Löschung

„Es werden neue Menschen kommen, die danach streben werden, alles auf ihre Art neu zu machen. Und dann, wenn sie das von ihnen Erschaffene betrachten, wenn sie meinen, etwas errungen zu haben, werden sie herausfinden, dass das Neue ohne das Fundament des Alten nicht bestehen kann, dass es in sich zusammenbricht, dass man ohne die Errungenschaften der Kultur nicht weiterkommt, und dass die alte Kultur nicht einfach auf den Müllhaufen geworfen werden kann. Und dann wird man wieder zu den alten Büchern greifen, das, was zuvor erforscht wurde, studieren, das alte Wissen suchen. Das ist unvermeidlich.“
Michail Ossorgin, Siwzew Wrashek, 1928

Seit Wochen war ich offline. Ekel hatte mich ergriffen. Ich kann versichern: es war kein hehrer sartreanisch-existenzialistischer Ekel. Es war pure Abscheu.

Nachrichten klangen wie verfaulte Ohrwürmer.

Die Namen all jener offen bekennenden oder scheinheiligen Proto -, Krypto- oder Neofaschisten aufzuzählen, die das Tagesgeschehen bestimmen und das kritische Denken als „rechts“ diffamieren, erübrigt sich von selbst. Die Namen dieser menschenverachtenden Kreaturen werden uns bis zum Erbrechen stündlich wiederholt. Glanz und Glorie der angedichteten Weltrettung „im Namen der Wahrheit, der Sicherheit“ etc. inbegriffen.

Alles, was ich zur aktuellen Weltlage schreiben könnte, klang mir falsch oder war schon hundertmal gesagt. Warum sollte ich damit endlos weitermachen, alles endlos wiederholen wie in einem Fiebertraum?

Jeder von uns kennt die Phase gegen Ende einer längeren Krankheit, wenn die innere Hitze nachlässt, der Nebel sich lichtet, aber der gesundende Körper noch zu schwach ist sich zu erheben. In dieser hässlichen Apathie kann er sich noch nicht gegen die Martern der Endlosschleife wehren, die das Hirn zersetzt.

Vergangene Woche durchbrach ein Freund meine mediale Abstinenz mit dem Hinweis auf einen Artikel, den er gelesen hatte und fragte mich: Bist Du auch ein Opfer der „Qualitätsoffensive“ bei Telepolis? Haben sie auch deine Texte gelöscht?

Ich clickte auf den Link hier oben auf meiner Seite und musste feststellen: ja, alles weg.

Niemand hatte mich vorher informiert. In dem apathischen Zustand, den ich zuvor beschrieben habe, musste ich mich erst mal schütteln und überlegen, was es bedeutet, dass zwanzig Jahre meiner Arbeit für Telepolis auf einen Schlag verschwunden waren.

Das Erste, woran ich hängen blieb, war der militärische anmutende Neologismus „Qualitätsoffensive“.

Telepolis hat also den Kalten Krieg gegen Buchstaben ausgerufen, ein geradezu teuflisch anmutendes Vernichtungswerk, wie es einst schon Goethe beobachtet hat: „…endlich zog sie behende das zeichen der römischen fünfe
und ein strichlein davor. schnell, und sobald ichs gesehn, schlang sie kreise durch kreise, die lettern und ziffern zu löschen.“

Mit der Massenvernichtungswaffe der Text-Löschung hat der (seit 2021) „neue“ Chefredakteur Harald Neuber nach Schätzung des „alten“ (und Gründungs-)Chefredakteurs Florian Rötzer rund um 50.000 Artikel ausradiert: Eine Materialschlacht um „ungeprüfte Ware“ aus der Zeit des heute unerwünschten Meinungs-Pluralismus, die sich an der Rötzer-Neuber-Linie festgefahren hat. Genauer: Eigentlich ein Grabenkrieg um die Corona-Gerechtigkeit bestimmter Artikel, wobei Gerechtigkeit hier bedeutet, dass der Regierung mund- und denk-gerecht zubereitet sein muss, was überleben darf.

Doch was bedeutet Löschen – in soziokultureller Dimension? Löschen ist die zentrale Technik der Nichtung von Gedanken im fortgeschrittenen Digitalkapitalismus. In meinem Roman „Unterdeutschland“ heisst es daher gleich eingangs (S. 24): „Heute begradigen wir krumme Hunde mit dem Aktenschredder. Oder drücken auf ›delete‹ und die Datei ist futsch. Unwiderruflich. Löschen ist nachhaltiger als Killen. Verhindert auch Märtyrer.“

Doch die Löschfanatiker vergessen archive.org. Alles ist noch vorhanden. Sogar gelöschte Telepolis-Artikel !

