Der Roadtrip/3

Der letzte Teil der Reisetagebücher über die französische Protest-Sternfahrt “Konvoi der Freiheit” berichtet aus Paris und brüssel.

Kein Abenteuer ohne Pannen: Der “Roadtrip” schliesst mit einer Selbstkritik – & der Erkenntnis, dass wir nach zwei Jahren der Erstarrung langsam wieder in Bewegung kommen (müssen).

Teil 1 findet ihr HIER. Teil 2 HIER.

SAMSTAG, PARIS. Das Wiedersehen

Nachdem unser Konvoi das Nachtlager in Orléans verlassen und die Straßensperren, die den Zugang zur Hauptstadt kontrollierten, durchquert hatte, schlossen wir uns am Morgen der Demo der Gelbwesten am Place d’Italie an. Kurz darauf geht ein Gerücht auf dem Verkehrskreisel um: Die Champs sind eingenommen! Der Platz ist jedoch von Polizisten umstellt, sodass es unmöglich ist, in einem gemeinsamen Demonstrationszug loszuziehen. Wir nehmen die Metro.
Als wir um 14 Uhr auf den Champs ankommen, gehen wir sie Richtung Place de l’Étoile hinauf, wo wir die ersten Fahrzeuge sehen, die in der Mitte der Avenue parken. Die Aufregung, uns an diesen (legendären) Orten wiederzutreffen, ist spürbar. Die Sonne brennt uns auf die Schädel und wir halten unter den Passanten Ausschau nach unseren Freunden, während wir die Gesänge der Gelbwesten anstimmen.
Ich unterhalte mich mit einigen Autofahrern. Es sind die ersten Ankömmlinge aus St. Nazaire, dem Konvoi aus dem Westen. Obwohl wir von Polizeikräften umgeben sind, scheinen sie so glücklich und gelassen zu sein, dass wir es kaum glauben können. Es scheint, als ob sie sich des Risikos nicht bewusst wären, das sie bezüglich ihrer Führerscheine und ihrer Autos eingehen, noch sich vor eventuell zu bezahlenden Bußgeldern fürchten. Vielleicht pfeifen sie einfach drauf und stehen über den Dingen. Andere kommen aus Alpes-de-Haute-Provence, aus dem Dorf Manosque (oberhalb von Marseille und Aix-en-Provence, also ganz unten im Süden; Anm. d.Hrsg.). Es sind Fahrzeuge aus allen Konvois hier. Überall wird gehupt, ohne dass man entscheiden könnte, ob es sich um verzweifelte Pariser oder wütende Konvoifahrer:innen handelt. Die Präfektur hatte wahrscheinlich entschieden, durch ein fast beispielloses Aufgebot an Polizei den Verkehr aufrecht zu halten und die Geschäfte offen zu lassen, wohl mit dem Ziel, die Anwesenheit der Konvois zu verschleiern – eine Strategie, die teils auch aufgeht.

Was für seltsame Szenen, bei denen die Ordnungskräfte unterschiedslos Demonstranten und Touristen von den Champs zurückdrängen, auch auf die Gefahr hin, einige schicke Geländewagen mit Tränengas einzunebeln, um anschließend die Menge wieder die Avenue hochgehen zu lassen, ihnen zu gewähren, kurzzeitig Blockaden zu errichten und befreundete Fahrzeuge zu suchen, um sie dann erneut zu zerstreuen.
So geht das über Stunden. Bis die Brutalität der Ordnungskräfte schließlich die letzten Träger von Vuitton-Taschen bei Einbruch der Dunkelheit vertreibt.


Die Brav-M und die neue CRS 8-Einheit, die auf die Aufrechterhaltung der Ordnung bei Demonstrationen spezialisiert sind, besetzten massiv die Champs – und das angesichts einer relativ geringen Anzahl von Demonstranten, auch wenn es einem Teil der verschiedenen Demonstrationszüge am Ende des Tages doch noch gelungen war, zu uns zu stoßen. Einige Fensterscheiben werden zertrümmert und die Polizei beschlagnahmt einige Autos aus dem Konvoi. Jemand schreit „Freiheit” und wird bewaffnet angegriffen; ein sehr junger Mann wird gewaltsam zu Boden gerissen und festgenommen. Insgesamt gab es nach Angaben der Präfektur 97 Festnahmen und 513 ausgestellte Strafzettel.
In dieser Atmosphäre bedarf es starker Nerven, an Ort und Stelle zu bleiben, weiter die Avenue hinauf und hinunter zu ziehen und den Verkehr zu stören. Die Entschlossenheit war groß und wir spielten stundenlang Katz und Maus, ohne dass die Menschen aus den Konvois bestrebt gewesen wären, die Polizei oder Luxusgeschäfte direkt anzugreifen.

