Höllenwinter

oder: „Sich auf sein eigenes Ende hin leben?“

I. Zukunft
Nachdem ich gestern den Gesundheits-Burger verdaut hatte und, wieder zu Haus, in Erwartung weiterer Schmähungen furchtvoll vor den neu eingegangenen Emails saß, sah ich mich im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Matthias Bröckers´ Text „Symbionten statt Parasiten“ mit folgender Botschaft konfrontiert:

Lieber Olaf,
wie kannst du, wie könnt ihr noch überhaupt entspannt, zufrieden, zukunftsfroh und optimistich leben? Ich lese nicht alle eure Texte, weil ich im Prinzip in meinen bisherigen wohl zu engen – privaten, professionellen gesellschaftlichen und politischen (bin immer noch seit fast 60 Jahren in der SPD!) – Grenzen verhaftet bin. Ich versuche Wissenschaft im mir bekannten und bisher praktizierten Sinne fortzusetzen – und lese dann einige der Texte aus deiner Feder und deinem Umkreis, die eigentlich auf nichts anderes hinauslaufen, als sich auf sein eigenes Ende hin zu leben. Wie machst du, wie macht ihr es, mit den Untergangsvisionen und Endzeitlichkeit weiter zu leben, woraus bezieht ihr Energie, Kraft, Lust zum Weiterleben? Was ist euer “Geheimnis” des Zukunftszutrauens?

Viele Fragen, eine gehörige Portion Hilflosgkeit und Verzweiflung…
Liebe Grüße an euch beide von uns aus Berlin, Edeltraud und Herbert.

Soweit das Zitat. (Die Namen habe ich aus persönlichen Gründen geändert.)

Ich war erleichtert: die Email erfreute mich. Denn seine Vorgänger (von anderen Email-Schreibern aus meinem Freundeskreis) waren deutlich weniger fragend-höflich und erst recht nicht erfreulich.

Diese Woche war ich schon einmal als „oberlehrerhafter Anpisser“ und zuvor als „mit Unworten wie Gesamtsterblichkeit die Toten und Pfleger/Ärzte verhöhnender“ (wahrscheinlich Un-)Mensch bezeichnet worden. Ich möchte an dieser Stelle festhalten, dass ich persönlich nie von “Gesamtsterblichkeit” gesprochen habe. Ich musste mir allerdings zurechnen lassen, einen Link geteilt zu haben, der das Wort “Gesamtsterblichkeit” enthielt.

Das war klassische Kontaktschuld. Ich war als Sympathisant überführt – eben einer, der Theorien-Bodensatz aus teils dunkler ideologischer Quelle ungefiltert weiter reichte, womit man derzeit den Adressaten bitte verschonen möge. Das sei alles gar nicht witzig, daher möge ich bitte für die Zukunft innehalten mit dem Versenden von übel zusammenhalluzinierten Spekulationen, die ich als Tatsachen hinstelle, wogegen wohl in meiner „Echokammer“ kein Widerspruch geduldet sei.

Ich war leicht irritiert und wusste erst gar nicht, was genau damit gemeint sein sollte: eine Mischung aus geistiger Folterkammer und bedingungslosem Wortgehorsam à la Sportpalastrede?
Die virtuelle Stube, die mir da angedichtet wurde als meine neue Heimat für den intellektuellen Kameradenabend – damit war sicher nicht „Dr. Satan´s Echokammer“ von DJ Spooky gemeint. Aber selbst des schlauen DJs politisch harmlose subliminale Ekstasen sind unterdessen auf Youtube und Amazon gelöscht – Entschuldigung: aus dem Programm genommen – wahrscheinlich zum Schutz der geistigen Gesundheit unserer Jugend. Es genügt offenbar wenig, um als abweichend gebrandmarkt und damit abgemeldet zu werden.

Und immer wieder in den Emails, die meinen blog oder meine Telepolis-Texte betreffen, in Varianten das Argument: Jetzt sei „nicht der Moment, irgendwelche kruden Impfgegner und Verschwörungstheoretiker herauszukramen. Das ist gemeingefährlich“.
Diese Erfahrung machen gerade ziemlich viele Freunde, die sich noch trauen zu schreiben, was sie denken, siehe Philip Mausshardt in DIE AKTION Nr.10

II. Ins Autoritäre hinein
Ich musste mir also meine Antwort gut überlegen, um nicht noch einen wertvollen Freund zu verlieren.

„Lieber Herbert,
deine Frage – eigentlich sind es ja mehrere Fragen, die du zu einer großen Frage der „Zukunft“ zusammen gefügt hast – ist natürlich nicht mit einem Satz zu beantworten. Zu viele unterschiedliche Aspekte sind in ihr verwoben.
Deswegen vielleicht nur einige kurze Anmerkungen.

