Heute erscheint der Beitrag von Neil Vallelly über die existenzielle Perspektivlosigkeit als dominierenden Erfahrung im neoliberalen Alltag in DIE AKTION. Zum Text geht es hier!
Der Text ist die erste deutsche Publikation des Autors und ein Auszug aus seinem aktuellen Buch bei MIT Press/Goldsmith Press Futilitarianism: Neoliberalism and the Production of Uselessness (2021).
Vallelly arbeitet an der Universität von Otago, Neuseeland – im Center for Global Migrations – über Grenzmanagement unter Corona-Bedingungen und über gewaltsame Deportation. Sein zweiter Arbeitsschwerpunkt ist Neoliberalismus.
Die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown sagt über sein jüngstes Buch:
„Neil Vallelly bietet einen umfassenden Überblick über das, was er die futilitaristische Bedingung nennt. Diese systemische und allgegenwärtige Bedingung beraubt uns eines sinnvollen Lebens und raubt der Welt ihre Zukunft. Mit eleganter Feder, leserfreundlicher philosophischer Nachdenklichkeit und einer Fülle von Beispielen erklärt Vallelly dieses nagende Gefühl: Ist das, was ich tue – in meinem Job, in meinem ökologischen Handeln, in meinem ethischen Konsumverhalten – nicht eigentlich völlig sinnlos?
Gemeinsam dagegen anzugehen sei der einzige Ausweg, so Vallelys Schlussfolgerung.“
Die „gelebte Erfahrung der Perspektivlosigkeit“ in einer Zeit epochaler Katastrophen, vom Klima bis hin zu tödlichen Pandemien, sei für den „Aufbau einer egalitären, nachhaltigen und hoffnungsvollen Zukunft unerlässlich, der Nichtigkeit der neoliberalen Existenz vehement entgegenzutreten.“
Vallelly sieht hierin die Voraussetzung für einen neuen Sozialismus gekommen.
Als Übersetzer möchten wir zur Vielzahl der Wortspiele im englischen Original noch kurz etwas erläutern. Der Autor setzt, um sein Anliegen zu verdeutlichen, dem ökonomischen Begriff des Utilitarismus ein „F“ vornan. So entsteht das titelgebende Kunstwort „Futilitarismus“ – ein Prinzip, das er durch das ganze Buch variiert: so wird aus dem Prekariat das Futilitariat, aus dem „homo oeconmicus“ der “homo futilitus“, aus der Semiotik die “Semio-Futilität“.
Wir haben uns mit dem Autor darüber abgestimmt, wie dies ins Deutsche übertragen werden kann, damit der Sinn der Neologismen nicht leer bleibt.
Doch das ist kein simples Unterfangen. Das englische Stammwort futile bietet schon im Lexikon eine schier unüberschaubare Menge von Varianten.
Laut Oxford Advanced bedeutet futile “kein Ziel zu haben“, weil das eigene Handeln keine Aussicht auf Erfolg bietet. Doch alle machen weiter, denn es treibt sie die (nie einlösbare) Verheißung, dass es eines Tages besser wird.
Wie der berühmte Schlittenhund jagen wir einer Wurst nach, die von einer Stange im fixen Abstand vor unserem Mund gehalten wird, in dem uns das Wasser zusammenläuft, ohne wir uns je am Geschmack der Wurst erfreuen könnten. Im Gegensatz zum Hund, der sicher schon nach einer Tour merkt, dass er betrogen wurde, wird dem unter futilitaristischen Bedingungen Beschäftigten jedes Jahr ein neues Wurst-Produkt vors Maul gehängt. Doch näher kommt er ihm nie, wie auch immer er es anstellt. Die ganze Zeit über zieht er jedoch den Schlitten weiter.
Die resultierende futtilitas (lat.) ist eine existenzielle Nichtigkeit und Zerfahrenheit.
Laut des Latein-Lexikons von Stowasser bedeutet das Stammwort fundere: sich ergießen, aber auch (Vermögen) vergeuden, (im feindlichen Sinne) jemanden niederwerfen, zu Boden strecken.
Wir haben daher gleich eingangs mit dem Autor versucht zu klären, wo seine Gewichtung bei der Wortbenutzung liegt.
Ob er bei futile mehr an die Sozialschädlichkeit, an die Produktion von überflüssigen Gegenständen (Umweltverschmutzung) oder die Konditionierung des Menschen denkt, die Zurichtung durch ein Wirtschaftssystem, das nur Dinge anbietet, die für ein sozial und persönlich befriedigendes Leben vollkommen nutzlos sind?
Er hat sich eindeutig für die letztere Variante entschieden und gesagt, das bei seiner Untersuchung des Futilitarismus die Auswirkung auf das Leben der Einzelnen im Zentrum stehe.
Aus diesem Grund haben wir uns dafür entschieden, überall wo futile/futility steht, es mit (existenzieller/wirtschaftlicher) Perspektivlosigkeit zu übertragen – und sein Kunstwort zu belassen, wo es auf -ismus endet.
Überall wo Vallelly futility mit meaninglessness variiert, haben wir uns für Sinnlosigkeit entschieden.
Ich beziehe mich auf Neil Vallellys Text in DIE AKTION. Dort heisst es: „Auf Schritt und Tritt werden wir als Individuen dazu angehalten, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen, klug in uns selbst zu investieren und aus jeder Gelegenheit den letzten Tropfen Nutzen herauszuwringen. Gleichzeitig werden die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen, die eine solche individuelle Nutzenmaximierung ermöglichen könnten, immer weiter abgebaut und abgewertet.“
Beim Punkt “Eigenverantwortung” stimme ich dem Autor gar nicht zu. Genau diese wird strukturell nicht gerne gesehen.
Man soll – wie am Beispiel Uni gut dargestellt – auf Eigeninitiative sich möglichst optimieren, auf Eigenkosten und ohne andere zu belasten, also idealerweise in der Freizeit. Als vorgesetztes potentielles Ziel wird die persönliche Verbesserung als Perspektive ausgegeben.
Die Eigenverantwortung ist meiner Meinung nach genau das Mittel, sich der Umstände bewusst zu werden und dem System zu entziehen.
Danke für den klugen Kommentar. Ich habe eben im original nachgeschaut, damit das Wort “Eigenverantwortung” nicht auf einer unscharfen Übersetzung basiert und wir hier am Autor vorbeireden. Dort heisst es “At every turn, we are encouraged as individuals to take on greater personal responsibility, to invest in ourselves wisely and to wring every last drip of utility from any opportunity.” “greater personal responsibility” geht sogar noch deutlicher in Richtung “Eigen-“Verantwortung: persönliche Verantwortung. Das “take on” in bezug auf greater personal responsibility” scheint zunächst deine Einschätzung zu bestätigen. Ich denke jedoch, Vallelly meint, dass damit – bei schlechtester Bezahlung – trotzdem die volle Haftung für die Folgen seiner Entscheidungen auf den prekär Beschäftigten abgewälzt wird. Diesen Aspekt von absurder Ausbeutung nimmt er mE im “wring the last drop” auf. Es geht ihm wohl weniger um Eigenverantwortung im Sinne autonomer Entscheidung und dem Handelnden selbst als höchste Instanz der Entscheidung, als um Abhängigkeit und das Missverhältnis zwischen schlechter Bezahlung und voller persönlicher Schadenersatzpflicht.