(eindrucksvolles Video HIER)

Trotz ihrer Brutalität gelang es der Polizei erst um 21 Uhr, nachdem die Luxusgeschäfte geschlossen hatten und der Anteil der Polizeikräfte die Anzahl der Demonstranten und Touristen erreicht hatte, die Champs zu räumen.
Aus taktischer Sicht bleibt die Erkenntnis, dass die bloße Androhung einer durch Autos erzwungenen Blockade die Machthaber erzittern lässt und sie sich mittels einer intensiven Kommunikation am Vortag, etlichen Straßensperren und Umleitungen große Mühe gaben, eine vollständige Lähmung von Paris zu verhindern.
Um die Blockierer zu blockieren musste die Präfektur die Stadt selbst blockieren, denn es war sehr schwierig für sie, zwischen Demonstranten und eigentlich Unbeteiligten zu unterscheiden. Und nichtsdestotrotz gelangten einige mit ihren Autos auf die Champs.
Wir merken uns also das Potential von solchen Straßenblockaden, auch wenn sie weitaus effektiver sein könnten.

BRÜSSEL: Überstürzte Flucht

Sonntag
Nach einem etwas durchwachsenen Tag in Paris kommen viele Menschen bei „Einheimischen“ unter und verbringen dort die Nacht. Am nächsten Tag setzt der Konvoi seine Reise fort. Er bewegt sich fortan nur noch über Nationalstraßen (nicht auf Autobahnen, die von den Franzosen als “Gefängnisse” betrachtet werden, da man alle Nutzer am einzigen Ausgang, der Mautstelle, leicht abfangen kann; Anm. d.Hrsg.). Wir treffen in einem Vorort von Lille, in Faches-Thumesnil, auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums wieder auf den Konvoi.
Die Stimmung ist die gleiche wie bei den anderen Stopps des Konvois: Pyros, Feuerwerk, Menschenspaliere für die eintreffenden Autos, Kleintransporter, Lastwagen und Wohnmobile, Gesänge, Fahnen und ausreichend Verpflegung für alle.
Über das Mikrofon hören wir, dass der Gemeindebürgermeister, ein Mitglied der als “radikal links” eingeordneten) Partei France Insoumise anbietet, einen Saal (der Gemeinde) zu öffnen, um die Konvoi-Mitfahrer:innen über Nacht zu beherbergen.

Es ist die Rede davon, eine Versammlung abzuhalten, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Doch anstelle einer Vollversammlung schließt ein „ziviler Mediator“ ein Mikrofon an einen Lautsprecher an und organisiert die Wortmeldungen: Zunächst einige Berichte über das Geschehene, dann eine Scheindiskussion über das weitere Vorgehen. Soll man nach Brüssel fahren oder nicht und wenn ja, wann?
Einige Personen, darunter insbesondere zwei von Convoy France, schlagen vor, nach Straßburg zu fahren, da dort in der kommenden Woche die Abgeordneten tagen. Sie berichten von einem Treffen mit den Abgeordneten am nächsten Dienstag. Man erfährt von ihnen auch, dass die Konvois aus anderen Ländern nicht ankommen würden und der erhoffte Zusammenschluß wahrscheinlich ein Flop wird. Aber so kurz vor Belgien und nachdem sie einen Großteil Frankreichs durchquert haben, will die große Mehrheit nichts davon wissen und skandiert „Brüssel, Brüssel, Brüssel!”, sowie „Diese Nacht, diese Nacht!”. Die Option „Straßburg” findet keine Mehrheit und die Entscheidung, die Grenze zu überqueren und sich der belgischen Hauptstadt zu nähern, scheint gefallen.
Convoy France veröffentlicht dennoch eine Bekanntmachung, in der dazu aufgerufen wird, sich in Straßburg zusammenzufinden und in der es gleichzeitig heisst, dass „die Freiheit eines jeden Einzelnen” respektiert wird.

Wir machen uns also völlig unorganisiert auf den Weg zum letzten Pausen- und
Versorgungspunkt, diesmal in Belgien, am Rand der Autobahn. Als wir in Faches-Thumesnil losfahren, verteilen zwei französische Polizisten an der Ausfahrt des Parkplatzes Flugblätter, die von der belgischen Polizei an diese geschickt wurden. Es ist tatsächlich das erste Mal, dass wir ein Flugblatt von der Polizei erhalten.

