“Desertiert aus dieser Gesellschaft – sie mündet in Vernichtung!”

Über einen gewaltigen Text von Julien Coupat und seinen Genossen

Mit dem Abdruck des Textes “choses vues / Wir haben gesehen” von Julien Coupat setzen wir in unserer digitalen Ausgabe von “Die Aktion” die Reihe poetischer Reflektionen über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft fort.

Eine Prosa von solcher Wucht sucht Ihresgleichen. Vielleicht erscheint etwas Vergleichbares nur alle paar Jahrzehnte. Als habe der Autor mit dem gewaltigen Schlägel seiner Worte einen Gong zum Schwingen gebracht, ertönt ein Rhythmus, der lange nachhallt.

Doch zunächst einige Worte zum Autor: Julien Coupat war 1999 einer der Gründer der heute legendären Zeitschrift Tiqqun.

Im selben Jahr hat ihn Luc Boltanski in seinem Buch “Le Nouvel Esprit du capitalisme” der situationistischen Bewegung zugerechnet.

International bekannt wurde Coupat als einer der Angeklagten der als “Tarnac Nine” bekannten Gruppe aus dem Dorf Tarnac im Département Corrèze in der Region Nouvelle-Aquitaine. Weil er einen Castor-Transport angeblich durch Sabotage einer TGV-Strecke verhindern wollte, wurde er vom französischen Staat als Terrorist verfolgt und 2008 für 6 Monate widerrechtlich inhaftiert, ebenso wie andere Mitglieder der Gruppe. Alle wurden 2018 vom Terrorvorwurf freigesprochen.

Ein Foto vom Prozeß findet sich in der Le Monde, die Coupat dem militanten Flügel der “Gelbwesten” zugerechnet wird.

Coupat galt lange als einer der Autoren des “Comité invisible (Unsichtbares Komitee)”, die als Verfasser von “Der kommende Aufstand” firmieren. Coupat hat seine Autorschaft jedoch dementiert. Das Buch wurde von den Behörden beschlagnahmt und galt in dem Prozeß als Beweisstück.

Während des Prozesses skandierten die Angeklagten ein Wort von Emile Zola:”Überall Polizei, nirgends Gerechtigkeit!

Eine interesante Parallele zwischen den Büchern “Revolution – Wir kämpfen für Frankreich” von Emmanuel Macron und dem “Unsichtbaren Aufstand” zieht der Philosoph Jérôme Batout in diesem Artikel .

Im April 2009 ergab eine Untersuchung der Wochenzeitung “Charlie Hebdo”, dass die Terrorabwehr spezialisierte Behörde der franzöischen Regierung versucht hat, Julien Coupat für seine Beteiligung an einem Handgranatenangriff in den Vereinigten Staaten im März 2008 verantwortlich zu machen, um ihr Verfahren gegen ihn zu rechtfertigen.

Im Januar 2017 revidierte das Kassationsgericht nach neun Jahren Gerichtsverfahren und der Entlassung des mit der Untersuchung beauftragten Richters die Charakterisierung des Tarnac-Falles als “terroristisch” endgültig.

Am 12. April 2018 wurden Julien Coupat und Yildune Lévy vom Pariser Strafgericht freigelassen.

Während des 4. Groß-Demonstrationen der “Gelbwesten” am 8. Dezember 2018 wurde Coupat erneut verhaftet und in Polizeigewahrsam genommen.

Coupat ist, zusammen mit anderen, der Autor unseres heute in DIE AKTION erstmals in Deutsch erscheinenden Textes über die “Dinge, die man im Mai und im August 2020 gesehen hat” – veröffentlicht in französisch am 4. September 2020 auf Terrestres und auf “reporterre“.

choses vues

Mit der Wahl des Titels “choses vues” (etwa: “zu sehende Dinge”) bezieht sich Coupat auf den gleichnamigen autobiographischen Text von Victor Hugo, der erst im Nachlass erschien.

“Choses vues” sind Notizen von Victor Hugo, die posthum in zwei Serien, 1887 und 1900, veröffentlicht wurde.

Hugo erzählt in “Choses vues” von Ereignissen, die sich während seines Lebens ereignet haben, wie dem Tod von Talleyrand, der Rückführung der Asche Napoleons, dem Prozess in der Affäre Teste-Cubières, der Flucht Louis-Philippes nach der Revolution von 1848, dem Sturz Napoleons III. und dem Beginn der Dritten Republik.

1846 änderte Hugo radikal seine politische Auffassung und wurde zum Republikaner. 1862 vollendete er im politischen Exil sein Hauptwerk “Die Elenden“, in dessen Mittelpunkt der Sträfling Jean Valjean steht – eine im Kern höchst moralische Figur, mit der sich immer wieder von der Gesellschaft zu Unrecht Verurteilte identifizert haben.

Hugos politisch-ethische Mammutepos trug wesentlich zur Herausbildung der realistischen Literatur im 19. Jahrhundert bei. Vermutlich aufgrund seines historischen Anspielungsreichtums und seiner häufigen Verwendung von „Argot“, der französischen Gossensprache (in Coupats Version der COVIDalen “choses vues” z.b. das Wort “salauds” = Hundsfötter), dient Zolas Spätwerk wohl als Richtschnur für die Arbeit von Coupat.

désertions

Übersetzung ist immer auch ein großes Stück weit Interpretation. Wo sie scheitert oder fehlgeht, ist es die mindeste Pflicht des Übersetzers, zumindest die Quellen offenzulegen.

Den gegen Ende des Textes verwendeten Begriff “désertions” habe ich unzulänglich mit “Zuflucht” übersetzt. Er beinhaltet aber m.E. ein komplettes politisch-philosophisches Konzept. Er ist daher schwer mit nur einem Wort in seiner gemeinten Bedeutungsfülle ins Deutsche zu übertragen. Er stellt eine poetische Verdichtung dar im Bedeutungsfeld von Austritt, Aufkündigung, Fahnenflucht gegenüber der Gesellschaft.

Es ist in erster Linie ein militärischer Begriff – jedenfalls im Singular “dersertion”– weiter unten heisst es entsprechend auch “déserter”- abhauen, die Fahne verlassen.

“desertions” trägt aber möglicherweise – besonders durch seine Kombination mit “maquis” = Gestrüpp” – auch ein Bedeutungs-Element von “Wüste” in sich – von lat. “desertus”, verlassen, öde, einsam – also ein Gelände, das vom Rest der Gesellschaft aufgegeben ist und in das man sich nun möglicherweise zurückziehen kann, um dort freier zu leben. Das lateinische Stammwort “de-sero” spricht vom “sich losmachen”, “im Stich lassen”, meint aber metaphorisch auch “aufgeben” und “vernachlässigen” und ist somit das Gegenteil von lat. “sero”: säen, pflanzen, hervorbringen.

Insgesamt geht es m.E. um eine willentliche Abwendung, Absonderung und Entfernung von der allgemeinen Lebensweise , die als falsch betrachtet wird, weil sie zu Vernichtung führt.

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