In den zurückliegenden Jahren wurden immer mehr Mitbürger kriminalisiert und als Staatsfeinde gebrandmarkt, deren Überwachung durch die einschlägigen Dienste es bedürfe. Wie viele sind es? Nur ein Promille der Gesellschaft? Oder gar, wie andere glauben belegen zu können: 20%? 16 Millionen Bundesbürger im Widerstand? Zeichnet sich hier eine Wirklichkeitsspaltung ab, bei der die subjektiven Orientierungen der Menschen und das öffentliche System der staatlichen Institutionen gefährlich auseinander driften? Birgt das eine Hoffnung?
Im Sinne von (Wilhelm) Reich wäre es (…) falsch, Kapitalisten, Eliten oder gar einzelnen Führerinnen und Führern die alleinige Schuld dafür zu geben, dass sich dieses Interesse durchsetzt: Die anerzogene Zerstörungswut der »Massen«, also unsere Zerstörungswut, verlangt ebenfalls unbewusst nach einem System, das dieser Destruktivität Ventile verschafft. Auch wenn aus Politik,Medien und Wirtschaft machtvolle Vorgaben kommen, sind es doch vor allem wir, die als Eltern, Erzieher und Betreuer das ausführen, befürworten oder zulassen, was Sozialisierung genannt wird – und was wiederum in unseren Kindern destruktive Anteile erzeugt.
Andreas Peglau, Rechtsruck (2017)
Es kommt zu einer unmerklichen, aber folgenreichen Wirklichkeitsspaltung: Die subjektiven Orientierungen des Menschen und das öffentliche System der staatlichen Institutionen driften auseinander. Am Ende steht eine gebrochene Gesellschaftsordnung, in der … das offizielle Institutionengefüge völlig intakt und funktionsfähig erscheint – die Wahlen werden nicht gefälscht, die Korruption ist nicht endemisch, die Machtteilung wird respektiert, Recht wird gesprochen. Aber im Inneren dieser Gesellschaft brodelt es, mit Ausbrüchen ist zu rechnen, in der Abwendung vom System entstehen politische Schwarzmarktphantasien – das Einfallstor für Populisten jeder Art.
Oskar Negt im Spiegel-Interview 2010
Hetzjagd
Zunächst ein Wort – nicht in „eigener Sache“, sondern in „unser aller“: zugleich eine Verneigung vor unseren Lesern.
Als wir am 23. April 2020 den Blog begonnen haben mit Inhalten zu füllen, ersetzte er eine Email-Info-Liste, deren Betrieb zunehmend unangenehm geworden war, weil sich der Stil der Auseinandersetzung zwischen uns, den Versendern, und unseren Freunden, den Empfängern, in kürzester Zeit herb verändert hatte.
Es war an der Zeit, uns persönlich aus der Schusslinie zu nehmen, spätestens als diejenigen, die wir für unsere Freunde gehalten hatten, anfingen, uns für unsere Fragen und Gedanken zum Pandemie-Management als Massenmörder zu beschimpfen, oder uns zumindest für solche Leute zu halten, denen zugunsten ihres „wohlfeilen Anti-Etatismus“ der Tod eines Großteils der Bevölkerung gleichgültig sei.
Die Email-Liste hatte selten mehr als 20 Empfänger. Das war unser engster Kreis, dem wir angeboten hatten, über Politik und Wirtschaft zu sprechen. Heute, drei Jahre danach, hat sich dieser Kreis auf insgesamt 100.000 Leser vergrößert (mit insgesamt 400.000 Seitenzugriffen) – die magische Linie der sechstelligen Zahl wird noch in dieser Woche überschritten. Damit hatten wir nicht gerechnet. Doch wir sind natürlich hoch erfreut.
Leider hat sich in ebenso unvorhersehbarem Maß der schwere Vorwurf in unserer Gesellschaft breit gemacht. Die Kriminalisierung schreitet voran. Ebenso wie die Spaltung.
Wer separiert sich da von wem?
Kriminalisierung
In den zurückliegenden Jahren wurden Mitbürger kriminalisiert und als Staatsfeinde gebrandmarkt, deren Überwachung durch die einschlägigen Dienste es bedürfe.
Diese Mitbürger wurden als potentielle Gewalttäter oder gewaltbereite Gruppierungen kategorisiert, gegen die präventiv Gesetzesverschärfungen mühelos – scheinbar im allgemeinen Einvernehmen – durchgesetzt werden konnten, deren Durchsetzung meist gerade nur noch haarscharf im rechtsstaatlich vorgesehenen Procedere stattfand, nicht selten, über demokratische Verfahren sich hinwegsetzend, deutlich grundrechtseinschränkend.
