Die Ablösung der Haut

Die Krise des Körperkontaktes in der Pandemie und ihre psychischen Folgen – ein Plädoyer für die Wiederaufnahme der Berührung.

Die verlorenen Gesten

Die Pandemie hat die Gesten sozialer Kontakte europaweit nachhaltig verändert. Dabei trifft es, nach gängiger psychologischer Auffassung, die Altersgruppen unterschiedlich hart. Was für uns Erwachsene achtzehn Monate waren, ist für ein Kind unter zehn Jahren ein gefühltes Jahrzehnt. In einer so langen Zeit kann Manches unwiederbringlich verloren gehen, oder sich gar nicht erst entwickeln.

Eine herausragende Rolle bei der Veränderung dieser Gesten betrifft die Berührung der Haut.

Wie der Psychoanalytiker Didier Anzieu 1985 in seinem Buch “Das Haut-Ich” (deutsch 1991) eindrucksvoll vorführt, spielt die Haut eine herausragende Rolle bei der Kontaktaufnahme eines Säuglings mit der Umwelt. Neben den Sinnesreizen, aufgenommen über die “bekannteren” Sinnesorgane, dem Riechen und Schmecken mit Zunge und Nase, dem Blickkontakt über die Augen, der Modulierung der Stimme hat bei der Kommunikation die Haut eine elementare, wenn auch häufig übersehene Bedeutung.

Ihre Vernachlässigung kann zu mannigfaltigen, lang anhaltenden Störungen führen. Dies ist bereits dann der Fall, wenn unter ansonsten vergleichsweise normalen Bedingungen die Anzahl von Reizen zu gering ist. Wie aber muss sich diese Situation verschlimmern, wenn Hautkontakt negativ, als gefährlich angesehen wird?

Von der Begrüßung zur Übertragung

Im Februar vergangenen Jahres war das erste einschneidende Erlebnis, dass man sich nicht mehr die Hand gab. In Nordeuropa, wo ich die Hälfte meiner Lebenszeit verbringe, ist dies die primäre Geste freundschaftlicher Annäherung. In Südeuropa, wo ich mich die andere Hälfte meiner Lebenszeit aufhalte, entspricht dem Handschlag der mehrfach links und rechts hingehauchte Begrüßungskuss, der weniger mit den Lippen direkt auf die Gesichtsoberfläche, sondern gewissermaßen in die Luft geküsst wird, wobei die Wangen sich zart berühren.

Beide Gesten waren gewissermaßen über Nacht verschwunden. Sie blieben es auch bis zum heutigen Tag. Sie wurden abgelöst – durch andere, manchmal hilflose, manchmal höchst fragwürdige Gesten.

Manche Leute traten zur Begrüßung mit den Fuß-Innenseiten gegeneinander, eine fußballhafte Geste, die mich ein wenig an eine besonders brutale, Körper-verachtende Variante des Verprügelns mit nachträglichem Zusammentreten erinnerte, wenn der Besiegte bereits am Boden liegt. Kulturgeschichtlich also eine Kehrtwendung um 180°: ist doch das Händeschütteln ein ritualisiertes Vorzeigen, dass man dem Anderen unbewaffnet entgegen tritt.

Falsche Dosis

Eine weitere, neu entstandene Form der Begrüßung, das Aufeinanderstoßen der Knöchel mit der geballten Faust, hatte ebensowenig freundliche Aspekte, weil es an Boxen erinnerte. War es falsch dosiert, schmerzte es.

Schmerz, der über die Nozizeptoren der Haut vermittelt wird, hat aber eine der Begrüßung entgegengesetzte, tief in uns verankerte aggressive Bedeutung.

Boxen, auch wenn es nur ein zartes Gegeneinanderschlagen der Hände ist, signalisiert, dass wir uns im Gefecht befinden.

Das Berührungsverbot hat unsere Ellenbogengesellschaft um eine weitere, geradezu symbolische Geste bereichert. Statt sich zu umarmen, stösst man die empfindlichen Knöchel des Oberarm-Unterarm-Gelenkes gegeneinander.

So rücken wir uns nicht mehr rücksichtslos auf die Pelle, sondern vermeiden großflächigen Kontakt, indem wir ihn ihn auf einen winzigen Prellpunkt reduzieren.

Auch das Lächeln ist ein Ausdruck, der über die Haut kommuniziert wird. An den Schulen Berlins hängen Zettel, die besagen: “Wir geben uns nicht die Hand, sondern wir schenken uns ein Lächeln.”

Wie soll diese Geste den Adressaten erreichen, wenn beide Seiten Maske tragen?

Nur in der kontaktfreien Zone (Zoom), wo wir wischen statt streicheln, grüßen wir noch mit den Händen: mit dem animierten Winke-Händchen, das jetzt auch schon jenseits der virtuellen Begegnung fröhliche Urständ feiert. Die ineinandergefügten Handflächen sind abgelöst von gepixelten Bildchen.

Wenn wir uns so, in Zoom-Manier, aus nächster Nähe unberührt zuwinken, muss ich immer an P3 denken, den Roboter von Honda, der in seiner steifen Simulation humanoider Kontaktaufnahme zu den befremdlichsten Karikaturen zwischenmenschlicher Höflichkeit zählt.

