orwell wäre mit meiner Beobachtung zufrieden gewesen.
Das Bild muss ich für alle aufbewahren, die nächstes Jahr vergessen haben, wie es Anfang 2020 war, dachte ich. Wie alle glaubte ich, der Spuk sei in wenigen Monaten vorbei. Ich sendete den Text zur Telepolis und – nach den gängigen statistischen Ermittlungsverfahren – lasen mehr als eine halbe Million Leser den Text, der eigentlich nur eine läppische Beobachtung beinhaltete – in einer, wie ich später allerdings merkte, bedeutenden Situation.
Der große Hebel war umgelegt worden.
Vielleicht spürten das all diese Leser auch.
Nun publizierte ich plötzlich dauernd irgendeine Kleinigkeit, ohne tieferen Plan und höheres Ziel, alltägliche Beobachtungen.
Vielleicht am allermeisten, um meinen Nichten, die immer wieder in den Beobachtungen vorkommen, das Entstehen einer neuen Gesellschaft ab ovo zu zeigen – denn das so etwas Einschneidendes auf dem Weg sei, das fürchtete ich gleich, nach all den Jahren der Beschäftigung mit den Strategien der Anwendung struktureller und direkter Gewalt durch Systeme (Staaten).
Heute stelle ich fest, ich schrieb diese fast zwei Jahre eigentlich nur über zwei Dinge:
Freundschaften, die an der Strukturumstellung kaputt gehen und Sprache, die kaputt geht, weil sie nur noch dazu dient, in Verordnungen Informationen über die Unterwerfungspläne ihrer Verfasser zu verbreiten.
Dadurch entstand das, was allgemein eine Lüge genannt wird von Kritikern der Maßnahmen. Sprache dient nicht mehr der Aufklärung, nicht der Findung der Wahrheit.
Ich plante sogar, dies in einem „Wörterbuch des Unrates“ kenntlich zu machen. Der Titel war natürlich an Sternbergers Wörtbuch des Unmenschen über die Sprache des Nationalsozialismus angelehnt.
Darüber habe ich nun zwei Jahre lang veröffentlicht: Sprache und Freundschaft.
Dann sehe ich beglückt: ich war nicht ganz allein damit.
Meine Freundin, die ehemalige Nautilus Verlegerin und AKTION-Autorin Hanna Mittelstädt, schreibt mir:
„In Hamburg ist jetzt alles dicht für Ungeimpfte, nur noch der Supermarkt (und die Apotheke) steht offen. Allüberall Einlass nur noch für Geimpfte (und Genesene).
Keine Kultur, kein Lokal (nicht mal draußen, nicht mal to go), keine Bibliothek, keine Ausstellung, kein Laden. Test für jede Bus- oder Bahnfahrt.
„Wir werden sie austrocknen, die Luft muss ganz dünn werden, die müssen´s so richtig spüren, dass es nur eine Lösung gibt.“
Und das, während die Lösung bereits offenbar keine Lösung ist. Die Impfung gibt Schutz für maximal 6 Monate, danach bitte nachspritzen. Die Geimpften können sich infizieren wie die Ungeimpften, sie übertragen das Virus ebenfalls. Die Hospitalisierungsrate unter den Geimpften ist in etwa gleich wie die der Ungeimpften.
50 % der Inzidenzen sind Kinder bis 14 Jahre, die sich regelmäßig in der Schule testen müssen, und die die Krankenhäuser nicht belasten.
4000 Intensivbetten wurden seit Ausbruch der Corona-Krise wg. Personalmangel geschlossen. Gäbe es die noch, gäbe es überhaupt kein „Hospitalisierungsproblem“.
Die Lohnerhöhung des Verdi-Abschlusses für Pflegekräfte liegt unter der Inflationsrate, Verbesserungen der Arbeitssituation werden nicht umgesetzt.
Warum diese Ausgrenzung, dieser absurde Diskurs, diese heißgelaufene Rechthaberei? Dieser enggeführte Tunnelblick?
Ich kann nur sagen: „I would prefer not to“ und meine abgrundtiefe Verachtung für diesen Staat und seine Verteidiger*Innen bestätigen.“
Auf individueller Ebene sollte man natürlich zunächst einmal das, was man immer versucht hat, gut zu machen, auch wenn es keinen Grund dafür zu geben scheint, umso mehr tun.
Aber das ist natürlich nicht genug. Ich habe an die Überlegungen gedacht, die Hannah Arendt 1943 angestellt hat, denken Sie an das, was sie durchgemacht hat, noch schlimmer als das, was wir durchmachen: Sie sagte, sie frage sich, inwieweit wir der Welt verpflichtet sind, auch wenn diese Welt – wie in ihrem Fall, da sie Jüdin war – uns ausschließt; oder auch wenn wir selbst gezwungen sind, uns zurückzuziehen – und sie bezog sich auf diejenigen, die während des Nationalsozialismus in einem Zustand lebten, den man innere Emigration nannte – unter anderem kann es sein, dass wir gezwungen sein werden, in einem Zustand der inneren Emigration oder des Klosters zu leben. Aber hier sagte sie: Vielleicht sind wir noch etwas schuldig, wir sind noch etwas schuldig, und deshalb hat Hannah Arendt in diesem Text merkwürdigerweise – aber ich denke, das ist wichtig – die Freundschaft als ein mögliches Prinzip der Wiederherstellung einer Gesellschaft in der Gesellschaft, einer Gemeinschaft im Staat genannt.
Ich glaube, dass es angesichts der zunehmenden Entpolitisierung der Individuen – denn wir sind heute Zeugen eines Prozesses der Entpolitisierung des individuellen Lebens, das ist offensichtlich – wichtig wäre, in der Freundschaft das Prinzip einer neuen Politik, einer neuen Politisierung zu finden.
…
Bevor die Menschen in einem Land oder in einem Staat lebten, hatten sie ihre Lebensgrundlage in einer Sprache, und ich glaube, nur wenn wir in der Lage sind zu untersuchen und zu verstehen, wie diese Lebensgrundlage manipuliert und umgewandelt wurde, werden wir in der Lage sein zu verstehen, wie die politischen und juristischen Veränderungen, von denen wir gesprochen haben, stattfinden könnten. Das heißt, die Hypothese, die ich vorschlagen möchte, ist, dass die Transformation der Beziehung zur Sprache die Bedingung für alle anderen Transformationen der Gesellschaft ist.
Wir sind uns dessen nicht bewusst, denn wenn man darüber nachdenkt, ist die Sprache dieses seltsame Ding, das in dem verborgen bleibt, was wir benennen, um es zu verstehen; tatsächlich können wir nur sprechen, wenn wir dieser Sprache Aufmerksamkeit schenken.