Der Zorn der Macht richtet sich gegen:
– Mieter, die offensiv für den Verbleib in ihrer Mietwohnung oder ihrem gemieteten Ladengeschäft kämpfen, insbesondere wenn sie nicht davon absehen, Unrecht, Spekulation und gesetzeswidrigen Umgang mit Eigentum an ihren Fensterscheiben in Wort und Bild öffentlich zu machen.
– G20-Gegner, die durch ihre Bekleidung und ihre Parolen im landläufigen Sinn beziehungsweise nach populistisch-medialer Ansicht als “Anarchisten” einzuordnen seien. Echte Anarchisten aber sind rar geworden – solche wie die, die im spanischen Bürgerkrieg unter Beweis stellen konnten, dass sie mühelos in der Lage sind, eine ganze Großstadt – Barcelona – administrativ in den Griff zu bekommen, d.h. erfolgreich zu lenken. Treffender wäre es vielleicht, wenn man die mit dem Begriff bezeichneten G20-Gegner als libertäre Linke oder als Autonome bezeichnen würde – aber das ist ein Thema für einen eigenen Beitrag! Es steht jedenfalls fest, dass in der offiziellen Diktion kein Begriff abschätziger gemeint ist, als “Anarchist”.
Zurück zum Zorn der Macht. Er richtet sich ähnlich stark wie gegen Anarchisten auch gegen:
– Klimaaktivisten, die zu so radikalen Methoden der Blockierung greifen wie unangemeldete Demonstrationen und zu hemmungslosem Einsatz ihres eigenen Körpers neigen: für unser aller Rettung vor der Klimakatastrophe.
– Mitbürger aller politischer Couleur, die Zweifel an der Richtigkeit der “hygienischen”, mit anderen Worten: zwangsweise verhängten medizinischen Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung der Pandemie äußern.
– Tierschützer, die sich für die Methode der Tierbefreiung entschieden haben. Diese wurden sogar vor allen anderen noch als Terroristen eingestuft.
– Baumschützer, die sich für die Methode der Baumbesetzung entschieden haben und nicht auf Zuruf der Polizei freiwillig heruntersteigen; ähnlich den anderen Naturschützern gelten sie als besonders gefährlich, wenn sie sich selbst an die Tore von Unternehmen mit fragwürdigen Praktiken anketten.
– Personen, die sich mit performanceartigen Aktionen im öffentlichen Raum gegen die von Wirtschaft und Politik beschlossene Auslöschung von Natur und Kultur wenden und dabei nicht vor dem Einsatz von wasserlöslicher Farbe zurückschrecken.
– Atomenergie-Gegner, in deren Reihen sich Mitglieder aller zuvor erwähnten Fraktionen befinden; unter diesen wurden besonders stark die sogenannten Schotterer kriminalisiert, solche Leute also, die symbolisch durch händisches Freilegen von Eisenbahn-Schienen auf das Sicherheitsrisiko hinweisen wollen, das damit verbunden ist, noch eine Million Jahre lang lebensbedrohlich strahlenden Müll aus der Energieherstellung mit Uran oberirdisch in einer Leichtbauhalle bei Gorleben in Niedersachsen abzulegen, wo schon 350 solcher Behälter in den letzten 50 Jahren hingefahren wurden: einmal quer durch Nordeuropa und nachts oft mitten durch Wohngebiete, wo die Waggons mit dem kochenden Abfall oft stundenlang parken.
– Schürf- und Bauplatz-Besetzer, die sich mit ihrer Besetzungsaktion gegen die am Ort geplanten und staatlich bewilligten Projekte wenden, deren energetische oder ökologische Sinn-Fälligkeit sie anzweifeln, die aber fraglos die verbliebenen Reste der Natur zerstören und seltene Tiere vertreiben.
Sicher fehlen in dieser Liste noch eine ganze Reihe ähnlicher Aktivisten. Aber es sollte klar sein, wie es um die Relation zwischen Aktion (Bürger) und Reaktion (Staat) bestellt ist.
Was alle diese Gruppierungen verbindet, ist die deutliche, nicht durch autoritäres Auftreten des Staates zum Schweigen zu bringende Kritik an Widersprüchen des aktuell herrschenden kapitalistischen Parteien-Systems und ihre durch die Aktion vorgetragene Infragestellung des staatlichen Gewalt-Monopols.
