Grüne & blaue Route – unterwegs von Toulouse und aus der Bretagne Richtung Paris. Der “Konvoi der Freiheit” – zwischen New Age, Völkermord-Verdacht und Telegram? Wer fährt denn da mit? Ein Klärungsversuch.
Teil 2 eines insgesamt 3-teiligen, vielstimmigen Berichts über ein einzigartiges Protest-Abenteuer im 21. Jahrhundert.
Teil 1 erschien gestern (siehe genau hier unter diesem Beitrag – dort findet ihr auch die Streckenkarte!) und Teil 3 erscheint morgen, Donnerstag: Bleibt hinter dem Steuer!
DONNERSTAG UND FREITAG, GRÜNE STRECKE (TOULOUSER KONVOI)
Am Donnerstagmorgen brechen einige von uns auf, um die Fahrer:innen des Toulouser Konvois zu treffen. Es erinnert stark an einen von den Gelbwesten besetzten Verkehrskreisel: fast alle hupen und singen, während ein Team unter der Umgehungsstraße Sandwiches am laufenden Band zubereitet. Die Logistik ist beeindruckend und die Spenden stapeln sich in Plastiktüten. Schon bald fragt uns jemand, wie wir nach Paris kommen wollen, denn es gibt noch Plätze in einem eigens gecharterten Bus, der für bescheidene 30 Euro von Toulouse nach Brüssel und zurück fährt. Das ist unwiderstehlich und innerhalb einer Stunde haben alle, die es sich leisten können, ihren Alltag hinter sich gelassen, um sich dem Konvoi anzuschließen.
Das erste, was uns beeindruckt, ist der ausgeprägte Organisationsgrad. Ausgehend von einer großen Facebook-Gruppe und den „Anti-Pass“- und „Anti-Impf“-Netzwerken bildeten sich Dutzende von Telegram-Gruppen, die sich um sämtliche logistischen Aspekte kümmern. Vorne im Bus diskutiert eine 50-jährige Frau von „RéInfo Covid Toulouse” mit den anderen Organisator:innen von „Convoy France” den Streckenverlauf. In diesem Moment wird uns klar, dass diese Gruppen seit Monaten miteinander diskutieren, gemeinsam demonstrieren, in Schulen Flyer verteilen und stetig mehr Leute werden (es gibt mittlerweile allein in Toulouse vier Réinfo-Gruppen).
Die erste Pause des Konvois ist in Cahors, wo wir mit fast tausend Menschen auf einem Parkplatz einen Imbiss teilen.
Am Abend halten wir in Limoges, wo uns ein Sympathisant sein Tanzlokal am Straßenrand für die Nacht öffnet.
Alle sind überwältigt von soviel Solidarität: Einige lachen, andere weinen vor Rührung. Viele sind davon überzeugt, dass sie die Reise ihres Lebens machen. Mit jeder weiteren Pause wird uns immer bewusster, wie groß die Bewegung ist. Bis wir anfangen, selbst daran zu glauben: Was wäre, wenn wir den Élysée-Palast [4] erobern würden?
Der Weg ist lang und der Konvoi langsam, sodass wir reichlich Zeit zum Diskutieren haben. Viele Menschen sind in erster Linie über die Impfpflicht besorgt. Wir waren allerdings überrascht und verwirrt darüber, wie viele Menschen davon überzeugt sind, dass der Impfstoff ein Werkzeug für einen „Völkermord” sei, mit dem vier Fünftel der Bevölkerung ausgerottet werden sollen.
Wenn wir Fragen stellten, wurden wir auf ein Universum von Quellen verwiesen, das wir kaum oder gar nicht kannten: der Corona-Ausschuss von Reiner Fuellmich, Rémi Monde [5], Bonsens.org, die Human Alliance [6] und mehr.
Wir lehnen die Impfpflicht ab, die sich hinter dem Gesundheitspass verbirgt, ebenso wie das uns beherrschende medizinische System. Wir alle teilen auch das Bauchgefühl, dass es falsch ist, dass der Staat Gesetze erlässt, die über das Schicksal unserer Körper und Seelen bestimmen.