Ich glaube jedoch, dass es kein Zufall ist, dass der große Wandel, der sich mit der industriellen Revolution in England und der politischen Revolution in Frankreich vollzog, in gewisser Weise von einer Reflexion über die Problematisierung der Vernunft, d.h. dessen, was den Menschen als sprechendes Tier definiert, begleitet wurde, wenn nicht sogar vorausging. Ratio kommt von dem Verb reor, das zählen, rechnen bedeutet, aber auch sprechen, aber verstanden im Sinne von redde rationem, Rechenschaft ablegen, und daher fällt dieser Traum von der modernen Vernunft mit einer Art Rationalisierung der Beziehung zur Sprache zusammen, einer Umwandlung der Sprache, die es ermöglicht, Rechenschaft abzulegen und nicht nur die Natur, sondern vor allem das Leben der Menschen ganzheitlich zu regeln.
Und was ist das, was wir Wissenschaft nennen, wenn nicht eine Praxis der Sprache, die dazu tendiert, im Sprecher jede ethische, poetische und philosophische Erfahrung des Wortes zu eliminieren, um die Sprache in ein Instrument des Informationsaustausches zu verwandeln und, an der Grenze, etwas, auf das man verzichten kann – es ist klar, dass das Ideal der Wissenschaft darin bestünde, auf die Sprache verzichten zu können, sie durch Zahlen, Algorithmen zu ersetzen.
Warum kann uns die Wissenschaft niemals glücklich machen? Weil die Wissenschaft im Grunde davon ausgeht, dass der Mensch ein biologischer Körper ist, der dazu neigt, dumm zu sein: Das Wort ist in Klammern gesetzt. Hier ist die Frage, die ich stellen wollte: Welche Veränderung müssen wir uns in der Beziehung zur Sprache vorstellen, damit das, was geschieht, stattfinden kann? Das Außergewöhnlichste an dem, was wir erleben, ist, dass eine Lüge heute offensichtlich ist, die Lüge ist offenkundig, das heißt, wir müssen nicht nachdenken, um zu verstehen, alles, was geschieht, ist offensichtlich, und doch scheinen die Menschen die Fähigkeit verloren zu haben, in ihrem Denken, in ihrem Sprechen Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.
Wenn heute Ärzte, Juristen, Wissenschaftler einen Diskurs akzeptieren, der völlig auf die Idee einer Frage nach der Wahrheit verzichtet (natürlich sind viele dafür bezahlt worden, das ist in Ordnung, aber wenn wir nicht diejenigen meinen, die dafür bezahlt wurden) – dann haben sie offensichtlich in ihrer Sprache die Fähigkeit zu denken verloren, das heißt, in der Schwebe zu halten (Sie wissen, das Denken von pendere, in der Schwebe halten, kommt), sie können nur noch rechnen oder wiederholen.
In dem Meisterwerk der Ethik des 20. Jahrhunderts, Hannah Arendts Buch über Eichmann, stellte Arendt fest, falls Sie es gelesen haben, dass Eichmann ein vollkommen rationaler, rationalisierender Mensch war, nicht einmal ein schlechter, sondern ein vollkommen rationaler Mensch, und dass er daher in der Lage war, durch seine Vernunft die komplexe Operation des Transports der Juden in die Lager zu organisieren. Aber was fehlte diesem Mann dann? Ihm fehlte die Fähigkeit zu denken, aber nicht im Sinne von Theorien aufstellen, nein, Denken ist in erster Linie die Fähigkeit, den Fluss des Diskurses zu unterbrechen. Eichmann konnte den Fluss des Diskurses, der Befehle nicht unterbrechen, also hatte er etwas im Kopf, das er nur befolgen konnte, das er niemals in der Schwebe halten konnte, denken. Die erste Aufgabe, vor der wir stehen, besteht also darin, ein federndes, d.h. ein poetisches und denkendes Verhältnis zu unserer Sprache zu finden. Nur so können wir aus dieser Sackgasse herauskommen, die meiner Meinung nach wahrscheinlich zum Aussterben – wenn nicht physisch, so doch zumindest ethisch und politisch – der Menschheit führen könnte.“
Soweit das Zitat von Agamben. Was helfen uns seine Worte?
Die Regierenden informieren uns unablässig über ihre täglich „veränderte politische Rahmensetzung“: heute dicht, morgen zu, übermorgen nicht mehr nachts rausgegehen.
Es ist ein Dauerfeuer, auf das wir alle mit Angst reagieren.
Dreht das Kinderkarussell etwa nicht weiter… rast nicht die Wirklichkeit, unbeeindruckt von einem philosophischen Wort, um uns herum – an uns vorbei?
Wir müssten die Notbremse ziehen. Aber die Regierung hat sie vorsorglich demontiert.
Abspringen?
Geht leider nur bei voller Fahrt.
Es ist aber alternativlos.
Verlasst das Karussel, bevor es zu spät ist. Ehe es zu schnell dreht, um noch ohne den größten Schaden abzukommen.
Der größte denkbare Schaden: Verlust von Sprache und Freundschaft.
Über den Zusammenhang zwischen Booster-Impfung, Schweinefleisch und Kadavergehorsam
Die artige Bürgerin
Eine Freundin, zweimal geimpft, „alles richtig gemacht, so wie es soll“, schreibt mir aus Berlin: „Die Zahlen steigen wieder. Alle reden davon, dass die Ungeimpften schuld sind. Ich habe keine Lust auf eine dritte Impfung. Oder noch schlimmer: jährlich mindestens eine.“
Sie fragt sich: Wo soll das alles enden? Und: Wem nutzt das?
Sie sagt, sie sei eine „artige Bürgerin“. Sie habe den digitalen Impfnachweis, weil der andere ja leichter fälschbar sei. Sie sei für Sicherheit. Aber sie wollte auch mal wieder ins Theater.
Sie hätte sich nie vorstellen können, dass das Reinkommen ins Berliner Ensemble je so anstrengend wäre: „mit Kontrolle von Impf-App + Ausweis(!)“. Wer nichts zu verbergen hat, macht sich nackt. Woher all das Misstrauen, der ganze Verdacht auf Betrug?
Dann drei Stunden Nibelungen mit Maske und Sitzabstand.
In der Pause durfte meine Freundin an der Bar zwar einen Wein bestellen, sich aber mit dem Glas nicht im Haus bewegen.
Die Seuchenschutzregeln als eine komplette theatralische Inszenierung zum Thema Gehorsamkeit und Selbstunterwerfung: ein Drill, wie einst in der Inszenierung „The brig“ von The Living Theatre : eine weiße Linie als Züchtigung und Strafe. Alles dreht sich darum, dass niemand die Linie überschreiten darf.
Der Staat verlangt von uns in Sachen Corona-Maßnahmen bedingungsloses Vertrauen: die Nibelungentreue. Doch womit hat er sich das Vertrauen verdient? Oder ist der Drill die Einübung eines Gehorsams, der die Voraussetzung bildet für die möglichst widerstandslose Einführung einer neuen Wirtschaftsordnung?
Der folgende Text ist meine (öffentliche) Antwort an die Freundin.
I. Nibelungenfront
Liebe …, mit höchstem Interesse habe ich deinen Bericht von der Nibelungenfront im Berliner Ensemble gelesen. Vielleicht ist es das ideale Stück zur Zeit. Vielleicht erkennen wir erst bei einer Aufführung unter solchen Bedingungen, was Nibelungentreue bedeutet.