Nur der ganz große Brand im Zentralen Rechenzentrum könnte alles unwiderruflich löschen. Dabei bedeutet „löschen“ ursprünglich genau das Gegenteil von „brennen“ – nämlich „retten“, vor der Zerstörung bewahren. Löschen stammt sprachgeschichtlich vom althochdeutschen „(ir)lëscan“ und bedeutet „aufhören zu leuchten, ausgehen“: eine Verdunkelung.

Das schwindende Licht hatte wohl auch Georg Christoph Lichtenberg im Sinn, als er den Aphorismus verfasste: „Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen.“

Wer die angekokelten Bärte der hinter Telepolis als Verleger stehenden Heise-Brüder genauer betrachtet, versteht sofort, dass es ihnen gar nicht um endgültige Löschung, sondern um (unerlaubte) Inhalts-Veränderung geht. Denn was sollte „Überprüfung“ sonst anderes bedeuten?

Wie fühlt sich ein Mensch, wenn er Vertrautes nicht mehr wiederfindet oder nicht mehr erkennt, weil es so stark verändert wurde, dass es eine andere Gestalt bekommt?
Menschen laufen auf immer den gleichen Straßen durch ihr Viertel – auch wenn es selten der kürzeste Weg ist – fahren immer an die gleichen Orte in die Ferien und halten auf der Strecke bei den gleichen Restaurants. Sie lesen morgens die gleichen Zeitungen, auch wenn sie beständig darüber klagen, dass stets derselbe Unsinn drin steht.

Menschen sind gern dort, wo sie sich auskennen. Sie gehen regelmäßig in die gleichen Kneipen, wo sie sicher sind, nicht mit überraschenden Verhaltens-Maßregeln konfrontiert zu sein. Sie trinken die gleichen Getränke, mit deren Wirkung auf ihren Körper sie vertraut sind. In der Stammkneipe läuft vertraute Musik. Hier spricht man auf angenehme Weise mit anderen Kneipengängern, deren Einstellung man kennt und respektiert.
In einer solchen Atmosphäre können sie aufleben. Wieder aufleben ist das beste Heilmittel gegen die krankmachende Unruhe beständiger Neuerungen voll böser Überraschungen.

Die Grundlage des Wohlseins ist, dass sich nicht allzu viel ändert. Im beständigen Kampf gegen Veränderung rundum braucht es Orte, an denen man den Menschen vertrauen und dadurch besser zurechtkommen kann.
Dinge, auf die man sich verlassen kann, beleben und erfreuen das Herz. Solche Routinen mögen nicht immer zu den besten Ergebnissen führen, aber sie beruhigen und geben Sicherheit.
Überall, wo man hinkommt, und bemerkt, das Erwartete, das Vertraute ist weg, fühlt man sich entwurzelt. Der entwurzelte Mensch aber ist kein guter Partner. Er ist sozial beschädigt.
Genau so verhält es sich leider mit einem in kleinen Schritten sich wiederholenden Abstieg, mit dem Verschwinden in kleinen Dosen. Zwar kann man sich auch hier darauf verlassen, dass jedes Jahr ein bisschen weniger möglich ist. Aber im Gegensatz zur oben beschriebenen Routine-Tour führt fortgesetzter Verlust von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, von emanzipativen Errungenschaften und uneingeschränkter Betätigung lediglich zu der konsternierten Frage, wie tief hinab es noch geht? Glaubte man im Vorjahr bereits, alle Freiheiten der Presse und Meinung verloren zu haben, wird man im Folgejahr belehrt, dass es noch schlimmer geht.
Sich wiederholende Zerstörung von Freiheiten führt zu Demolierung der Persönlichkeit. Dies hat zwei Effekte: die schwachen Charaktere verzweifeln an der Stabilität des Instabilen und sind deprimiert. Manche geben sogar auf. Der Begriff der inneren Kapitulation bildet genau ab, was nun passiert: äußerlich bleibt alles gleich. Aber es fühlt sich inwendig porös an.
Stärkere Persönlichkeiten fühlen sich nicht selten durch den konstanten Weg nach unten zum Widerstand motiviert. Sie wollen aufhalten, was sich nicht aufhalten lässt. Das Gefühl ihrer Ohnmacht radikalisiert sie. Nicht wenige Menschen fühlen sich daher vom allgemein akzeptierten Abstieg dazu aufgerufen, sich nun, wo es ohnehin schon zu spät ist, erst recht lieber den Extremen zuzuwenden. Es kommt ohnehin nicht mehr darauf an. Lieber probieren, dem Verfall irgendetwas entgegenzusetzen, statt beständig weiter zu schlucken und noch mehr zu schlucken. Deshalb speien sie lieber aus.
Genau das ist der fatale Effekt an der Einschränkung von Freiheiten. Wir haben es fortan mit einer gespaltenen Gesellschaft zu tun: die Masse der Apathischen schaut entsetzt auf die paar Irrwitzigen, die sich aufzulehnen wagen. Doch der Grund für ihren Zustand ist der gleiche. Die schöne Routine, die solide Mitte, das Korrekte und Verlässliche geht verloren. Wer nicht zusammenbricht, rastet aus.