Wie es mir „persönlich“ gelingt, Zukunft zu denken und zu empfinden angesichts der aktuellen Lage, kann ich relativ einfach beantworten: nach mehr als 40 Jahren Aufklärungsarbeit, die in deiner Schule einmal begonnen und seither mein Leben und meine Art kritisch zu denken maßgeblich beeinflusst haben, nach ebensolanger Zeit vollständig freier Tätigkeit, ohne je einem Herrn dienen zu müssen, nach 40 Jahren journalistischer, künstlerischer und schriftstellerische Tätigkeit habe ich gerade noch mal das Berufsfeld gewechselt, eine kontrazyklische Entscheidung, die in unserer Gesellschaft gar nicht vorgesehen ist, dass jemand mit 60 noch mal etwas völlig Anderes anfängt. Das allein schon macht mich sehr froh, so etwas tun zu können.
Dies zusammen mit der Entscheidung, ein halbes weiteres Leben in Frankreich zu verbringen und mit Blick auf unsere Nichten, die wir ein wenig wie unsere Töchter betrachten, gibt mir sehr viel persönliche Zufriedenheit.

Die Frage nach dem Aushalten-Können der intensiven Beschäftigung mit deprimierenden Themen kann ich auch noch einigermaßen plausibel beantworten: wenn man etwas objektiviert, dadurch dass man es zum Forschungsgegenstand macht – und das waren für mich die Themen Stammheim, Auschwitz/Buna, nicht-tödliche Waffen, und in der weiteren Folge dann alles, was sich um den Themenkomplex einer Demokratie herum bewegt, die immer weiter ins Autoritäre hinein sich verändert – das alles lässt sich viel leichter ertragen, wenn man es nicht nur still erleidet, sondern sich davon ein genaues Bild macht, dadurch dass man es für andere aufschreibt oder in künstlerische Installationen verwandelt.
Ausserdem war ich ja dadurch gewissermaßen Profi für “no Future”, nachdem ich in der Zeit, als ich bei dir an der Uni lernte, meine Punk-Zeit schon hinter mir hatte.

III. Bereicherungspolitik
Etwas schwieriger ist die große gesamtgesellschaftliche Perspektive.

In den 80er Jahren bin ich – vermittelt durch meine Professoren, viele davon Marxisten – mit etwas aufgewachsen, dass man ganz grob „Kapitalismuskritik“ nennen könnte, weil zu der Zeit, als ich jung war, der Nachkriegs- und Wieder-Aufbau-Kapitalismus ganz frisch und das kritikwürdige Element unserer Gesellschaft war. Kapitalismus einerseits als Garant für unsere Sicherheit und Zufriedenheit und die enorm hohe Qualität der Ausbildung. Insofern eine vergleichsweise ruhige und wenig ereignisreiche Zeit, wo Hausbesetzung noch das Aufregendste war. Andererseits war der BRD-Kapitalismus etwas, das immer wieder von sogenannten Amigo-Affären, Celler Löchern, Butterbergen und von Energiekrisen (Fokus Autoindustrie) und einer Politik, die an den negativen Effekten ihres Tuns schon damals jede schuldhafte Beteiligung leugnete, durchkreuzt wurde.

Ganz aktuell aber ist das Problem nicht mehr so sehr “Kapitalismus”, sondern sicherlich eher die gesamte politische Klasse als solche, die in keiner Form mehr sozial, dafür aber in fast jedem Aspekt ihres Handelns egoistisch ist.

An dieser Stelle hakt nun das Problem ein, das Du in letzter Zeit in unseren Gesprächen immer häufiger erwähnst: deine Mitgliedschaft in einer politischen Massen-Organisation, noch dazu in einer, die in fast Sowjet-hafter Haltung für sich in Anspruch genommen hat, besser zu wissen, was gut ist für die Bürger, als die Bürger selbst. Das war natürlich in der frühen Nachkriegszeit angesichts einer starken CDU eine gute strategische Haltung, weil die CDU sich ja darauf kapriziert hatte, alles zu tun und zu fördern, was den Leuten individuell zu mehr Glück durch persönlichen Reichtum verhilft. Da wollte die SPD natürlich zeigen, dass es Alternativen gibt.

Nun aber bist Du – durch reines Verharren dort an der Parteibasis – in einer SPD des 21. Jahrhunderts angekommen, die wenig zu tun hat mit der gleichen Partei, wie sie vor 100 Jahren aufgestellt war.

Heute hat die SPD einen gesundheitspolitischen Sprecher, eine Art Evangelikaler, der „Verzicht, sonst Untergang“ predigt und die Apokalypse kommen sieht, falls man ihm nicht folgt.