Ein Stück, das man schon immer hätte vor einem maskiertem, bis zur Willenlosigkeit reduzierten Publikum spielen müssen. Auch lese ich mit dem gehörigen Entsetzen, das einem feuchtkalt in die Knochen kriecht, was deine Schwester erlebt: als Ungeimpfte, die von ihrer (selbstverständlich geimpften) Geschäftspartnerin, „zu ihrem eigenen Schutz“ in ihrem eigenen Büro Hausverbot erteilt bekommt.
So hart schlagen die Genesenen zu. So weit haben wir die Verhältnisse schon auf den Kopf gestellt.
Deine Schwester soll zu Hause bleiben, um nicht mit artigen Bürgern, die sich mit dem von ihnen erwarteten Gehorsam zur rechten Zeit haben ihre Dosis verpassen lassen, in ein Ansteckungsverhältnis zu geraten. Warum sagt der offenbar sehr ängstlichen Geschäftspartnerin niemand, dass sie lügt? Dass sie unverschämt ist? Dass sie keine Berufsausübungsverbote für Ungeimpfte verhängen kann? Dass ihre Vakzinierung sie nicht zu exekutivem Verhalten berechtigt?
Klar ist: „Einmal impfen und dann gut“ – das (womit wir gerechnet hatten) gibts nicht. Wir sollen immer wieder unter die Nadel. Uns in immer kürzeren Zyklen „boostern“ lassen. Nur wenn die Angst vor Durchbruch, Mutant und nächster Welle permanent akut bleibt, lässt sich weiter so regieren wie zur Zeit. Noch zwei, drei Jahre und die alte Wirtschaftsordnung ist endgültig kaputt. So effizient zerstört, wie das bislang nur ein Krieg geschafft hat.
Liebe …, ich kann diese weltgeschichtliche Volte, diese Dressurnummer, bei der wir immer wieder im selben Kreis laufen, zwar als solche wahrnehmen, sie Dir aber nicht konsistent erklären.
Lass mich anstelle dessen ein paar verstreute Gedanken aus den Lese-Erlebnissen und Begegnungen der letzten Wochen zusammentragen.
II. Die Toten können uns retten
Wir waren kürzlich für ein längeres Interview in Hamburg bei Klaus Püschel. Es ging bei dem Treffen überhaupt nicht um Corona. Es ging um Forschungsmaterial zu einem Gattenmord: eine Köpfung, die Gegenstand meines nächsten Buches sein soll.
Aber wir kamen natürlich nicht umhin, das Thema Corona anzusprechen, insbesondere weil wir eingangs vollmaskifiziert versucht haben, gemeinsam Kaffee zu trinken.
Es ging dabei um seine Kritik am Lockdown. Püschel stellt die simple Frage, warum Deutschland im internationalen Vergleich so gut abgeschnitten hat, was die Zahl der Toten durch Corona anbelangt? Natürlich, weil Deutschland ein so gutes Gesundheitssystem hat. Warum hat Deutschland ein so gutes Gesundheitssystem? Natürlich weil es eine so solide und gut funktionierende Wirtschaft hat, die gewaltige Mengen Steuern aufbringt, die zu gutem Teil in das Gesundheitssystem einfließen. Was passiert mit dieser Wirtschaft, wenn die Politik Lockdown anordnet? Sie macht natürlich weniger Umsatz. Der Staat erhält entsprechend geringere Einnahmen. Darunter leidet das Gesundheitssystem.
Mit ein wenig Zynismus könnte man an dieser Stelle, Püschel auf die Spitze treibend, sagen: Lockdown macht krank.
Ein wenig ist es mit dem Lockdown so, wie früher mit dem Krieg: grosse Bereiche der Wirtschaft gehen in die Knie, einige wenige ausgewählte Industrien verdienen enorm. Es ist ein brutaler Prozess der Aussiebung, der in einer gewaltigen Umschichtung von Reichtum, in einer Neuaufstellung der Wirtschaftsordnung mündet, bei dem die kleineren Mitspieler wie immer den Kürzeren ziehen.
Keynes beschreibt eine Szene im Wirtschaftsrat, die am 12. Januar 1919 nach Ende des I.Weltkriegs spielt: ein Treffen, bei dem es um die Frage der Aufrechterhaltung des Embargos gegen Deutschland geht. Präsident Wilson ist zu tiefst entschlossen: „Solange der Hunger weiter nagt, werden die Fundamente der Regierung weiter bröckeln.“
Gleichzeitig sollte, so notiert Keynes, das Embargo für Fette aufgehoben werden: unabhängig von der Klärung der Frage, wie Deutschland die Versorgung mit Nahrungsmitteln bezahlt, während – nach Auffassung vieler anwesender Politiker – vorrangig zunächst Entschädigungszahlungen für den Krieg zu leisten wären.
Hintergrund der Freigabe der Fette war, „dass Mr. Hoover auf riesigen Lagerbeständen geringwertiger Schweineprodukte zu hohen Preisen sitzt, die er um jeden Preis an irgend jemanden loswerden muss, auch an die Feinde, wenn es nicht bei den Verbündeten geht.“
Der minderwertige Speck musste weg, damit Herr Hoover wieder ruhig schlafen kann, resümiert Keynes.
Die Siegermächte verkauften also dem besiegten Deutschland das schlechte Fett und liessen sie es mit dem Geld bezahlen, dass man ihnen ohnehin im Rahmen der Reparation wegnehmen wollte. So würde durch das miese Geschäft die Begleichung der Kriegsschulden menschlicher aussehen.
Die Treffen weiss Keynes wie einen Krimi zu erzählen, auch wenn sie zunächst für lange Zeit ergebnislos bleiben. Dass die Versorgung der vom Krieg ohnehin schwer geschwächten deutschen Bevölkerung keine gesundheitlichen Ziele hat, wird überdeutlich: die „Verpflichtung aus Gründen der Humanität“ (die Lebensmittellieferung in den Worten der Propaganda) soll vor allem die Gefahr einer revolutionären Neuorientierung des besiegten Landes abwenden helfen, da man allgemein fürchtete, dass Deutschland unter zu viel Druck „in den Bolschewismus abgleiten könnte“, (Keynes).
Mit anderen Worten: nach den sich über Monate hinziehenden diplomatischen Verhandlungen zeichnete sich zunehmend ein Bild ab von einem unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch, „wenn die körperliche Entbehrung (der Deutschen) sich nicht bald mildern liesse.“ Die Freigabe der Fette aber blieb streng an die gewünschte Gegenleistung („Gold!“) geknüpft, sprich an eine bedeutende Summe, die man sonst gewiß nur unter großen Schwierigkeiten aus den Deutschen hätte herausleiern können.