Die Reaktion des Staates auf diese Form der Kritik illustriert eine Neufassung des Selbstverständnisses von Staat. “Staat” ist nicht die Vertretung aller seiner Bürger, sondern eine übergeordnete, Zwang ausübende und sich Kritik harsch verbittende Herrschaft, die sich allein als Vertretung der – von sich selbst – als staatserhaltend eingestuften Kaste der Apparatschiks und Wirtschaftsakteure begreift.
Was genau bedeutet „kriminell“ in der Sprache dieser Machthaber?
Zunächst einmal ist es ein Sammelbegriff für das Gegensatzpaar von gut und böse:
Auf der guten Seite ist jedermann ehrlich, gesetzestreu, seriös, vertrauenswürdig, zuverlässig.
Kriminell hingegen steht für asozial, beispiellos böse, empörend und frevelhaft. Kriminell bedeutet gem. seinem lateinischen Stammwort crimen „Beschuldigung, Anschuldigung, Vergehen, Verbrechen“ (zit. nach Kluge, Etymologisches Wörterbuch). Es bedeutet, das Tun, das so bezeichnet wird, sei widerrechtlich und sträflich.
Durch Etikettierung, das Anheften einer stigmatisierenden Beschreibung, so wie „aggressiv“, „gewaltbereit“, „grundrechtswidrig“ oder „chaotisch“, die sämtlich zum Bedeutungsfeld von „kriminell“ gehören, findet eine pauschale Schuldzuweisung statt, die eine personenbezogene oder Argument-basierte Wertung ebenso erspart, wie eine Angemessenheitsabwägung oder Kontextualisierung des angeblich „militanten“ Verhaltens: wird „randaliert“, “blockiert” (oder jüngst: “geklebt”), gilt das Prinzip „mitgefangen mitgegangen“. Eine Debatte über den Gegenstand des Protestes findet dann nicht statt.
Diese Methode der Wertung von Protestformen ist in jüngster Zeit gewaltig ausgeweitet worden durch Framing mithilfe ganzer Gruppen von stets sehr vagen, doch stark tendenziös geprägten Umfeld-Begriffen wie „–Leugner“, „–Verschwörer“, „–Gegner“. Die wesentliche Gemeinsamkeit ist die Verdammung der so Bezeichneten als „deviant“, als abweichend von der gesunden Mitte.
Wenn also “der Rechtsstaat sich nicht auf der Nase herumtanzen” lässt und Strafverfolgungsbehörden die Bezeichnung “kriminell” – noch dazu im Zusammenhang mit „Vereinigung“ – anwenden auf formal gewaltfreien Widerstand wie das Festkleben des eigenen Körpers auf der Strasse, so dient der Trick der Pauschalisierung bei der Erfassung bestimmter Einzel-Personen dazu, sie wie einen “Verein” oder eine “Partei” (mit Mitgliedsausweis und Statuten) zu behandeln, also den hohen Grad der Organisation bei der Zuwiderhandlung hervorzuheben – und die (gegen unser aller Untergang) Protestierenden nicht als eine spontane Assoziation von Individuen zu sehen, und ihren Protest als organisiertes Verbrechen.
So gelangen wir an den Punkt, dass schon “eine andere Meinung haben” kriminell ist.
Bitte halten Sie an dieser Stelle mit Lesen kurz inne und ordnen Sie die oben aufgezählten Themen den beiden Seiten zu: Mieten-, Energie-, Gesundheits- und Klimapolitik, Westblock-Beschlüsse zur Osterweiterung, “Global Governance” (Nato, UNO, EU, WEF, WHO) sowie allgemeine Ziele bei der Globalisierung des Kapitals, aktuelle „Politik“ der Fleischversorgung von Milliarden Menschen.
Nun wissen Sie, auf welcher Seite der Gesellschaft Sie stehen.
Spaltung
Es gibt die Theorie, dass alle diese Gruppen und jene Teile der Bevölkerung, die mit den Zielen der mutigeren Leute, der aktionistischen Speerspitzen übereinstimmen, aber entweder berechtigte Angst haben, ihre Körper polizeilicher Gewalt aussetzen, um ihre Ziele publik zu machen, oder schlicht nicht aktiv mitmachen können, zusammen etwa 20 % der Gesamt-Bevölkerung ausmachen. Das wären in Deutschland immerhin 16 Millionen Menschen. Diverse Befragungen scheinen eine Zahl rund um 20% zu bestätigen.