Dennoch halten wir es für völlig abwegig, zu behaupten, dass der Impfstoff das Instrument für einen Völkermord sei. Zum einen, weil das Wort Völkermord eine präzise Bedeutung und eine Geschichte hat, die man die man nicht unterschlagen darf und zum anderen, weil es schwer vorstellbar ist, warum die westlichen Mächte zuerst ihre eigene Bevölkerung massakrieren sollten. Darüberhinaus haben wir nicht gesehen, dass geimpfte Menschen um uns herum „wie die Fliegen umfallen”. Unsere Argumente wurden von unseren Gesprächspartner:innen meist milde belächelt. Sie erwiderten uns dann: „Pass auf, denn du bist einfach schlecht informiert”. Das ist entwaffnend und ärgerlich, denn den staatlichen Manipulationen und Lügen werden Zahlen und Behauptungen gegenübergestellt, die genauso fragwürdig sind. In diesem Weltbild gibt es nur „Aufgeweckte” und „Schlafende”. Diese Rhetorik hat uns zutiefst missfallen. Sie reduziert die Politik auf das sektiererische Teilen eines Glaubens, in dem man für oder gegen den Impfstoff ist. Dabei vertritt diese Bewegung trotz solcher Ansichten und Orientierungen auch noch eine andere Idee von Politik: dass wir alle die gleichen miesen Lebensbedingungen teilen, aber entschlossen sind, sie zu verändern.
Wir führten auch andere Diskussionen, die eher klassisch „politisch” waren. Es ging dabei um das Verhältnis zu Polizei und Gewalt: viele Fahrer:innen winkten den Gendarmen zu, während andere, stärker von der Gelbwesten-Bewegung geprägte Leute, mehr auf Krawall gebürstet waren. Die Allgegenwärtigkeit der französischen Flagge, dem wichtigsten Erkennungszeichen für die Zugehörigkeit zum Konvoi, brachte auch die Fragen auf, die bereits während der Gelbwestenbewegung gestellt wurden:
Sollen wir uns das nationale Symbol wirklich wieder aneignen?
Unsere Anarchistenherzen pochten alarmiert, als unsere Fahrerin über CB-Funk fragte, ob es nicht pensionierte Soldaten gäbe, die bereit wären, dem Konvoi mit ihren logistischen Fähigkeiten zu helfen. Wir diskutierten lange, sprachen über die arabischen Revolutionen und den in einem Wochenmagazin veröffentlichten, offenen Brief, in dem rechtsextrem gesinnte Generäle zum Putsch aufriefen. Unsere Diskrepanzen waren deutlich und die Diskussionen manchmal hitzig, aber möglich: wir saßen im selben Bus.
Ansonsten herrschte große Unklarheit. Zweifel steckten stets in unseren Köpfen: Wo hielten sich Rechtsextreme und Faschisten versteckt? Die meisten Menschen zuckten mit den Schultern, wenn man ihnen von Louis Fouchés’ (ein öffenlichkeitssüchtiger „Antiimpf“-Arzt) nachgewiesenen Verbindungen zur Anti-Abtreibungs-Bewegung erzählte. Sie waren skeptisch oder nicht auf dem Laufenden.
Andere sprachen davon, sich der Protestdemo des (souveränistischen; Anm. d.Ü.) Präsidentschaftskandidaten Florian Philippot am Pariser Denfert-Rochereau-Platz anzuschließen.
Der Islam oder die Einwanderung waren kein Thema – im Gegenteil, für manche waren die Anschläge der letzten Jahre offenbar eine Inszenierung der Regierung – und auch über Antisemitismus wurde nicht geredet. Es ist unabweisbar notwendig, über die sich in den Vordergrund drängenden Gesichter von Convoy France oder La Meute vermehrt Nachforschungen anzustellen. Aber immer wenn wir uns dazu unter den Mitreisenden umhörten, war es unmöglich, eine einheitliche politische Tendenz zu erkennen.
Es gab Unterstützer des UPR-Politikers François Asselineau (der konspirative Theorien und Komplottvermutungen verbreitet; Anm. d.Ü), es gab Leute mit antikapitalistischen T-Shirts und es gab viele Menschen, die weder an die Rechte noch an die Linke glaubten.