Das Fettgeschäft stand all die Verhandlungszeit über aus rein finanziellem Kalkül grundsätzlich außer Frage. Es ging nur um den richtigen Zeitpunkt der Freigabe der Lebensmittellieferung. Verkaufte man zu früh, bekämen die deutschen Oberwasser und wollten den Friedensplan mitbestimmen. Verpasste man den geeigneten Moment, spielte man den Russen in die Hände und der Schaden wäre unermeßlich, mit Gold nicht aufzuwiegen.
Schweinefleisch und Ruhe. Kapitalismus statt Bolschewismus.
Ich kenne keine Passage in der jüngeren (Wirtschafts-)Geschichtsschreibung, in der so plastisch deutlich wird, welchen Wert der einzelne Mensch, „das Volk“ in solchen Verhandlungen besitzt im Vergleich zum Wert des Wirtschafts-Systems.
Dieser tiefe Eindruck verdankt sich natürlich dem erzählerischen Talent von Keynes.
Da konferierten also 1919 – nicht unähnlich wie heute – hunderte von hochgebildeten Menschen über die politische Zukunft unserer Welt: Politiker und Militärs, die im Namen ihres Volkes und im Namen der Menschlichkeit zu handeln vorgeben.
Unter dem Strich ging es jedoch nur darum, einen guten Schnitt mit einem ohnehin zum Abstoßen bestimmten Lagerbestand von schlechtem Schweinespeck zu machen. Falls man den Deal am Ende noch als humanitäre Leistung verkaufen kann, umso besser.
IV. Die Diffamierung des Dagegenseins
Es leuchtet ein, dass erfolgreiche (Wirtschafts-)Politik vornehmlich darin besteht, der grossen Masse Schaden zuzufügen, um das Prinzip des permanenten Größenwachstums aufrecht zu erhalten – als Prinzip der individuellen Bereicherung einzelner „Kriegsgewinnler“. Wo alles über Jahre, Jahrzehnte stabil bleibt, lässt sich kein Gewinnzuwachs erzielen. Deswegen ist Destabilisierung die Voraussetzung einer nachfolgenden Steigerung. Grundlage erfolgreichen Wirtschaftens.
Das galt nicht nur 1919. Das gilt ungebrochen auch 100 Jahre danach, heute.
Ein weiterer Weltkrieg, ein globaler Systemzusammenbruch 1990, Dutzende von Wirtschafts- und Finanz-Krisen, sowie Staatsbankrotte und ein heraufdräuender planetarer Öko-Kollaps haben das System, das mit seiner Wachstumsideologie all die zuvor beschriebenen Katastrophen ausgelöst hat, eher befestigt als geschädigt.
Natürlich profitieren dennoch viele von uns von einer Wirtschaft mit ständigen Zuwachsraten. Irgendwer fällt zwar immer hinten vom Tisch herunter, aber im Großen und Ganzen läuft der Laden – trotz oder gerade wegen der andauernden Katastrophen. Was kaputt geht, muss repariert werden und das spielt Geld in die Kasse.
Auch wenn es sich widersprüchlich anhört, so gilt doch, dass immer mehr Menschen im Prinzip davon profitieren, dass immer weniger Menschen immer mehr gehört. Dass die vermeintlichen Lösungen der Probleme aus dem gleichen Geist entstehen, der das Problem erzeugt hat. Denn das schafft ständig neue Arbeitsplätze.
Solche vermeintlichen Lösungen heißen heute Geoengineering oder Digitalisierung als wundersame Geldvermehrung jenseits jeder Besicherung durch das, was einmal Werte waren. Morgen heißen sie vielleicht Weltraumkolonisierung – durch private Superunternehmen.
All das birgt nur eine einzige Gefahr: je stärker diese Polarisierung voranschreitet, desto mehr sind alle der Willkür der Wenigen ausgeliefert. Die Wenigen könnten morgen beispielsweise das demokratische, für alle gleichermassen zugängliche Bildungssystem abschalten, weil solide Bildung für alle zu viele kritische Fragen produziert und für den Konsum sowieso überflüssig ist.
Sie könnten übermorgen entscheiden, dass Freiheit ein überbewertetes Privileg sei, nicht geeignet, allgemein verfügbar zu sein. Mit anderen Worten: ein Irrtum des ideologischen 20. Jahrhunderts, das sich wirtschaftlich nicht rechnet. Was wir Bürger in der Denktradition der antifeudalen Revolutionen einmal mit Freiheit meinten, sollte nun wiederum nur den Wenigen „dort Oben“ zustehen. Der Rest der Menschheit hat künftig die „leichte“ Aufgabe, Knöpfchen zu drücken und über Bildschirmscheiben zu wischen. Sie werden stillgestellt mit der Wahlfreiheit zwischen den im Angebot befindlichen Produkten. Die Masse soll zuhause sitzen bleiben und keinen Ärger machen. Und die Klappe halten.
Um das zu erreichen, diskreditiert die gegenwärtige Politik jeden kritischen Impuls als gemeingefährlich. Wir sind in einer Phase der Demokratie angekommen, die das Dagegensein diffamiert, mit anderen Worten: das Demokratische an ihr ablehnt.
Damit kommen wir zur Frage des Vertrauens in die Politik.
V. Vertrauen
Der Staat verlangt von uns seit zwei Jahren, in denen unsere Rechte eingeschränkt sind, dass wir seiner Kompetenz in Sachen Gesundheit vertrauen.
Was ist die historische Voraussetzung für die Annahme, dass der Staat das Richtige für seine Bürger entscheidet? War es nicht zuvor ein Privileg der westlichen Nationen, dass der Bürger für sich selbst entscheidet?
Man lese hierzu noch einmal in „Ego“ von Frank Schirrmacher nach: hieß es nicht immer, dass der Kommunismus seine Bürger bevormunde, indem er wisse und befehle, was gut für sie sei?
Ein kurzer Blick auf die Geschichte der Entscheidung des Staates in Sachen Gesundheit, wohlgemerkt: der „westlichen“ Staaten, lehrt uns etwas anderes.
Als die westlichen Staaten sich für die Atomkraft entschieden, wer kümmerte sich da um die Gesundheit der Bürger? Wurde an Krebs gedacht, und abgewogen, ob Strom ohne Ende oder die Gesundheit der Bürger wichtiger sei?
Das gleiche gilt für die Atombombenversuche auf der Erdoberfläche: die Sorge um die gesundheitliche Unversehrtheit war dabei nicht sehr präsent.
Wie war es, als der Staat die Energiesparlampe und darauf das LED-Licht zwangseinführte? Wurde dem Bürger da gesagt, dass er unter Schlafstörungen leiden würde aufgrund der falschen Farbtemperatur? Augenleiden zu gewärtigen hätte? Dass er hochgiftiges Quecksilber ins Grundwasser eintrage, wenn er die Leuchtmittel in den Hausmüll wirft? Wo war bei dieser wirtschaftlichen Entscheidung der Fokus? Auf der Gesundheit der Bürger?
Wie ist es mit der Abwrackprämie für Autos gewesen? Wurde die Gesundheit des Bürgers bedacht, als man ihn mit der Prämie köderte, einen Neuwagen zu erwerben? Oder ging es um den Umsatz der Konzerne?
