Heute habe ich einen Burger gegessen. Übrigens der erste seit acht Monaten. In einem schönen gelegenen Grill am Ortseingang des brandenburgischen Kreisstädtchens P. Genau genommen: ich habe den Burger im Auto vor dem Grill gegessen. Hygienevorschrift.
Verzehr in dem Raum, in dem die Speisen zubereitet werden, scheint die Aerosole aggressiver zu machen. Oder was auch immer. Es bleibt unklar. In den Restaurants, in denen beispielsweise der Gesundheitsminister verkehrt, scheint das kein Problem zu sein. Maske ab am Tisch und gut essen. Dort wird aber auch in einer separaten Küche gekocht, so dass der Luftteilchenumtrieb im Gastraum keine Maskenpflicht erzeugt. Die Teile der Bevölkerung, die sich Junkfood in der Schnellküche abholen, essen sowieso viel lieber draußen auf dem Parkplatz. Ist doch normal.
Während ich da so mit meinem vors Gesicht gebundenen Spuckschutz vor der wabbeligen Acrylscheibe am Tresen herumlungere, vor jener nur lappengroßen, leicht im Winde des zugigen Geschäftes wehenden Plasteplatte, um die sich die Aerosole offenbar nicht herum trauen, da fiel mir etwas auf.
Von 9/11 an, also seit genau 19 Jahren, fand bis Anfang 2020 alles, was wir taten, und noch viel mehr: alles, was wir nicht mehr tun durften, im Namen der Sicherheit statt.
Plötzlich, ab Mitte 2001, war es wahnsinnig gefährlich, mit einem Softdrink ins Flugzeug zu steigen. Der Drink wurde daher in einer Box vor dem Wartesaal wie Giftmüll entsorgt. Im Wartessal wurden dann unfassbar teuere Softdrinks der gleichen Marke angeboten. Ich habe mich immer gefragt, ob die soviel kosteten, weil ein Vorkoster sie geprüft hat?
Noch gefährlicher war es damals, mit einem frisch erworbenen Rasierwasser wieder in das Flugzeug einsteigen zu wollen. Mein Rasierwasser, das zur Betonung seines Zitronenduftes mit einem giftig gelblichen, und wie ich später erfuhr: sogar gesundheitsschädlichen Farbstoff eingefärbt wurde, war, weil es sich um ein regionales artisanales handgefertigtes Produkt handelte, sündhaft teuer gewesen.
Es wurde mir jedenfalls abgenommen und wie eine Bombe entschärft. Eine Entschädigung habe ich trotz Protestes nie erhalten. Die zulässige Menge war überschritten. Ich wurde wie ein Terrorist behandelt, nur weil ich mich an den exotischen Angeboten des Landes bedient hatte, das ich verlassen wollte.
Einmal – und das war eine wirkliche Ausnahme in meinem Leben – habe ich mich mit einer wildfremden Frau nach stundenlangem nervenaufreibendem Warten im Londoner Flughafen solidarisiert, als sie in der wie einbetoniert stehenden Warteschlange ausrastete. Wir stauten vor einer technischen Innovation, dem so genannten “Nacktscanner”, der bereits über 140 Minuten seinen Dienst verweigert. Irgendwann fing jedenfalls diese nette Frau neben mir an, sich mit laut zeternder Stimme auszuziehen. Dabei legte sie typisch britischen Humor an den Tag, indem sie sagte, das Wunderding mit dem sprechenden Namen würde wohl erst wieder anschalten, wenn sie unbekleidet vor seine erlauchten Sensoraugen träte. Erst angesichts des die ganze Schlange ansteckenden Gezeters kamen die bestallten Schläfer auf dem Posten hinter dem Durchleuchtungsgerät wieder in Bewegung. Wir zivilisierte Menschen sind sehr freundlich – und noch geduldiger. Von den Auswüchsen der Zivilisation stellen wir wenig in Frage. Hinnehmen, sich nicht einmischen ist die häufigere Haltung.
Von solchen Absonderlichkeiten war das Leben im Namen der Sicherheit geprägt.
Derlei Dinge hat man angesichts der letzten neun Monate fast schon wieder vergessen. Jedenfalls fiel mir auf, während ich beobachtete, wie sich in der aufsteigenden Hitze über dem Grill eine vollkommen aerosolfreie Zone bildete, in der man maskenfrei daran arbeiten konnte, meinen Burger zu bräunen, dass heutzutage ganz ähnliche Dinge – wie zuvor im Namen der Sicherheit – nun im Namen der Gesundheit geschehen.
Der Schlafeffekt bei den Betroffenen scheint ähnlich zu sein, wie bei den Angestellten des Londoner Flughafens vor einem Jahrzehnt.