Für viele war es die erste politische Bewegung, an der sie teilnahmen und sie waren anwesend, weil sie an Naturmedizin glauben oder sich weigern, den Befehlen der Regierung zu gehorchen. Die Menschenmassen, die die Empfangskomitees bildeten, waren hauptsächlich weiß, recht alt, hatten unterschiedliche Berufe (darunter Landwirte, Feuerwehrleute, Lehrer:innen, Elektriker, Schauspieler:innen, ehemalige Soldaten, Angestellte, Köche und auch viele Arbeitslose, suspendierte Arbeitnehmer usw.) und ihre Körper wirkten oft (von Arbeit) verbraucht.
Unsere politischen Reflexe reichen nicht aus, um diese Bewegung verstehen zu können. Sie lässt sich nicht in eine Genealogie von Kämpfen einordnen, außer in die der Gelbwesten. Dennoch klingen viele Ideen in uns nach: die Ablehnung von Parteien, von Zwangsimpfungen und Kontrolltechnologien, die Kritik an den Medien, das Gefühl von Prekarität und Marginalität, der Wunsch nach Horizontalität etc.
Zum ersten Mal nach drei Jahren teilten wir mit Unbekannten unseren Schlafplatz, unser Essen und einen überschwänglichen Enthusiasmus, um diejenigen anzugreifen, die uns regieren.
FREITAG, BLAUE ROUTE (WESTLICHER KONVOI)
Der ultralange Schneckenzug
Der westliche Konvoi hat seine eigene Dynamik, die jeden scheitern lassen würde, der versucht, ihn zu skizzieren, zu erfassen oder als Modell darzustellen. Sein herausragendstes Merkmal ist, dass er mit jeder Etappe wächst, um sich dann, immer länger werdend, durch eine schier endlose Nacht zu schlängeln. Manchmal bietet ein eigentlich unbedeutender Hügel den kaum fassbaren Anblick einer unendlichen Parade von Warnblinkerlichtern. Manchmal verlängert ein unglücklicher Fehler beim Abbiegen die Route um mindestens eine Stunde; bis die lange Schlange wieder umgekehrt ist. In jedem Dorf, jedem Weiler und an jedem Verkehrskreisel, den wir durchqueren, werden wir von Einheimischen angefeuert, die den Konvoi auf ihre Weise unterstützen, auch wenn sie sicherlich schon seit Stunden in der Kälte auf den ungewöhnlichen Schneckenzug warten. Die Müdigkeit, die sich langsam bemerkbar macht, ist plötzlich verflogen und wir erleben wieder aufgemuntert unser erstaunliches Abenteuer. Mit dem Soundtrack des Films „Convoy” aus dem Jahr 1978 als Geräuschkulisse und den hin- und herfliegenden CB-Funksprüchen (über die Fernfahrer-App „Zello”) könnte man bis an das Ende der Welt reisen!
Auf der Landstraße D923 zwischen Le Mans und Chartres stellt sich jeder mit einer Portion Fantasie vor, wie eine Ankunft in Paris aussehen könnte – denn wir folgen den Spuren eines der historischen “Wege zur Freiheit”, wie die Kilometersteine uns zeigen (Welch ein Schicksal!).
Es ist 22:30 Uhr, als wir in Chartres ankommen. Von Rennes aus haben wir 13 Stunden gebraucht, im Gegensatz zu den sonst üblichen 3 Stunden. Auch wenn es eine echte Tortur war, gerät sie durch den herzlichen Empfang dort schnell in Vergessenheit.
Jedes Fahrzeug in unserem 35 Kilometer langen Konvoi wird von einem Spalier von Menschen begrüßt, die pfeifen, singen, Feuerwerkskörper zünden, sich gegenseitig anfeuern und beglückwünschen.
Was sollte jetzt getan werden? Welche Entscheidung sollte man um 23 Uhr treffen, angesichts der offensichtlichen Planlosigkeit und Verspätung des Konvois? Einige schlagen mutig eine Versammlung vor, trotz des Risikos, das es mit sich bringt, um diese Uhrzeit, bei diesem Grad an Aufregung und Müdigkeit eine Hauptversammlung zu beginnen. Wider Erwarten gelingt nicht nur die Versammlung, sondern scheint die Wahrnehmung der Situation weitgehend die gleiche zu sein. Die große Mehrheit möchte nach Paris fahren. Um es zeitig dorthin zu schaffen, einigt man sich darauf, um 5 Uhr morgens loszufahren. Wir versuchen also, Paris zu blockieren? – Ja, klar! Mit dem Auto wäre das am Sinnvollsten, denn zu Fuß wären wir nicht viel mehr als ein paar Tausend, die sich bei mindestens vier geplanten Demonstrationen und gegenüber eingespielten Ordnungskräften in der Hauptstadt verlieren würden.