Wie ist es mit der staatlich angeordneten Energiesparverordnung? Wurde dem Bürger das Risiko für seine Gesundheit klargemacht, als man ihn aufforderte, jedes Haus außen 30 cm dick mit chemischen Produkten einzupacken, von denen die Feuerwehr bis heute nicht weiß, wie sie sie löschen soll? Vom Desaster einer ungeklärten Entsorgung von abertausend Tonnen von Schaum einmal ganz abgesehen.
Wurden dem Bürger bei der Einführung einer umfassenden Digitalisierung die Gefahren klar gemacht, die ihm gesundheitlich drohen, wenn er einen Großteil seiner Lebenszeit krummbucklig vor LED-Bildschirmen sitzt und sich im Kreuzungspunkt von Strahlung befindet?
Ja, wer zwingt ihn, krumm zu sitzen? Er könnte ja auch gerade sitzen, auf einen wirbelsäulenmotivierenden Sitzball, er könnte die neueste chinesische Sprach-KI nutzen, statt sich die Finger an der Tastatur zu ruinieren und mit dem Gerät ins Gespräch kommen! Jedermann könnte es auch radikal einschränken: nicht den ganzen Tag mit dem Drehen von Clips für Tiktok verbringen, nicht sein Privatleben auf Instagram hochladen, nicht tindern, facebooken oder tweeten.
Es einfach lassen. So simpel geht das, süchtig machende Medien los zu werden. Wir sind doch freie Menschen, oder? Es ist doch ganz einfach, sich zu entziehen, oder?
Genug Sarkasmus!
Es wurde jedenfalls bestimmt staatlicherseits nichts vorgesehen, als es beim „new screen deal“ (Naomi Klein) um die seelische Gesundheit der Bürger hätte gehen müssen.
Oder erinnert jemand dass unser Seelenheil gegen den Umsatzanstieg des Onlinehandel abgewogen wurde , als man die Bürger dazu brachte, einen Großteil ihrer Persönlichkeit nur noch im Netz zu entfalten?
Wurde die seelische Gesundheit der Schüler beachtet, die ihre Jugend jetzt in Zoom-Konferenzen und hinter Masken verbringen müssen?
Geht es bei der Sorge, dass sich alle die dritte Dosis Impfstoff abholen, wirklich um unser aller Gesundheit?
Woher kommt der Druck, dass wir alle das entsprechende Zertifikat auf unser Mobiltelefon laden?
Haben sich die Minister Europas, die sich hauptberuflich mit Landwirtschaft und Energie befassen, Gedanken gemacht, als sie die Bioökonomie-Richtlinien einführten, ob die Umnutzung von Flächen, die früher zur Nahrungsmittelerzeugung dienten und nun die verblüffend wenig effiziente Biomasse produzieren und dafür Millarden von Tonnen genetisch manipulierter Organismen nutzen, gut für die Gesundheit der Bürger ist?
Die Fragen lassen sich von jedermann, der sich nicht vollständig der unkritischen Hörigkeit oder anderen Formen von Stumpfsinn verschrieben hat, relativ leicht beantworten, so dass ich dies hier nicht stellvertretend tun muss. Es lassen sich sicher auch einige „gute Gründe“ benennen für die zuvor zitierten Entscheidungen. Aber die Annahme, dass das Gute, die Gesundheit von Mensch und Natur, gewollt war, dass es das Leitmotiv aller Entscheidungen gewesen sei, liegt nicht sehr nahe. Das Gute war vielleicht – ähnlich wie 1919 beim Verkauf des schlechten Schweinespecks – ein brauchbares Verkaufargument und ein sicherer Schutz vor der Entwicklung einer breiten kritischen Front.
Worauf also stützt sich das im Fall von Corona geforderte Vertrauen in die Entscheidungen und Maßnahmen der Regierung ?
Geben wir wirklich so voller Überzeugung, dass es richtig und alternativlos sei, unser Leben, unsere Gesundheit in die Hände von Regierungen, die uns in den letzten fünfzig Jahren mit Atomkraft, fragwürdigen Konzepten zur Erreichung von Energiesparzielen und einer hochgradig gesundheitsschädlichen Digitalisierung beglückt haben?
Sehen wir nicht das wirtschaftliche Kalkül hinter jeder einzelnen dieser Maßnahmen? Zahlen wir nicht gerade einen recht hohen Preis für unsere Nibelungentreue?
VI. Die Zügelung der Freiheit
Die Auswahl der Textstellen, liebe B, die ich dir heute sende, sind von keinerlei Stringenz gekennzeichnet. Ich habe sie zufällig gefunden, aber sie reihen sich schlüssig aneinander und verstärken das Gefühl, dass man nur bei sehr alten Texten auf Stellen trifft, die noch von einer gewissen Pluralität des Denkens zeugen.
Ich stolpere über einen sehr sperrigen Text, den ich schon lange auf dem Tisch liegen habe, bei dem ich nie über die ersten Seiten hinausgekommen bin. Ein Text – aus einem anderen Jahrtausend. „Die Einübung des Ungehorsams“ von Ulrich Sonnemann. Das Un- vor dem Gehorsam liest sich heute wie ein Druckfehler.
In dem Text von 1964 geht es um eine Mentalitätsgeschichte der Deutschen, die gefühlt „gerade eben“ das Dritte Reich hinter sich gebracht haben und dessen Exponenten noch weitgehend in der Macht stehen.
Der jüdische Philosoph Sonnemann war Häftling im KZ in Gurs. Er hatte Anfang der Sechziger bei seinem Wiedergutmachungsverfahren in der BRD, in die er Mitte der Fünfziger Jahre zurückgekehrt war, um nicht „die endgültige Bestimmung meines Verhältnisses zu meinem Geburtsland den Nazis anheimzustellen“, entsprechende Richter kennengelernt.
Es geht aber auch – und daher stammen meine im Abschnitt zuvor benutzen Worte – um die völlig „Verstumpften“, die bereit sind, alles zu schlucken, denn was „dort oben“ entschieden wurde, muss ja richtig sein.
Es geht um die „Hassbereitschaft“ der Masse der Mitläufer (ein Wort, das mir angesichts der Stigmatisierung der Ungeimpften höchst aktuell scheint) und um die von der Regierung verhängte „Zügelung“ der Freiheit (Berufsverbote, Notstandsgesetze).
Sonnemann sagt, die Freiheit sei ja wohl kein Pferd.
Liebe …, ich bin nun weit von deinen ursprünglichen Fragen zur Gegenwart abgekommen. Aber es gibt ein paar markante Gedanken, die nicht alt werden, die mir helfen, mit der Gegenwart zurecht zu kommen und ich fand verblüffend viele davon bei Sonnemann.
In Sonnemanns Texten liest Du Sätze wie: „Schon damals wusste man ja, dass der Staat keine von oben eingesetzte Ordnung und gerade in Ordnung also nur dort ist, wo er die Prüfungen der Vernunft besteht.“
Denkt heute niemand mehr so etwas?
