I. Galgenhumor
Heute erscheint auf meinem Blog ein Gastbeitrag von meinem Freund Burkard Grahn. Der Text entspringt unserer schon seit einigen Jahren anhaltenden, gelegentlichen Kommentierung der Tagesereignisse, beziehungsweise genauer: ist Ausdruck der gemeinsamen Verwunderung über die Veränderung unserer Gesellschaft in eine Richtung, die uns beiden höchst fragwürdig scheint.
Ich hatte ihm mit Blick auf die grauenvollen Wahlergebnisse vor einigen Tagen geschrieben: „Kurz vor der Wahl habe ich einen Text mit dem Titel Nichtwissen veröffentlicht, der von der Verpflichtung zum Suchen der Freude unter harten Bedingungen handelt. In meinem Leserkreis wird er anhaltend debattiert – aber zum Glück im positiven Sinn. Alle haben langsam die Nase voll von Dingen, die anders laufen müssten, aber schwer zu ändern sind, jedenfalls der Vernunft wenig zugänglich scheinen.“
In Grahns Antwort darauf heißt es:
„Das Wahlergebnis macht uns krank. Aber es ist alles keine Überraschung. Es ist ein schlimmer, aber gedanklich vorweg genommener Science-Fiction in Zeitlupe.
Da können wir uns schrecklich aufregen. In erster Linie über unsere Mitmenschen, die einerseits für Gerechtigkeit, Frieden und Rettung unseres Planeten sind, aber im Ernstfall auf nichts verzichten möchten, weil die anderen angeblich auch auf nichts verzichten möchten, obwohl die anderen anderswo auf unserem Planeten meistens unfreiwillig auf alles Mögliche verzichten müssen. Weil wir uns in unserem Wohlstandsgedusel mit eingebautem Wachstumszwang so wohl fühlen.
Diese Nicht-Bereitschaft zum eigenen Verzicht ist wie ins Schwimmbad gehen, aber bloß nicht nass werden.
Die Politiker erzählen uns, dass es immer so weiter gehen kann. Veränderungen nicht jetzt, sondern später. Das hört sich komfortabel an.
Da verlieren wir wirklich Freunde. Bequeme, feige, gutgläubige Freunde.
Manch einer mag mir solche Einschätzungen als Galgenhumor vorwerfen. Den Galgenhumor habe ich bei hunderten von Gesprächen mit Opfern des Nationalsozialismus kennengelernt. Ohne den hätte manch eine(r) die Hoffnung auf bessere Zeiten verloren und sich aufgegeben.
Galgenhumor hilft in schlechten Zeiten. Auch wenn er als Rückzug ins Private erscheint. Ist es aber nicht, weil Humor nur funktioniert, wenn wir uns sicher sind, dass andere ihn teilen.
II. Brechreiz
An dieser Stelle kam die Nachricht von der Demütigung des ukrainischen Präsidenten durch den Präsidenten der USA und seine Knechte in Washington. Da habe ich unterbrochen. Einige Gläschen Branntwein später geht es uns etwas besser. Jedenfalls ist der akute Brechreiz vergangen.
Weiter zu unseren deutschen Verhältnissen. Der Wettbewerb der Politiker und Parteien, die kapiert haben, dass die Mehrheit der Bevölkerung keine wirklichen Veränderungen will, ist groß. Wir laufen so auf eine ganz große Koalition zu.
Wen haben wir dafür im Angebot? Die SPD, die sich nicht exponieren möchte und sich am liebsten versteckt. Und Angst hat vorm eigenen Arsch in der hängenden Hose.
Und dann noch das Bündnis 90, dessen Kanzlerkandidat Harbeck zuletzt sagte: „Das Angebot war da, aber nicht die Nachfrage“. Da hat ihm Markus Feldenkirchen Arroganz unterstellt. Aber Harbeck hat recht: die Bevölkerung möchte keine grüne Politik, zumindest nicht, wenn jeder Einzelne auf etwas verzichten oder etwas beitragen muss.
Meinungen sind preiswert. Handeln ist unbequem und teuer. Nach dem systematischen Schlechtreden der Ampel-Koalition durch die ewig Gestrigen ist es jetzt sogar peinlich, zu den Grünen zu stehen. Alte Weisheit, halte immer zu Bayern München. Deren Sieg gereicht dir als Anhänger immer zu Ansehen und Ruhm. Niemals zu MTV Eintracht Celle. Wer zu Celle hält, wird ausgelacht.
Die SPD wird sich zu allerlei Verrenkungen erpressen lassen, um in die kleinste Groko unserer Geschichte einzutreten. Ob die Schwatten (wie wir hier im Ruhrgebiet zur CDU sagen) dieses Dilemma taktisch herbeigeführt haben, müssen zukünftige Historiker bewerten. Das Dilemma ist, dass angesichts der US-Politik und des russischen Kriegs gegen die Ukraine nichts anderes als diese kleinste Groko geht. Sie wollen noch auf europäischer Ebene einen Konsens finden. Ob das gelingt?
Ich sitze in Gedanken 1977 in der Raupenbahn auf der Kirmes: Im Lautsprecher „Nächste Fahrt wieder Rückwärts“. Dann geht das Verdeck zu und es spielt T. Rex „Children of the Revolution“.
Eine fidele Jugend mit Knutschen bei rückwärts fahrender Raupenbahn mit geschlossenem Verdeck. Das waren unbeschwerte Zeiten voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Wo sind wir jetzt? Und wie sind wir hier hin gekommen?
PS: der Herausgeber des Blogs dankt dem unbekannten Berliner Künstler, der den Betonpoller zum Monument der Freude mit kleinem Riss in der Stirn umgestaltet hat!