Lasst uns also die Stadtautobahn blockieren!
Drehen wir auf ihr ein paar Runden, während wir auf die anderen Konvois warten. Die groß angelegte, einen Tag vor Ankunft des Konvois gestartete Medienkampagne der Regierung über patrouillierende Räumpanzer, die Ankündigung der Mobilisierung von 7200 Ordnungskräften, Abschleppwagen usw. scheint die Entschlossenheit der Konvoifahrer:innen nicht im Geringsten zu beeinträchtigen. Das ist erstaunlich. Ebenso erstaunlich ist die Tatsache, dass niemand in der Versammlung vorschlägt, sich der einen oder anderen Demonstration aufgrund ihrer politischen Ausrichtung anzuschließen. Diese Versammlung hat gezeigt , dass es möglich ist, eine gemeinsame Entscheidung zu treffen, und das obwohl die Organisatoren von Convoy France ursprünglich beschlossen hatten, Paris zu umgehen und direkt nach Brüssel zu fahren – wobei natürlich „jeder frei sei, das zu tun, was er wolle”.
Am nächsten Tag bricht der Konvoi in die eisige Nacht auf und fährt in Richtung Paris.
Unsere Ankunft auf der Stadtautobahn ist aufsehenerregend und wird sehr schnell von den Brav-M-Motorradpolizeieinheiten gestoppt (Brav-M heisst Brigades de répression des actions violentes motorisées = motorisierte Brigade zur Unterdrückung von Gewaltakten; Anm.d.Hrsg).
An dieser Stelle gelingt uns letztlich die einzige erfolgreiche Blockadeaktion neben der über zwei Stunden dauernden Blockade der Porte de Saint Cloud. Leider wurde unser Konvoi aus dem Westen von den anderen Konvois nicht eingeholt und so löste sich dieser mit seinen Tausenden von Fahrzeugen in der Hauptstadt in Luft auf.
Mit den bereits über Nacht am Stadtrand von Paris stationierten Konvois konnte keine taktische Koordination für eine konzertierte Aktion aufgebaut werden. Die Péripherie verschluckt die Fahrzeuge, die sich in der überwältigenden Normalität ihres Stroms verloren haben.
Dabei waren wir wenige Minuten zuvor noch Tausende!
Was bleibt uns noch zu tun?
Die Mutigsten schlagen es wagemutig vor: die Avenue der Champs Élysées hochfahren!
Fußnoten
[4] Die Bewegung scheiterte teilweise an ihren taktischen Zielen: einerseits weil die Konvois ihre Ankunft nicht koordinieren konnten und so ihre vielen tausend Fahrzeuge von der Hauptstadt verschluckt wurden und zweifellos andererseits, weil die beiden wichtigsten Organisationsstrukturen, La Meute und Convoy France, sich über das Ziel der Operation nicht einig waren: La Meute sowie die meisten Konvoiteilnehmer wollten Paris blockieren, Convoy France machten südlich vor Paris einen Picknickstopp in Fontainebleau, um anschließend nach Brüssel weiterzufahren. Schließlich machte dieser Konvoi eine Kehrtwende Richtung Straßburg, nachdem er erfuhr, dass es keine weiteren großen europäischen Konvois in Brüssel geben würde. Unsere Gruppe reiste hauptsächlich mit Leuten von Convoy France.
[5] Im Stil von den vor Jahren selbsternannten Gelbwestenanführer Éric Drouet, Priscilla Ludowsky oder FlyRider ist Rémi Monde, der bereits eines der medienwirksamsten Gesichter der Anti-Gesundheitspass-Bewegung war, in den letzten Wochen zu einem der wichtigsten virtuellen Influencer des Freiheitskonvois geworden.
[6] Human Alliance sind eindeutig mit QAnon verbunden, deren Goodies wir auf Wohnmobilen, Kappen und Drohnen mehrmals gesehen haben.
Übersetzung aus dem Französischen von Gianfranco Pipistrello, @desertions_ , Einleitung von Janneke Schönenbach und Olaf Arndt
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