Oder schweigt er still, weil er denkt, so wie Du sagst: „leider darf man ja überhaupt nichts mehr sagen (und denken), was nicht pc ist. aber grundsätzlich müssen doch verschiedene ideen / gedanken / gegensätze / meinungen möglich sein, ohne gleich eine terroristin zu sein oder schlimmeres…“
Die (auch das ein Zitat von Sonnemann) „Diffamierung des Dagegenseins“ ist eine deutsche Spezialität – mit langer Tradition.
Wenn man das jenseits des historischen Kontextes liest, fällt einem auf, dass all das, was wir gerade erleben, wirklich und wahrlich nicht zum ersten Mal passiert. Aber was haben wir daraus gelernt?
Die Deutschen, gemeinhin von außen, aus der Perspektive fremder Nationen betrachtet, als das „Land der Dichter und Denker“ angesehen, hatten selbst ja schon immer einen klammheimlichen Hass gegen eigenständiges Denken.
In den Sechzigern ging es noch ganz gut. Da hatte unsere Gesellschaft ein vielköpfiges Gegenüber von unbequemen Geistern, Peter Brückner,Carl Amery, die ganze Frankfurter Schule und ihre Kritische Theorie. Insgesamt sicher einige Hundert. Heute ist die Zahl solcher widerständiger Köpfe gefühlt unter fünf gefallen.
Wenn also 2020 ein Hans Ulrich Gumbrecht – wohl gemerkt im Zusammenhang mit der sogenannten „Coronakrise“ – von den Intellektuellen als den „Claqueuren der Mehrheitsmeinung“ spricht, wird eine Hetzjagd veranstaltet, wie zu Zeiten von McCarthy.
Wie kommt unter solchen Bedingungen nun die notwendige kritische Relativierung der Regierungsposition, der angeordneten Verhaltensweisen zustande?
VII. Die gesunde Wirklichkeit
Der Zufall spielt uns im Moment viele interessante Gesprächspartner zu. Kürzlich haben wir beim Wandern zwei Briten getroffen, reiche Leute, wie sich am Ende der Route zeigte, als sie in ihr Boxter-Cabriolet einstiegen. Beide in der Pharmaindustrie tätig, wo sie ein Berufsleben mit Ärzten und Konzernen verbracht haben. Mit den Spitzen der Impfstoff-Forschung von Astra Zeneca sind sie privat befreundet. Beide schon lange geimpft.
An der frischen Luft und fern jeder Maskierung lag das Thema Corona nicht nahe. Dann brach es durch: die trotz zweier Impfung steigenden Zahlen würden benötigt, weil die Verteilung des Boosters vor der Tür stehe. Wir kriegen keine einzige überprüfbare Zahl dafür geliefert, sagen die beiden. Ob der Booster sinnvoll ist, kann ich nicht beurteilen. Aber eins ist unübersehbar: ohne das „verblüffend erfolgreiche Projekt Angst“ (so nannten es unsere britischen Gesprächspartner) wird keine einzige Dosis Booster verkauft. Insofern, resümierten sie, könne man es als gesicherte Erkenntnis ansehen, dass, wenn alle Ärzte, alle Politiker, alle Vertreter der Pharmaindustrie einer Meinung seien, man es nicht mit einem gesundheitlichen Problem, sondern mit Propaganda zu tun habe.
Mit der „gesunden Wirklichkeit“ jedenfalls sei es vorbei!
Was genau mochten sie meinen mit Propaganda? Wir fragten nach. Ich fasse, was ich verstanden habe nachstehend zusammen.
Propaganda lebt von Verhetzung. Die Beweisbarkeit ihrer Argumente nimmt sie nicht besonders ernst. Eine Formel, der sich die aktuelle Propaganda bedient, lautet daher die „Pandemie der Ungeimpften“. Ob medizinisch etwas dran ist oder ob die verbliebenen paar Prozent Ungeimpfter überhaupt auch nur die kleinste Kräuselwelle im aktuellen Gesundheits-Geschehen auslösen könnten, bleibt dabei gegenstandslos. Hauptgegenstand der propagandistischen Verlautbarungen ist die Durchsetzung der autoritären Linie.
Das ist nach meinem Verständnis, was die beiden Briten meinten, als sie davon sprachen wenn alle Mediziner offiziell einer Meinung wären, dann…
Diese Form der Hemmungslosigkeit, die sich in Rechtsaussetzungen, Gesetzesverschärfungen, Straferhöhungen und Einschränkungen aller Art äußert, ist die politische Kehrseite der zuvor beschriebenen wirtschaftlichen Polarisierung, der Umverteilung von Arm zu Reich.
Der emotionale Aspekt dieser Hemmungslosigkeit, auf kollektiver Ebene, ist die Verachtung, zumindest Geringschätzung aller, die sich nicht dem Diktat des Gleichmachens unterwerfen. Die Verfemung Andersdenkender.
Sie markiert einen sehr alten Konflikt zwischen der Masse derer, die gleich sind („flexibel“) und den wenigen, die („stur“) anders bleiben. Damit keine Unsicherheit aufkommt, dass das, was man entschieden hat, richtig war, müssen alle, die es anders sehen, aus der Gesellschaft ausgeschieden werden. Nur unter Gleichen ist man sicher.
VIII. Das Unbehagen
Wie, liebe …, lassen sich all diese disparaten Aspekte, diese Versatzstücke aus Texten und Gedanken, zu einer Summe bringen?
Vielleicht so:
Der Staat hat sich mit Einmischung ins Privatleben seiner Bürger aus gutem Grund schon immer verdächtig gemacht. Den aktuellen Empfehlungen zur Eindämmung der Pandemie zu vertrauen, ist zudem eine schwierige Angelegenheit, wenn er – wie wir zuvor gesehen haben – den Bürgern keine nachvollziehbaren, keine belastbaren Daten liefert, er auf Einschüchterung und Angst, statt auf Einsicht und Kooperation setzt, wenn er im Verdacht steht, mit den Maßnahmen nur das von seiner Regierungsspitze zugrunde gesparte Krankenhaussystem vor dem Kollaps bewahren zu wollen, eben damit nicht auffällt, welcher Schaden zuvor schon angerichtet wurde, wenn er sich urplötzlich mit solch einschüchterndem Elan bis an die Grenze zum Zorn um unsere gesundheit kümmert, ein verhalten, das nahezulegen scheint, dass etwas Anderes, ungleich Schlimmeres verborgen werden soll – könnte dies eine aus Gewinnsucht bereits vollzogene Ruinierung der Fürsorgeeinrichtungen sein, von denen wir bislang dachten, dass ihr Erhalt unverbrüchlich zu den Aufgaben des Staates gehört?
Ich meine, die Summe der Erfahrungen unseres Lebens erlaubt uns nicht, vorbehaltlos anzunehmen, dass der Staat das Beste für seine Bürger will und dies verlässlich und prioritär organisiert.
