Variante Zwei

Einige Anmerkungen zu “Variante 2“, einem nachgelassenen Text von Steve Wright und BBM, veröffentlicht aus Anlass des 1. Todestages von Steve Wright in DIE AKTION

What I want to see

No prisons
no locks
no keys
no killings
no laws
to control the free of us
but a paradise
a heaven on earth
where everyone can sing and dance
to their own music
and we live
only to bless each other
to bless each other
to bless each other

Last Poets, Song, veröffentlicht am 19. Mai 2019 (zum 93. Geburtstag von Malcolm X)

Als uns der afroamerikanische Schriftsteller Darius James im Jahr 2000 den Ausdruck eines umfänglichen Gutachtens auf den Tisch legte, herausgegeben vom EU Parliament, Abteilung STOA (Scientific and Technological Options Assessment), das den sperrigen Titel “An Appraisal of Technologies of Political Control” trug, war unser erster Gedanke: das ist “conspiracy theory”.

Die EU konnte unmöglich eine Nichtregierungs-Organisation beauftragt haben, ein derart dystopisches Bild unserer Zukunft zu zeichnen. Der Name der Autorengruppe (Omega Foundation) bestärkte uns in dieser Ansicht. Wenn das keine “fake news” waren, was auf den 1000 Seiten des Reports zu lesen war: dann gute Nacht, Europa!

Wir fuhren nach Manchester. Wir wollten wissen, was wirklich dahinter steckte.

In dem engen Büro eines Zieglbauwerks aus der “workshop of the world”-Epoche rollte auf einem Kniestuhl ein bärtiger Mann zwischen seinen angeblich 270.000 Dokumenten hin und her: Steve Wright.

Steve sprach ein für unsere Ohren quasi unverständliches “Mancunian”, in dem noch dazu jedes L und jedes R zu einer Art Rachenlaut umgeformt waren. Die Dichte und Fülle der auf uns einstürzenden Informationen reichte jedoch für ein intensives Erleben, auch wenn man nur 25% des Gesagten verstand.

Mehr hätte keiner von uns verarbeiten können, ohne an “information overload” zu kollabieren.

Steve Wright und der Filmemacher Werner Boote (“Plastic Planet”) in “Alles unter Kontrolle” (Standfoto)

Wenig später standen wir unten vor dem Haus in einer fish&chips Bude, die über eine Fritteuse verfügte, in der man mühelos drei, vier Wale zugleich in Brotteig hätte ausbacken können. Der Kabeljau, der aus den Wogen des siedenden Öles auftauchte, hatte entsprechende Ausmaße und war köstlich. Damit waren wir beim zweiten Lieblingsthema von Steve: Essen. “i´ll stuff you with curry” war ein Satz, der sich abends auf der “currymile” in jeder Hinsicht bewahrheiten sollte.

Ein 5-stöckiges Chinarestaurant mit geschätzt 800 Sitzplätzen war tags drauf der nächste Anlaufpunkt mit Steve. Alles was exotisch, extrascharf und in mindestens einer Hinsicht gewaltig war, faszinierte ihn maßlos.

Der Kerl schien es auch sonst in seinem Leben stets darauf angelegt zu haben, über sich hinauszuwachsen. Ununterbrochen produzierte dieser Mann in seinem ewigen dunkelblauen Nadelstreifenanzug schillernde Bilder, die rein gar nicht zum ansonsten seriösen Auftritt passten: Geschichten aus einem Afghanistan vor dem Krieg, ein blutjunger Steve, nackt, nur mit einem bodenlangen Fellmantel bekleidet, auf einem frisch von Talibanen gekauften Pferd durch die Berge reitend, gehörten ebenso zum Repertoire wie die freche Entwaffnung eines Pistole-tragenden FBI-Chefs auf einer Sicherheits-Konferenz in den USA. Ein Beweisfoto existiert!

Dennoch war Steve nie großkotzig oder selbstverliebt. Die Schwänke und Schauermärchen waren ein exakter Ausdruck jener Vitalität, die ihn auch in der wissenschaftlichen und politischen Arbeit über das Gewöhnliche hinaus wachsen ließen. Sein Entsetzen über politische Mißstände und waffentechnische Fehlentwicklungen war ansteckend und ließ nie nach.

Als wir wenige Tage später aus Manchester nach Hause zurückkehrten, hatte sich alles um uns herum bereits verändert. Jede Seite des Gutachtens war plötzlich mit Leben gefüllt. Wir nahmen die Welt anders wahr.

Steve Wright und Olaf Arndt (BBM) 2013 in Aix-en-Provence auf der “Anti-Atlas”-Konferenz

Insbesondere dann, wenn wir Steve über Jahre immer wieder in Ettlingen trafen. Dort richtete das Institut für Chemische Technologie der Fraunhofer Gesellschaft seine Biennalen für “Nicht-tödliche Waffen” aus – eine bemüht als Wissenschaft getarnte Messe für alle möglichen exotischen Prototyp-Waffen zum Schocken, Lähmen, Quälen.

Steve hatte “Konferenz” zu einer besonderen Lebensform erhoben. Wir meinen damit nicht das quälende, tagelange Ausharren in den schlecht ventilierten Sälen, die schon gleich morgens nach dem Frühstück, beim 9 Uhr Vortrag, vom Schweiß der anwesenden Männer in ihren Synthetikhemden barsten. Die besondere Lebensform entwickelte sich abends, etwa im “Erbprinz”, der jenseits vom Bächle lag, neben dem sich das Schild erhob, das für die Vorzüge der Kleinstadt vor den Toren Karlsruhes warb: “Der Traum an der Alb”.