Ich beziehe mich hierbei auf eine Email-Debatte mit dem Psychoanalytiker und Wihelm-Reich-Herausgeber Andreas Peglau. Er schreibt:
„… ich meine, das Corona-Geschehen lässt sich nicht nur auf den negativen Nenner bringen. Ich sehe da ein Deutlich-Werden lange oder schon „ewig“ vorhandener, nun politisch bestärkter, destruktiver psychischer und Sozialstrukturen. Ein Wieder-Aufflammen niemals bewältigter Vergangenheit.
Dass dies nun deutlicher wird, also auch nicht mehr so gut verleugnet werden kann wie bisher, ist in meinen Augen ein Fortschritt.Zum anderen haben sich – für mich aufgrund vorheriger sozialwissenschaftlicher Untersuchungen und meiner an Wilhelm Reich und Erich Fromm geschulten Auffassungen – völlig unerwartet POSITIVE Entwicklungen ergeben.
„Spreu und Weizen“ haben sich in erstaunlicher Klarheit getrennt. Und ich hatte mit weitaus weniger Weizen gerechnet.“
Das Zitat stammt aus einer Antwort auf ein Papier mit 20 Aspekten der gesellschaftlichen Spaltung, das ich im frühen Mai 2023 an diverse Autoren der AKTION versendet hatte in der Hoffnung auf einen anregenden Rücklauf.
Zahlen, die besser dokumentiert sind als die zuvor geschätzten 20%, bietet Peglau in seinem Buch „Rechtsruck“ (S. 94), in dem er versucht, dem kollektiven Charakter näher zu kommen:
»Autoritäre Aggression«, das Nach-unten-treten-Wollen des autoritären Charakters, identifizierten Decker et al. 2016 bei 67,5 % der deutschen Bevölkerung – das sind mehr als
48 Millionen Bürgerinnen und Bürger! Da es 2014 »nur« 52,1 % waren, denen dies zugeschrieben werden musste, also in zwei Jahren mehr als 15 %, also elf Millionen hinzugekommen sind, muss von einem erschreckenden Anstieg gesprochen werden, der zumal im Zuge der Befragungen den bisherigen Höchststand markiert.
Die »autoritäre Unterwürfigkeit«, das Nach-oben-Buckeln, das diesen Typus komplettiert, stieg zwischen 2014 und 2016 ebenfalls deutlich an, von 19,7 auf 23,1 %: mehr als 16,4 Millionen Deutsche. Auch diese Einstellungen ziehen sich, in unterschiedlicher Stärke, durch die Wählergruppen aller Parteien.
Peglau präzisiert dann in der Email an den Autor – sechs Jahre nach Erscheinen des zuvor zitierten Textes:
Ich sehe eine Spaltung in noch dumpfer, destruktiver, autoritärer als zuvor agierende 80 % und in 20 %, die zum einen verfolgt, diskriminiert werden. In denen sich aber zum anderen vielfach unglaubliche Kreativität, Lebendigkeit, Mut bis hin zum – ganz unkitschig gemeint – Heldenhaften entwickelt hat. Da kann bei vielen tatsächlich von „Erwachen“ gesprochen werden im Sinne des Erlangens – vielleicht bitterer – Klarheit, von „Durchblick“, in was für einem Staat, System wir leben.
Noch nie in der deutschen Geschichte gab es einen derartig breiten und qualifizierten Widerstand gegen unterdrückende staatliche Autorität. Das ist großartig und lässt hoffen, dass das menschliche Potential, der „gesunde biologische Kern“, mit dem wir geboren werden, bei vielen nicht so tief verschüttet ist, wie ich dachte.
Bei der Zitierung des „gesunden biologischen Kerns“ bezieht sich Peglau auf Wilhelm Reichs Theorie, der menschliche Charakter besäße eine Struktur, die aus drei Schichten bestünde:
In der oberflächlichen Schichte seines Wesens ist der durchschnittliche Mensch »verhalten, höflich, mitleidig, pflichtbewußt, gewissenhaft.« Es folge eine »mittlere Charakterschichte, die sich durchweg aus grausamen, sadistischen, sexuell lüsternen, raubgierigen und neidischen Impulsen zusammensetzt«. Dies entspreche dem Freud´schen Unbewussten. Darunter schließlich sei der »biologische Kern« verborgen, der dem Menschen ermögliche, »ein unter günstigen sozialen Umständen ehrliches, arbeitsames, kooperatives, liebendes, oder, wenn begründet, rational hassendes Tier« zu sein – die Basis der »Selbstregulations«-Fähigkeit.