Daraus erwächst für uns die Pflicht, seinen Anordnungen kritisch zu begegnen, um herauszufinden, in welche Zwangslage wir angesichts von Corona wirklich geraten (sind).
Wo so viel Profit im Spiel ist, wie wir jetzt nach zwei Jahren erkennen können, wo so viele Menschen mit kleinen Geschäften in Bereichen wie Kultur, Dienstleistung oder Einzelhandel, von denen sie zuvor zwar nicht luxuriös, aber doch recht anständig leben konnten, nun ruiniert sind, wo so viel schwer nachvollziehbare oder oft völlig an den Haaren herbeigezogene Kostensteigerungen (zB. bei Baumaterialien, Papier etc. pp.) „der Pandemie“ wie einer Ausrede zugerechnet werden, ist tiefe Skepsis wohl das Mindeste.
Insbesondere aber dort, wo der Staat unmittelbar in unseren Körper hineinregiert und ihn mit streng ausgeübter Befehlsgewalt pharmakologisch versorgt.
Dass aus dieser Lage ein „Unbehagen in Permanenz“ (Sonnemann, Einübung des Ungehorsams, S.12) entspringt, leuchtet ein.
Wie ist dieses Unbehagen zu verstehen? Die Menschen wollen nicht opponieren, ahnen jedoch zugleich, dass sie damit womöglich das Falsche bestätigen. Sie entschließen sich, alles mitzumachen, auch wenn es einer kritischen Überprüfung nicht standhielte, eben weil sie Angst haben. Sie treiben sich mithin selbst die konzertiert geschürte Angst aus, indem sie gutheißen, was ihnen abverlangt wird, ohne es zu überprüfen. Sie profitieren, indem sie sich sicherer fühlen. Das Unbehagen aber schwindet nicht.
Es würde zum Ausbruch kommen, wenn man skeptisch bliebe. Aber alle wollen das Unbehagen los sein. Skepsis gilt daher nicht mehr als überlebensnotwendig, sondern im Gegenteil: bedrohlich.
Keiner soll die Empfehlungen hinterfragen: „Ich habe nichts falsch gemacht, wenn ich das tue, was der Staat mir rät.“
Dass dieser psychische Mechanismus bei uns so reibungslos funktioniert, lässt sich nur so erklären, dass die Deutschen – mit ihrer vielfach gebrochenen Obrigkeitstreue von geradezu mythischer Dimension (Sonnemann erwähnt in diesem Zusammenhang den „sagenhaften Siegfried und den abermals sagenhaften Biedermann“) – sich mit aller Kraft über die „Beunruhigungen des Abgrundes hinweghelfen“ wollen.
Ogott, jetzt auch noch ein Wahlkommentar – nach all den Corona-Artikeln, die der Leser kaum noch lesen mag, geschweige denn möchte der Autor freiwillig weitere schreiben. In solchen Zeiten ist es manchmal besser, sich wie beim spätsommerlichen Fahrradfahren in der Abendsonne zu verhalten: Maul zu und durch. Die Fliegen prallen ab und fallen tot zu Boden. Besser, als wenn man sie runterschluckt.
Denunziation
Die SPD ist – wie viele autoritäre Parteien – nur ganz äußerlich rot. Das sagen schon die Plakate. In Berlin plakatiert die SPD eine Kandidatin, die rothaarig ist: angeblich „rot bis in die Haarspitzen“. Abgesehen, davon, dass man schon platt ist, wie chauvinistisch dieses Plakat daherkommt, zeigt es deutlich, welches Rot gemeint ist: das Scheinrot.
Der Kanzlerkandidat Scholz – freigestellt auf monochrom rotem Hintergrund: ein freundlicher Führer, dem allerorten der fehlende Bart angemalt wurde – ist entsprechend der Farbe ein Scheinriese. Geht man näher heran, schrumpft er zum Zwerg, wenn auch zum Giftzwerg. Viele werden ihn wählen, weil sie Laschet nicht mögen, der sich nicht einmal zur Größe eines Scheinsöder hat aufschwingen können.
Aber wer ist dieser Scholz eigentlich? Ist er nicht eiserner als die „Eiserne Lady“, unsere „Mutti“?
„In Hamburg ist nach dem G20-Gipfel vom Regierenden Bürgermeister Olaf Scholz die Behauptung aufgestellt worden, es habe keine Polizeigewalt gegeben. Scholz ergänzte: „Das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise.“ … Die Hamburger Härte sei die angemessene Reaktion auf die von den Demonstranten vorgetragene Gewaltbereitschaft.
Scholz hat abgelehnt, dass es eine institutionell vorgegebene Gewalt wäre. Er wollte die institutionelle Gewalt, die die Polizei als Institution hat, als friedliche Institution, die wollte er retten und nur eingestehen, dass es Überreaktionen gegeben hat. Den Begriff der „Polizeigewalt“ könne man eigentlich nur verwenden in Bezug auf Ausrutscher, auf individuelle Übergriffe.“
Soweit meine damalige Anmoderation in der Telepolis.
Keine Beißhemmung
Dann kam ein heute noch interessanter persönlicher Kommentar des Kriminologen Fritz Sack, den wir im selben Beitrag zu G20 interviewt hatten. Sack, selbst 50 Jahre SPD Mitglied, sagte über seinen Parteigenossen: „Ich habe den Scholz mal erlebt, genau vor dieser Schill-Wahl. Da hat die SPD Wochen vorher noch versucht, einen Personalwechsel einzuleiten. Damals war ich Mitglied in der Polizeikommission, und die Polizeikommission hatte eingeladen zum Tag der Offenen Tür auf dem Polizeigelände. Das war irgendwo in Winterhude. Der neue Innensenator Scholz stellte sich mit den Worten vor: „Ich habe keine Beißhemmung gegenüber Kriminellen.“ Das war der Begriff, den er dort verwendet hat. Wie er jetzt agiert hat – ungeschickt agiert, wie ich finde -, das erinnerte mich daran. Keine Beißhemmung. Dass er eigentlich die G20-Gelegenheit benutzte, instrumentalisierte, um einen Schandfleck von Hamburg zu bereinigen.“
Scheinheiligengipfel
Ja, gut, wer keinen autoritären Kanzler will: wen wählt er dann? Die grüne Scheinmutti mit der kleinen Steuerhinterziehung, über deren Bekanntwerden sie selber „sich am meisten ärgert“? Sie ist scheinfürsorglich, aber fraglos und nachgewiesenermaßen selbstbegünstigend. Eine vorgebliche Klimaschützerin, die schon jetzt schokoladenbraun ist von ihrer eigenen, sicher noch kommenden „Operation Abendsonne“. Haben sich nicht gerade gestern schnell noch vor der Wahl all die scheinheiligen Scheuers und anderen Schurken 71 (sic!) gutdotierte Stellen um die 10.000,00 € geschaffen – auf Kosten des Steuerzahlers?