Fans und Follower des Volksmundes wissen: alle Vergleiche hinken. In den letzten Tagen war nach der umfassenden „retroaktiven“ Löschung der Autoren-Texte in Telepolis viel von „Löschnazis“ die Rede, von Geheimdienst-Methoden, von „stalinistischer Cancel Culture“ (Florian Rötzer auf X.com), und von „Winston“, dem ergebenen Mitarbeiter des „Ministerium für Wahrheit“ in 1984, dem ikonischen Roman von George Orwell (selbst Geheimdienstzuarbeiter: er wusste, von was er schrieb).

Auch geht bei allen solchen Lösch-/Zensur-/Korrektur-Aktionen (siehe auch den jüngsten OCCRP-Skandal) die Rede von der Wiederkehr der DDR mit ihren Stasi-Methoden, von III.-Reich-Propaganda-Methoden, von den „Säuberungen“ des Sowjet-Regimes.

Die an sich schon ausreichend frappierende Ungeheuerlichkeit des Einzelfalles, wie sie die massive Vernichtung von 20 Jahren Arbeit hunderter Autoren darstellt, noch dazu verbunden mit der Idee des Chef-Redakteurs Harald Neuber (ehedem „wissenschaftlicher Mitarbeiter“ einer Linken-Bundestagsabgeordneten), die Autoren-Texte (wahrscheinlich „wissenschaftlich“) zu „sichten und zu überarbeiten“, scheint den Kritikern der Aktion erst angemessen beschrieben durch einen Vergleich mit den großen Unrechts-Taten der Unrechtsstaaten des 20. Jahrhunderts.

Wie gesagt: Vergleiche hinken.

Aber Hinken bedeutet nicht zwingend Stillstand. Wer hinkt kommt voran, nur anders als diejenigen, die gewohnt sind, schnell durchzumarschieren (um hier noch einmal die Militärmetaphorik von Telepolis aufzugreifen) und das Durchmarschtempo zur Norm erheben und weniger überrumpelnde Tempi als „krank“ brandmarken. Insofern ist Hinken eine bedächtige, nachdenkliche Bewegungsform. Das Hinken ist eine interessantere Fortbewegungstechnik als das unauffällige, gut an den allgemeine (Bein-)Bewegung angepasste Voraneilen. Hinken ist eine Technik des Voranschreitens gegen die Konvention.

Ein Stückchen Wahrheit kommt daher durch den hinkenden Vergleich immer zum Vorschein.

Wie aber weiter von diesem Punkt aus?

Für mich persönlich ist es relativ einfach: ich lebe zum Glück nicht davon, mich den Heise-Brüdern oder ihrem Erfüllungsgehilfen Neuber anpassen zu müssen. Ich habe den Verlag gebeten, mir meine Texte in der veröffentlichten Fassung offline zur Verfügung zu stellen und werde sie nun hier – in meiner eigenen, letzgültigen un-„überarbeiteten“ Fassung – auf dieser Website sukzessive unter dem Menüpunkt „eX-Telepolis“ zum Lesen anbieten.

Wie schlecht das Gewissen des Herrn Neuber sein muss, zeigt sich daran, dass er mir nicht persönlich antwortete, sondern gleich die Rechtsabteilung der Heise Medien GmbH & Co. KG einschaltete, von der mir ein promovierter Jurist und zertifizierter Datenschutzbeauftragter (TÜV) zwar meine Texte komprimiert als zip-Datei zusendete, sich aber eine aufschlussreiche Belehrung nicht verkneifen konnte:

„Grundsätzlich gewährt § 25 des Urheberrechtsgesetzes, sofern hier überhaupt anwendbar, allenfalls einen eingeschränkten Zugang auf Werkstücke und insbesondere kein Recht auf die Herausgabe von Werken.“ Ich hatte mich bei meiner Anfrage weder auf ein vermeintlich mich schützendes Gesetz, noch sonst irgendein Recht, sondern auf überhaupt gar nichts berufen, statt dessen lediglich freundlich angefragt, ob man uns Autoren nicht rechtzeitig persönlich hätte „vorwarnen“ können, wann die „Offensive“ startet, damit man sich entsprechend „rüsten“ und die eigenen Texte in der letzten Fassung downloaden könne. Die gepanzerte Antwort nun zeigt: wer kein Recht anerkennen will, aber dennoch Folge leistet, weiß doch, dass er anders hätte handeln sollen. Was lernen wir daraus? Sich über alle guten Sitten hinwegzusetzen – das sollen die neuen „guten Sitten“ sein.

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