Rechtsruck, S. 48
Wirklichkeitsspaltung
Eine weitere Antwort sendet AKTION-Autor Julien Coupat:
„Alles, was du feststellst, entspricht der französischen Erfahrung. Ich glaube, dass es sich weitgehend um ein Troll-Unternehmen der Regierung handelt und dass es wichtig ist, die Erfahrung der Spaltung zu teilen, um die wahre Teilung sichtbar zu machen.
Die wahre Teilung besteht meiner Meinung nach zwischen denjenigen, die aus allen möglichen Gründen die Partei der sozialen Moral ergriffen haben – ein Verhältnis der Exteriorität zu sich selbst und zu anderen, das die Möglichkeit bedingt, jegliche Macht auszuüben, sowohl über sich selbst als auch über die Welt und die anderen; in diesem Sinne ist die Partei der Moral die Partei der Macht – … und auf der anderen Seite denen, die annehmen, dass sie sich auf einer ethischen Ebene befinden, einer “Ebene der Immanenz”, wie Deleuze sagen würde, auf der niemand berechtigt ist, jemand anderem vorzuschreiben, wie er oder sie leben soll.
Diese Aufteilung entspricht, wie man sieht, nicht strikt der Spaltung in Schafe und Impfgegner.
Ich glaube, diese Spaltung muss historisch und strategisch verstanden werden: Der Kapitalismus hat seit einem Jahrhundert gewaltsam in die Subjektivität eingegriffen, so dass die Seele für ihn zum zentralen Schlachtfeld wurde, und der Kapitalismus gewinnt dabei immer wieder, denn der offensichtlichste Schwachpunkt der gesamten sozialistischen Tradition ist ihre Schwierigkeit, sich auf das Individuum, auf die Einzigartigkeit zu beziehen; der Kapitalismus hat den Sozialismus genau dort angegriffen, weil dies der Punkt ist, an dem sein Gegner sich am unbehaglichsten fühlt, und das bleibt auch so.
Andererseits ist die Moralisierung von allem die Voraussetzung für die Einführung einer perfekten legalistischen Regierungsform (Han Fei Tse usw.) – China ist die moralischste Gesellschaft der Welt; und da die chinesische Regierungsform der Polarstern aller Mächte der Epoche ist, muss alles dem Erlass von moralischen Standards unterworfen werden.
Das bedeutet, dass es immer wieder zu aufdringlichen moralischen Standards mit sozialer Rechtfertigung kommen muss.“
Soweit Coupat.
Wohin nun von hier aus? Ich versuche zusammenzufassen.
Anti-Emanzipation
Die Deutschen sind Experten für Spaltung, beginnend mit der Zerlegung ihres Landes in zwei Teile. Die daraus resultierende Diskriminierung der eigentlich “eigenen” Leute als „die Anderen“ ist tief eingeschrieben in das kollektive Bewusstsein. Aus dieser vorurteilsbehafteten Verdammung heraus erklären sich viele der aktuellen Phänomene. Aber nicht alle.
Jakob Hayner hat kürzlich das Versagen der Linken in dieser Situation mustergültig beschrieben, so dass ich hier nur auf den bereits publizierten Text „Wie die Linken lernten, Gehorsam und Überwachung zu lieben“ verweisen möchte.
Die „Grenze” zwischen uns und den anderen verläuft heute längst nicht mehr, wie es schon lange an einer Hauswand in Ostberlin stand, zwischen Ost und West, vielleicht nicht einmal mehr zwischen Links und Rechts (ein Begriffspaar dass sich unter dem orchestrierten Beschuss der letzten Jahre weitgehend aufgelöst hat), sondern (wie schon immer) zwischen Oben und Unten.
Doch wie Peglau anmerkt, reicht auch die Trennung nach Oben und Unten nicht aus, um zu erkennen, was passiert. Wenn nicht derartig viele, die unten sind, die da oben unterstützten, hätten die da oben keine Macht. So heisst es weiter in Rechtsruck, S. 107: Die meisten erwachsenen Deutschen vereinen … in sich lebensfeindliche und lebensbejahende Positionen. Die entscheidende Grenze verläuft auch hier nicht zwischen Parteien, sondern zwischen Persönlichkeitsanteilen.