Das Bild über diesem Artikel trägt die Unterschrift: „Schon genesen oder noch gesund?“
(Die Genesenen, Teil II)
Unter den Blumen des Bösen aus der Sprach-Zucht der autoritären Demokraten treiben die Regelungen und Erlässe der Ministerien besonders schöne Blüten. Heute stelle ich die SchAusnahmV vor, einen Turbobrüter für die Ängste von Impfzwang-Paranoikern. Wer wissen will, ab wann und wielange er zum Beispiel ein Genesener ist, muß sich mit der frisch geschärften Machete höchster Aufmerksamkeit durch einen Urwald tautologischer Sätze den Weg zur Antwort bahnen. Dabei wird er feststellen, dass G3 eine reine Marketingformel ist, die den Anschein freiheitlicher Wahl erwecken soll. Wer das dauernde Testen leid ist, kann sich ja impfen lassen. Faktisch herrscht schon G1: Nur Geimpfte dürfen uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Wie man dieses „Faktum“ am besten als akzeptabel und alternativlos verkauft, erkläre ich im selben Beitrag. Ein wenig verrate ich schon vorab: durch solide Korrektur der falschen Einstellung!
Warnung: Lesen Sie nur weiter, wenn Sie nichts gegen Glossen über ernste Themen haben und es kaum abwarten können zu erfahren, wie man verkehrte Ansichten richtig stellt.
Faktencheck Sprache findet nicht im leeren Raum statt. Sie bildet gesellschaftliche Entwicklungen ab, in düsteren, wie in aufgeklärten Zeiten. Die Romane „LTI“ von Victor Klemperer, „PLN“ von Werner Krauss und das „Wörterbuch des Unmenschen“ von Sternberger et al. legen beredetes Zeugnis darüber ab, wie sich Verwerfungen sozialer Art in verworfener Sprache Ausdruck verleihen.
Die offizielle Sprache, die Sprache der Verlautbarungen, ist immer ein Machtinstrument. Deshalb lohnt die Beobachtung ihres Wandels. Wir können aus ihm rückschließen auf die Wandlungen in den Gehirnen, auf den „herrschenden“ kollektiven Geist. Wer einen Ausdruck definiert, besitzt die Macht über das mit ihm Bezeichnete.
Seit etwas mehr als zehn Jahren geistert ein Hybridwort durch die politische Landschaft. Es bringt in denglischer Unform auf den Begriff, was Gegenstand dieses Artikels sein soll: Faktencheck. Seit Beginn der neuen Zeitrechnung namens „Corona“ ist der Faktencheck zum Gradmesser der Loyalität geworden: wer den Check nicht besteht, ist Staatsfeind. „Fakten“ sind so zu „Lesarten“ verkommen. Der nachweisbare Sachverhalt biegt sich ährendünn im Wind der Staatsräson, der scharf aus der Richtung Wirtschaft bläst, die neue Felder zum Bestellen sucht.
Die Reichsverweser des Faktencheck sind Agenturen, mit allverfügbarem Stiftungs- oder Wagniskapital gegründet von jungen Leuten, die ich im Sinne dieser Reihe als „vollständig Genesene“ bezeichnen möchte: alerte Doppelverdiener um die Dreissig, die freiwillig ins Home-Office gehen, das gern über 100 qm groß ist und über ultraschnelles Netz verfügt, die ihr Essen online beim Bringdienst bestellen, die einen Prime Account haben, die ohne zu Zaudern den Lehrer ihrer Kinder anscheißen, wenn er keine Maske trägt, die Lastenrad mit Kinderkoffer aus Sperrholz fahren, weil sie ernsthaft glauben, damit das Klima zu retten, denn das Sperrholz stammt aus zertifizierter nachhaltiger Forstwirtschaft und was zertifiziert ist, muss gut sein. Dabei führen sie die ganze Zeit das Gendersternchen stolz im Mund, mit anderen Worten, Leute, die sich ohne jede Hemmung auf alles einlassen, weil es gerade angesagt ist. Nicht zu vergessen: alle Faktenchecker und Faktencheckgläubigen sind, wenn sie sich nicht schon vorher eines Dosis erschlichen haben, spätestens seit Frühjahr 2021 Mitglieder der G1-Community und spätestens seitdem aggressive Verteidiger der Alternativlosigkeit. Ihr Motto in allen Lebenslagen: Klar können wir das! Eine ganze, seit Corona aus dem Boden pilzende Generation von Besserwissenden, Bessermachenden, Besserlebenden. Die wissen, wie es geht. Die dir sagen, dass du ein faules Ei bist. Und die sich das selbst glauben.
Eine von Leuten dieser Klasse gegründete Faktencheck-Agentur heisst, wie sie alle heißen müssten, damit klar ist, was sie wollen: Correctiv.
Wir korrigieren deine falschen Ansichten!
Correctiv behauptet, „Recherchen für die Gesellschaft“ zu leisten und hat dies gleich zum eingetragenen Namen einer „gemeinnützigen GmbH“ erhoben. Die Firma ist Wikipedia einen opulenten Beitrag wert. Ihr Gründer David Schraven hat beides, was zur Ausstattung des vollständig Genesenen gehört, so wie der „Sansibar“-Aufkleber auf den „Touareg“: einen Vollbart und eine große Brille. Wie Schraven, ex-Mitarbeiter des Rechercheteams des Medien-Konzerns Funke arbeitet, zeigt sich am besten an dem Artikel „EXKLUSIV: Spitzenfrau der AfD in Nordrhein-Westfalen arbeitete als Prostituierte“, der einer AfD-Kandidatin für die damals unmittelbar bevorstehende Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2017 Hobby-Prostitution im Internet unterstellte.
Ich will damit nicht andeuten, dass ich Mitglieder der AfD für Teil einer schützenswerten Spezie halte. Aber Gemeinnnützigkeit spiegelt sich nicht gerade in solch steuerbegünstigter erzeugter „investigativer“ Tätigkeit, zumal wenn man die Arbeit des gemeinnützigen Flügels in einer haftungsbeschränkten Tochtergesellschaft, der Correctiv – Verlag und Vertrieb für die Gesellschaft UG vermarktet.
Für Facebook leistet dieser Teil von Correctiv gewerbliche Faktencheckdienste. Solche Firmenbündnisse, bei denen die gemeinnützige Abteilung der Zugmotor für ein Geschäftsmodell der gleichnamigen Tochtergesellschaft ist, gehen beim Finanzamt ohne Beanstandungen durch. Es handelt sich ja schließlich um zwei getrennte juristische Personen. Man hat von den philanthropen Wagniskapitalisten gelernt, wie es geht.
Schraven ist zudem Mitbegründer der Reporterfabrik, die – wahrscheinlich aus Dank für die Reinwaschungsdienste der UG – von Facebook mitfinanziert wird. In der Reporterfabrik kann man sich von Sascha Lobo oder Doris Dörrie ab 5,00 € online-Kursgebühr das 1×1 des „Bürgerjournalismus“ beibringen lassen. Den günstigen Preis gewährleistet neben den Zuwendungen des social-media-Giganten die Robert-Bosch-Stiftung.
Der gemeinnützige Teil von Correctiv hat eine illustre Liste von Zuwendern a