Im Namen der Gesundheit pferche ich mir also, statt am Tresen zu essen, wo man überhaupt nur bemaskt bedient wird, in Magen-belastender Knickhaltung hinter dem Lenkrad des Autos den Burger rein.
Im Namen der Gesundheit sehe ich im Freiem vor dem Nettomarkt bei -2° und leichtem Eisregen die Leute Schlange stehen – etwas das ich zuletzt im Winter 1990 in einer damals noch Leningrad genannten Stadt gesehen habe.
Im Namen der Gesundheit duscht unsere Regierung bei 5 Grad plus Demonstranten stundenlang mit eiskalten Wasser.
Im Namen der Gesundheit sitzen meine Nichten seit vier Wochen in einer Schulklasse in Neukölln, haben Ohrschützer auf, dicke Jacken an und sind trotzdem permanent verschnupft, weil der Gesundheitsminister will, dass die Fenster dauerhaft offen bleiben. So schafft man Fälle, sagen praktisch alle. Für den Eisunterricht habe ich noch niemanden eine Lanze brechen sehen. Wer aber hat ihn warum erfunden?
Im Namen der Gesundheit werden seit einem dreiviertel Jahr die sogenannten Alten und anders Begabten kaserniert und isoliert und man nimmt ihren psychischen Verfall durch gezielten Kontaktentzug hin: im Namen der Gesundheit.
Im Namen der Gesundheit werden die Vereine reglementiert und der Sport untersagt. Die Leute sollen zu Hause hocken und vor dem Bildschirm Beugungsübungen machen. Sich beugen, möchte man präzisieren.
Im Namen der Gesundheit wird die Ernährung auf Bringdienst-fähige Speisen zusammengekocht. Wer den eigenen Herd nicht zu bedienen weiß, hat schlechte Karten, wenn die mischende Hand im Namen der Gesundheit gibt.
Ohne Widerspruch nehmen wir hin, dass unsere Behörden sich hinter einer digitalen Wand verschanzen und den Dienst am Bürger aussetzen: im Namen der Gesundheit. Gesund ist offenbar in dieser Hinsicht, was die Sprechzeiten reduziert und den erforderlichen und auch erwartbaren Arbeitsaufwand für den Betrieb einer aufgeklärten sozialen Demokratie reduziert.
Im Namen der Gesundheit ist vorsorglich – anders kann man die Verbote kaum deuten – das Entspannen und insbesondere “das Feiern” verboten. Feiern ist beinahe kriminell. Aber was genau bedeutet “Feiern” denn? Feiern war doch niemals zuvor gleichbedeutend mit “methodischer Verantwortungslosigkeit”, sondern Feiern war doch eigentlich die überlebensnotwendige Auszeit aus der dauernden Engführung. Feiern war unverzichtbarer Teil des Prozeßes, von der Jugend ins Erwachsenenalter zu kommen, ohne gleich total zu verbiedern. Wie auch immer: Wer dennoch, trotz Verbotes, feiert, läuft Gefahr, im Namen der Gesundheit denunziert zu werden. Die Legitimation für das Denunzieren scheint durch den Begriff “Wohlstandsbockigkeit” gegeben zu sein. Wer nicht einsehen will, dass Feiern tödlich ist, und zwar für andere, wird stigmatisiert. Krank ist also nicht das Verraten. Krank ist das sich Widersetzen.
Im Namen der Gesundheit sehen wir konsequenterweise von der Ausübung unseres Rechtes auf Versammlungsfreiheit ab, ebenso von dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Aber nur ausnahmsweise.
Im Namen der Gesundheit darf ich, wenn ich an meinen zweiten Wohnsitz in Frankreich fahre, nicht aus dem Haus gehen, um mich beim Spazieren gesundheitlich zur ertüchtigen oder mir besonders im Winter lebensnotwendige Einheiten Sonne zu holen. Wenn ich es dennoch tue, fährt mir die Gendarmerie mit dem Jeep in die Berge hinterher, und verlangt 60 € für den Spaziergang. Im Namen der Gesundheit bin ich Freiwild für jagdgeile Polizei, die zusammen mit ihrer wachsenden gesellschaftssanitären Rolle vom Strafverfolger vor Ort, der die Plätze vom “Schmutz” der Kriminalität reinigt, zum Erzieher der Nation aufsteigt und dabei standgerichtliche Funktion erhält.
Das habe ich in den letzten 20 Jahren erlebt: harsche Einschnitte ins Alltagsleben im Namen der Sicherheit und im Namen der Gesundheit. Was ich deutlich seltener erlebt habe in den letzten 20 Jahren, sind Verbesserung des Alltagslebens im Namen des gesunden Menschenverstandes.
Gestern habe ich – wie ich dachte: im Namen des gesunden Menschenverstandes – einen Text von Matthias Bröckers veröffentlicht, der mir einige Fragen eingetragen hat von guten Freunden, die wissen wollten, ob mich der gesunde Menschenverstand endgültig verlassen habe.