Im “Erbprinz” saßen wir also, weil Steve es so wollte, an einem Tisch mit den geklonten Kerlen von MI5 und GSG9, die ausschließlich aus Muskeln und Samensträngen zusammengebaut schienen. Oder in einer Weinstube mit den Russen, die den Stoff für den Gaseinsatz im Moskauer Musicaltheater geliefert hatten. Warum sollten wir auch mit den NGO-Fritzen zusammenhocken? Wir wollten ja etwas Neues hören, nicht das, was wir selbst über die ganze Show dachten.

Die Jacketts der staatlichen Funktionsträger lagen zerknüllt auf der altdeutsch getönten Eckbank und die Synthetikhemdsärmel wurden hochgekrempelt, um das deutsche Bier besser packen zu können. Alle wesentlichen Informationen über künftig geplante wehrtechnische Projekte kitzelte Steve abends aus den Leuten raus, während er selbst eigentlich nur über seine Lieblingsthemen, Essen, guten Wein, Reisen, redete. Die Typen flossen aus. So einen coolen Freund wie Steve hätten sie gern gehabt.

Die Bereitschaft, über fraglos menschenrechtsfeindliche Projekte unverhohlen zu sprechen, entsprang nicht allein der Selbstgewissheit, dass diese Projekte die endgültige “Humanisierung der Kriegsführung” bedeuten würden. Hier war man richtig: in der Aufbruchsstimmung in eine kommende autoritäre Demokratie. Man durfte zufrieden sein. Schließlich hatte ja die Bundesregierung diese Veranstaltungen alimentiert.

Die Schizophrenie solch verbaler Verrenkungen, die “Krieg” und “human” verschwisterte, resultierte nicht zuletzt aus dem Gemeinschaftsgefühl: unter Seinesgleichen, in der permanent rund um den Globus jettenden Gesellschaft der zur Lebensform “Konferenz” Gehörenden, fühlte sich jedes Mitglied sicher. Hier konnten die Widersprüche geheilt, das Unvereinbare zusammen gedacht werden. Begriffe wie “Holismus” (gemeint war: die Ganzheitlichkeit der Gewaltstrategien) und “Revolution” (“revolution in military affairs”) liefen um – als sinnentleerte Verhöhnung aller gesellschaftlichen Befreiungsbewegungen.

Wenn Militär- und Polizei-Vertreter schon generell mit dem Gefühl unterwegs sind, dass unabhängig von politischen Weichenstellungen oder Gegenbewegungen von Bürgerrechtlern ihre Variante der Realität am Ende obsiegen werde, dann steigerte sich dieses Omnipotenzgefühl noch einmal, wenn die weltweite Gemeinde bei Saumagen und Obstler zusammenkam.

Steves Rolle war ein riskanter Balanceakt, der vielleicht nur deswegen nicht zum Sturz führte, weil sich die Parteien wechselseitig brauchten: zum einen spielte er denjenigen, der dazu gehört, alles weiß, vor dem man keine Geheimnisse haben muss. Er spielte und gewann: sie akzeptierten ihn. Zum anderen wollten die Vertreter staatlicher Gewalt die Argumente der Gegenseite kennen, um sie rechtzeitig in ihre Planungen einbeziehen zu können. Es war ein vorgebliches Geben und Nehmen, ein kruder Deal, der schon rein körperlich – nach 10 Stunden Sitzen im Konferenzsaal – an die Grenzen ging, wenn wir abends noch bis Ultimo weiter ansaßen, weil die Wahrscheinlichkeit, dass die Zungen sich lösten, mit jeder Runde stieg.

Steves große Leistung war, dabei immer integer zu bleiben.

Die Vorträge am nächsten Morgen: da musste man durch. Hoch aufmerksam trotz Schlafdefizit: alles wollte dokumentiert sein. Und verkettet mit dem, was in der Kneipe am Abend zuvor geredet wurde. Wie Steve das ausgehalten hat, all die Jahre, Jahrzehnte, und wie er es schaffte, dann präzise auf das Wesentliche komprimiert am nächsten Tag in London der “small arms”-Arbeitsgruppe von Amnesty , gegenüber dem ICRC in Genf oder bei Pugwash das Gehörte zusammenzufassen und warum er nicht für das, was er tat (immer wieder die Waffenlobby bloßstellen) erschossen wurde, bleibt uns ein ewiges Rätsel.

Fast zwanzig Jahre hielt die Freundschaft, bis zu Steves Tod genau vor einem Jahr im November 2019. Es gab kein Projekt, das wir uns ausdachten in den vergangenen zwei Jahrzehnten, in das nicht seine Gedanken einflossen.

Aus einer Kooperation für ein Roboter-Theater zum Thema “Drohnen und autonome Waffen” (2018 in der Kunsthalle Mannheim) entstand dann ein weiterer, gemeinsam verfasster Text “Variante 2“, als Vorschau auf die nächste geplante Kooperation, die nun nicht mehr zustande kam.

Steves typische Art zu schreiben, kann dieser Text nicht wiedergeben, weil er eine Rückübersetzung unserer deutschen Fassung ist. Aber seine Art zu denken und andere um ihn herum spontan zu faszinieren mit dem Trommelfeuer seiner Ideen ist deutlich spürbar.

Steve war ein großer Visionär.

Er hat uns gelehrt, den Schrecken des 21. Jahrhunderts, einer im Phillip K. Dick´schen Stil aus dem Ruder laufenden Technologie, furchtlos entgegenzutreten.

weiterführende Info: Video-Interview mit Steve Wright

Auswahl Publikationen

Steve Wright (rechts) und Noel Sharkey von ICRAC (2013)

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