Beschwörung des Unterganges

So muss ich an dieser Stelle gegen-fragen: Wie kann man sich an Deiner Stelle, der sehr so große Teile seines Lebens im Einklang mit dem sich wandelnden, aber irgendwie konsistenten politischen Konzept einer Partei verbracht hat, noch identifizieren mit einer nun vollständig umgedrehten Massen-Organisation, die sich offenbar auf die Fahnen geschrieben hat, uns mit menetekelhaften Beschwörungsformeln (und vermutlich aus reiner Staatsräson sprich: um als Partei am Ball zu bleiben) diesen Winter zur Hölle zu machen, ohne dafür eine vernünftige medizinische Begründung, noch nachfolgende Perspektiven zu geben? Wo ist dort die Zukunft möglich?

Hinzu kommt, dass der Kern-Punkt dieser Beschwörung lautet, dass Du – nicht du persönlich „du“, sondern wir alle – aufgrund der angeblichen Komplexität der Lage nicht mehr dem eigenen gesunden Menschenverstand vertrauen DÜRFEN, Du nicht mehr Deine Freunde vertrauensvoll und Nähe suchend besuchen darfst, sondern dass sich insgesamt eine Lage ergeben hat, in der wir uns alle fürchten: voreinander!
Der Feind steckt also jetzt unmittelbar in uns.

Das ist natürlich eine schlechte Voraussetzung, um über Zukunft nachzudenken, weswegen viele, zu denen ich nicht gehöre, auch das Vorhandensein des Auslösers leugnen. Das ist eine Art Notwehr, weswegen ich es nicht gutheißen, aber doch verstehen kann (denn jeder benötigt zum Weitermachen ein wenig Zukunft) – auch wenn die Leugnerei tatsächlich schwachsinnig ist.

Aber das Problem ist – wie gesagt – gar nicht die medizinische Lage, sondern die Trittbrettfahrerei einer vollständig verantwortungslos und egoistisch gewordenen neoliberalen Bereicherungspolitik, die uns da in die nächste Entwicklungsstufe ihres dystopischen Universums treiben will und Corona nur als dazu Sprungbrett benutzt.“

Soweit meine Antwort an den Freund.

IV. Hypochondrie
Damit, dachte ich, könnte man es bewenden lassen fürs erste. Doch dann kam Moritz, der sagte: „Psycho-Keime!“
Ich sagte: „Was?“
„Na, Psycho-Keime! Du sagst es ja selbst: früher haben wir alle vor den Bullen Schiß gehabt. Jetzt fürchten wir uns vor unseren Nächsten. Und nur, weil es verboten ist, mit ihnen zusammen zu sein, halten wir sie für gefährlich.“
Ich wollte mehr hören!
„Das ist der ganz normale Zermürbungseffekt. Die Leute haben schon zu lange etwas ertragen, auf das sie nicht vorbereitet waren. Wer sich nicht schon zuvor ein Konzept gemacht hatte, auf das er sich jetzt zurückziehen und verlassen kann, der kriegt die Füße nicht mehr an den Boden. Alles was er von Dritten hört, könnte fake sein.“
Mit anderen Worten: Deine Freunde, wenn Du sie vielleicht drei Wochen lang nicht gesehen hast, könnten heimlich Leugner, Gegner, Schiefdenker geworden sein oder zu einer Thüringer Gesundbetersekte mit Blutundboden-Hintergrund übergelaufen.
Aber ist das denn wirklich wahrscheinlich?
Bin ich selbst schon verrückt geworden?
Muss ich mich schleunigst testen lassen, wie normal ich noch bin?

Oder bin ich Opfer einer methodischen Anwendung des Selektionsprinzips namens „Hypochondrie“? Wer sich mit Hypochondrie ansteckt, kann die Löffel abgeben.

Ich will jetzt nicht auch noch mit Zahlen anfangen, aber es ist doch recht wahrscheinlich, dass so in etwa 97% der Menschen hinter ihren Masken gesund sind.
Wenn man sich im Spiegel mit der Maske sieht und vor allem andere hinter ihren Tüchlein anschaut, fühlt man sich gleich krank.
Man horcht ganz anders in sich hinein… ist das Ziehen in der Lunge wirklich vom Kisten-Schleppen gestern? Oder lauert da ein Untier in mir und bereitet seine Vervielfältigung vor?

Lieber nicht drüber sprechen, sonst Quarantäne.
Lieber nicht drüber nachdenken, sonst Depression.
Hat eben jemand gesagt: „Ey Alter, komm mal runter, alles halb so schlimm!“?
Den müssen wir anzeigen!

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