Bröckers und ich teilen eine Vorliebe für die leider viel zu früh verstorbene Nobelpreisträgerin Lynn Margulis. Beide hatten wir das Glück, mit ihr zusammen an Texten zu arbeiten. Margulis hat uns mehr als jeder andere Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts über Mikroorganismen gelehrt. Sie hat sogar das Linnésche Bestimmungssystem über den Haufen geworfen unter Verweis darauf, dass es viel zu wenig vom tatsächlichen Leben auf Erden abbilde, weil es die “Königreiche” der unsichtbar kleinen Wesen gar nicht einbeziehe, obwohl diese quantitativ und von der Vielzahl der Arten her erheblich bedeutender wären, als das von Linné kartierte Leben. Wie sie das Funktionieren der Biosphäre betrachtet, ist nach meinem Verständnis nicht allein Ausdruck von gesundem Menschenverstand, sondern von hoher, sogar einzigartiger analytischer Intelligenz. Diese Idee nach ihrem Tod fortzuschreiben, scheint mir kein Ausdruck von Wahnsinn. Trotzdem traf nach Veröffentlichung des Symbionten-Textes die Frage ein, ob ich an Dysfunktionen des Denkvermögens litte?
Genau das – solche Fragen an die Gesundheit meines Verstandes angesichts (zu anderen Zeiten und unter anderen Umständen wahrscheinlich) wenig fragwürdiger Gedanken – ist die kürzest mögliche Formel, auf die man die Wirkungen der harschen Eingriffe in das Alltagsleben im Namen der Gesundheit, ausgesprochen und durchgesetzt von unserer Regierung, im Moment bringen kann.
Es gibt eine fundamentale Verwirrung darüber, was gesunder Menschenverstand sei.
Das diese Verwirrung entsteht, lässt sich auch relativ einfach erklären: unsere Regierung möchte nicht, dass wir ihn, den gesunden Menschenverstand, eigenmächtig einsetzen. Sie möchte, dass wir den Regeln folgen, die sie sich zusammen mit einigen Virologen, mit vornehmlich sehr linientreuen Kommunikationsberatern und diversen Verfechtern der schwarzen Pädagogik ausbaldowert haben.
Wer diese Regeln mit dem gesunden Menschenverstand befragt, stößt, so die jüngste Doktrin, auf Unverständnis und irritiert seine Mitbürger derart, dass sie sich an die Wand gedrängt fühlen und ihnen nichts anderes übrig bleibt, als einen zu beschimpfen, zu verteufeln und einem am (kurzen) Ende (dieser Auseinandersetzung umstandlos) die Freundschaft aufzukündigen, wenn man nicht bereit ist, dem gesunden Menschenverstand abzuschwören.
Die Bürde dessen, was meine Freunde, die mich plötzlich so kritisch sehen, im Namen der Sicherheit und im Namen der Gesundheit bereits hingenommen und zu ihrem Alltag gemacht haben, würde untragbar schwer, wenn sie nun auch noch den Zweck und Gehalt der Regeln kritisch ventilieren müssten – zumal diese Regeln bereits mit der Drohung bei ihnen einlangen, dass wir im Falle ihrer Missachtung Schuld auf uns laden, Schuld für die dramatische Verschlechterung der Gesundheit Dritter und Schuld für ein gewaltiges Sicherheitsrisiko, das uns alle betrifft.
So betrachtet ist die vermeintliche Willkür der Regeln im Namen der Sicherheit und im Namen der Gesundheit in Wahrheit keine Willkür, sondern die präzise Fortschreibung kirchlicher Gebote, mit denen wir bereits 2000 Jahre lang zur Räson gerufen wurden und darob zu gehorsamen Bürgern geworden sind.
Die Gebote der Kirche konnte und durfte niemand mit dem gesunden Menschenverstand befragen, ohne Risiko zu laufen, auf dem Scheiterhaufen zu landen. Dass die heutigen Gebote sich mit dem Air der Wissenschaft umgeben, ändert nichts an ihrem Charakter.
Über diese Gedanken war der Burger zu einem kühlen Klotz in meinem Magen geworden. Ich fühlte mich elend und war kurz davor, in Wut über das scheußliche Mittagsmahl die stinkende Tüte aus dem Fenster zu pfeffern, so wie schon seit Jahrzehnten alle anderen Freunde von Burgerrestaurants es tun. Dabei war das Essen selber überhaupt nicht schuld an der Sache.
Als ich zu Hause ankam, hatte ich eine weitere Anfrage, diesmal zu meiner Vorstellung von “Zukunft”, in der Inbox. Ich gebe sie morgen mit meiner Antwort zusammen hier wieder.
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