Sie „raten” uns davon ab, an der Demonstration und der Blockade am nächsten Tag teilzunehmen, verweisen aber auf einen Parkplatz sieben Kilometer vom Brüsseler Zentrum entfernt, wo wir „geduldet” werden würden.
Obwohl wir uns der schicksalhaften Stunde einer angeblichen „Grenzschließung” nähern, begegnen wir auf dem Weg dorthin keinem einzigen weiteren Polizisten. Ein neuer Parkplatz, Feuertonnen- und Paletten-Atmosphäre, Pfefferminztee und angeregte Diskussionen. Ein Polizeihubschrauber fliegt über uns hinweg. Wir wissen immer noch nicht, was am nächsten Tag passieren wird, aber wir sind glücklich, zusammen zu sein.
Montag – der bittere Beigeschmack
Wir schalten (die CB-Funk-App) „Zello” ein. Die Informationen sprudeln nur so heraus, aber nichts ist klar. Schließlich folgen wir einem vagen Aufruf und treffen uns auf dem Parlamentsplatz, in einem Viertel, in dem mehrere europäische Institutionen ihren Sitz haben. Bei unserer Ankunft ist der Platz fast leer, nur ein paar Polizeiwagen sind zu sehen. Auf den Gehwegen treffen wir auf Gesichter, die wir schon einmal gesehen haben. Ein paar hundert Menschen schaffen es irgendwie sich zusammenzuschließen, aber die Menge ist eindeutig unmotiviert. Nach mehreren vergeblichen und von frustrierten Seufzern begleiteten Versuchen, den Platz als Gruppe zu verlassen, beschließen wir, wie viele andere auch, die Sache hier zu beenden.

Der Tag hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. Wir alle sind mehrere Tage lang durch Frankreich gereist, um am Ziel festzustellen, dass wir im entscheidenden Moment unfähig waren, uns zu versammeln.

Wie kann man dieses Scheitern erklären? Gab es letztlich kein wirkliches Ziel? Brüssel blockieren, die europäischen Institutionen blockieren? Haben die Vorschläge von Convoy France die Bewegung desorganisiert? War die Fülle der Diskussionen in den Netzwerken schädlich? Hat das Polizeiaufgebot die Beteiligten in den Griff bekommen?

Bevor man sich auf zweifelhafte Erklärungen stürzt (wie die, dass Rémi Monde ein Freimaurer sei): Vielleicht war das auch der Preis für eine derart schnelle Organisation über Netzwerke, an der mehrere Gruppen beteiligt waren?

Fazit

Beeindruckende Logistik, interessante Taktiken, die von besserer Koordination profitiert hätten. Die relative Verwirrung um die Ziele war zweifellos auf Meinungsverschiedenheiten und eine mangelnde Koordination auf der Zielgeraden zurückzuführen.
Zurück in unseren jeweiligen Heimatregionen fragen wir uns, ob die Blitzaktion eine Fortsetzung haben wird. Wir können nicht glauben, dass das alles gewesen ist: Die Entschlossenheit ist ungebrochen, ebenso wie der Wille, die über zwei schwierige Jahre eingesteckten Schläge zurückzuzahlen. Es bleibt festzuhalten, dass uns diese Bewegung im wahrsten Sinne des Wortes aus einer gewissen Erstarrung herausgeholt hat. Was die Medien oft als eine irrationale und verschwörungstheoretische Opposition gegen die Gesundheitspolitik anprangern, lässt sich nicht einfach auf eine Summe von mehr oder weniger zweifelhaften Meinungen und Überzeugungen reduzieren. An diesem Punkt aufhören weiterzudenken, hieße, bei Argumenten stecken zu bleiben wie “die Schuldigen sind die sozialen Medien”; bei einer Politik mit Bildschirm und Tastatur, bei “Fake News” und den dazugehörigen professionellen Faktencheckern und Aufklärern.
Was übrigens die politischen Ansichten, die hier vertreten waren, betrifft, so scheinen uns Faschisten und Rechtsextreme (wie angeblich in Deutschland oder Kanada) in den französischen Konvois in der Minderheit, was nicht heisst, dass sie nicht vorhanden wären oder man sich mit ihnen abfinden müsste.

Man kann die Analyse noch endlos vertiefen, doch der Konvoi hat trotz seiner inhärenten Grenzen schon jetzt etwas anderes auf den Weg gebracht: Er hat Bewegung erzeugt, Begegnungen, Diskussionen und eine gemeinsame Aktion von Menschen aus relativ unterschiedlichen sozialen Bereichen in einer Situation ermöglicht, in der alle seit zwei Jahren wie eingefroren gelebt haben.
Kurzum, wir haben eindrücklich erfahren, was genau wir verstärken und ausbauen müssen, um künftig über die ewige Katerstimmung nach Wahlen hinauszuwachsen.

Nachweise

Übersetzung aus dem Französischen von Gianfranco Pipistrello, @desertions_ , Einleitung von Janneke Schönenbach und Olaf Arndt.

Text, Titelbild und Fotos teils aus Lundimatin und teils aus einem Video von Julien Rouge/Remi Monde

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