Delikaterweise tragen die 100 Jahre kapitalistischer Demontage und Neuzusammensetzung der Psyche jetzt Früchte, die unsere Mitmenschen weiter auseinander bringen, als das politische Konstrukt, das uns in Ossis und Wessis gespalten hat.
Die gesellschaftliche Spaltung zwischen denen, die keinerlei Skrupel haben, unsere Verhaltensweisen so zu manipulieren, wie es für sie gerade am einträglichsten ist (wirtschaftlich) und jenen anderen, die den Zugriff auf die seelische und körperliche Integrität für ethisch unzulässig halten und sich auch keine “besondere Ausnahme” dafür vorstellen können, wird unübersehbarer von Tag zu Tag – und zwar in Form aller möglichen “Zumutungen” (Kriminalisierung, Ausschluss, Verfemung), die die wesentlichen Elemente der in den vergangenen 200 Jahre errungenen Emanizipation wieder zurücknehmen.
Der “gewaltsam(e Eingriff) in die Subjektivität” und die möglichen Gegenstrategien sollten wohl in den nächsten Jahrzehnten unser aller Hauptthema sein.
Noch dazu häufen sich gerade Themen, die unter diesem Angriff immer schwieriger zu behandeln sind!
Energie, Klima, Altersarbeitsgrenze, neue Formen der Armut, Bargeldabschaffung (dadurch beliebig zu beschleunigende Inflation, dh. allgemeine Verunsicherung für die unteren 95%), digital amplifiziertes Sozialpunkteprogramm (also das Prinzip von Strafe und Belohnung), Dauerüberwachung (und kommerzielle Ausbeutung jeder Aktivität/Bewegung, dadurch Versiegelung aller Nischen für Rückzug und Alternative) – die Liste ließe sich fortsetzen.
Bei allen diesen Fragestellungen fällt unmittelbar auf, dass die im Westen erlernten politischen Begriffe und Strategien nicht mehr greifen, trotz einer jahrzehntelangen Erprobung des Widerstands in einer (wie man heute sieht: weitgehend verlogenen) Friedensbewegungs-, Öko- und Grünen-Vergangenheit.
Genau jetzt, als es erstmals wirklich darauf ankommt und für alle zum existenziellen Thema wird, knicken die erwähnten Widerstandsgruppen ein und machen jeden Mist kritiklos mit, schlimmer noch: unterstützen flammend das Zersetzende, De-Solidarisierende, Kriegerische.
Wie Coupat richtig sagt: die wesentliche Linie verläuft jedoch gar nicht zwischen “Schafen” und “Coronaleugnern”, sondern zwischen denen, die Zugang zur Macht haben und ihn (mit Unterstützung der Massen williger Schergen) vollständig ethikfrei nutzen und denen, die von diesen Eingriffen betroffen sind und immer weniger Chance haben “zu desertieren” oder zu “resignieren” (Franco Bifo Berardi), also sich zu entziehen, um jenseits der Einordnung in die bestehenden Machtverhältnisse etwas eigenes Anderes aufzubauen.
Ergänzung nach einer weiteren Diskussion zum Thema am 30.5.23:
Das Festhalten an Einheit und Übereinstimmung ist unter den Bedingungen, wie sie in den letzten Jahren entstanden sind, fragwürdig geworden – Bedingungen übrigens, die auf die Spitze getrieben, nischenfrei global ausgedehnt und beschleunigt werden von epidemisch verbreiteten Kommunikationstechnologien, die für die hemmungslos überaufgeblähten Erwartungen der sie nutzenden Zeitgenossen in einem nicht zu vernachlässigendem Umfang qualitative Maßstäbe setzen, so dass man insbesondere in den Metropolen nicht mehr umhinkommt, die Proponenten dieser Kultur für Mitglieder einer fremden Spezies zu halten. Vielleicht ist die Spaltung real längst vollzogen.
Ist mit Leuten dieser Spezies Verständigung noch möglich? Ist sie interessant? Zielführend?
„Seperation” ist so betrachtet hilfreich, vielleicht sogar nötig: scheiden tut zwar weh, aber vielleicht ist nach all den Jahren der Einvernehmlichkeit – bisweilen über politische Differenzen, über längst bestehende Bruchlinien hinweg – wegen des (vermeintlichen) Zusammenhalts gegen den “Klassenfeind” nun eine Zeit der Trennungen angebrochen: damit Unterschiede klar und unverbrüchliche Linien gezogen werden können, hinter die es kein Zurück geben kann.