Mißklang

Zu den gobal verstandenen Gesten der Freundschaft und Berührung zählt auch eine lang eingeübte, über Gegenstände, die wir vorsichtig aufeinander zu bewegen, vermittelte Form der Annäherung: wenn wir in Freundschaft zusammen sitzen und gemeinsam trinken, lassen wir eingangs die Gläser aneinander klingen. Dieses Geräusch ist das Versprechen eines friedlich verlaufenden Abends und der Ton unverbrüchlicher Gemeinsamkeit.

Gerade kürzlich, vor weniger als einer Woche noch, befand ich mich im Kreis von ausnahmslos geimpften Freunden, die nun die Gläser nur noch am Fuß gegeneinander bewegen wollen, um den Kontakt jener Flächen zu vermeiden, in denen möglicherweise noch in Speichelreste gebundenene Viren sich befinden.

Diese Geste ist nicht nur riskant, weil sie mit dem Verfehlen des Ziels fast unausweichlich verbunden ist. Sie ist auch die stillschweigende Erklärung, dass sich an meinen Lippen gemeingefährliche Erreger befinden. Zudem ist der Ton gegeneinander schlagender Gläserfüße bedrückend, dumpf, ohne jenes beglückende Versprechen von Freude, Licht und einer gewissen Transzendenz, das zuvor im hellen Klingen des geschwungenen oberen Teils des Trinkgefäßes verkörpert war.

Was aber resultiert aus solchen Veränderungen?

Die Dimension traumatischer Konsequenzen der Vernachlässigung der Haut werden, insbesondere in einer zunehmend technisierten Umwelt, die von sauberen, glatten, keimfrei anmutenden Bildschirmoberflächen bestimmt ist, oft unterschätzt. Haut, das ist mehr als “irgendetwas mal anfassen”. Die Haut, das sind 1,8 Quadratmeter voll multipler Sensoren. 18 % des Körpergewichts eines erwachsenen Menschen macht die Haut aus. Das ist mehr, als bei jedem anderen Sinnesorgan. Die Rezeptorendichte ist enorm (50 pro 100 Quadratmillimeter).

Haut und Gemeinsinn

Anzieu geht in seinen Annahmen sogar soweit zu sagen, dass der Gemeinsinn von der Haut abhängt: “Erst nach dem Erwerb seiner Grundorganisation als Haut-Ich kann das Ich zu einer neuen Struktur gelangen, indem es mit dem Primat der taktilen Erfahrung bricht und sich als intersensorischer Eintragungsraum konstituiert, als sensorium commune (Der Gemeinsinn)”

Aus Berührungsverboten ergeben sich daher laut Anzieu schwere Störungen.

Menschliche Artikulationsfähigkeit besteht in der Fähigkeit, verschiedene sensorische Daten zu verknüpfen. Einschränkungen der Fähigkeiten zu artikulierter Auseinandersetzung aber führen absehbar zu Formen von Gewalt, entweder autodestruktiver oder antisozialer Prägung.

Die schon rein quantitativ hohe Bedeutung der Haut, wie oben beschrieben, vorausgesetzt, und eingedenk der Beispiele (Kuss, Lächeln, Händeschütteln, Umarmung) lässt sich leicht ermessen, zu was nicht nur das Ausbleiben gesellschaftlich einstudierter Kontaktaufnahme über die Haut, sondern deren extrem negatives Besetzen, als Träger gefährlicher, leicht übertragbarer, höchst ansteckender Krankheiten auf kurzer Strecke führen wird.

Zwar ist es unnötig, an dieser Stelle zu sagen, dass dieser Text kein Aufruf zu hemmungsloser Schmierinfektion ist. Doch das Verbot der Vereinigung unserer Häute über lange Zeit fortzusetzen, wird vermutlich nicht weniger schlimme Folgen haben, als die Schmierinfektion. Die Folgen allerdings werden wohl nicht im gesundheitlichen, sondern im sozialen Bereich zu finden sein.

Was mag ein Kind fühlen oder denken, das von seinen maskierten Eltern desinfiziert – statt betätschelt – wird? Wie ergeht es einem oder einer Dementen, dem/der selbst einleuchtende Erklärungen sofort wieder verloren gehen: müssen sie alle nicht denken, dass man sie gar nicht mehr lieb hat? Nur wir Erwachsenen sublimieren es, drücken es beiseite. Aber die negative Wirkung neutralisieren wir damit nicht. Sie wird unter der Haut auf lange Zeit eingeschrieben bleiben.

Denken mit der Haut

Anzieu sieht die “neun Funktionen des Haut-Ichs” als Rahmen für das Denken, als wesentliche und unabdingbare Voraussetzung, die den Prozess des Denkens überhaupt initiieren.

Wenn also Reizschutz, Individuation, Intersensorialität, sexuelle Erregung oder Libido, um nur einige der neun Funktionen zu nennen, die er dem Haut-Ich zuordnet, von Störung oder Unterbrechung bedroht sind, können die Folgen für die Psyche gewaltig werden. Zumindest sind sie erheblich, unabsehbar.

Am Ende muss jeder für sich selbst entscheiden, die Eltern allerdings doppelt, sind sie doch zuständig für die gesunde Entwicklung ihrer Kinder.

Aber es gilt, genau wie bei der Entscheidung über das Impfen, genauestens abzuwägen, wie weit man sich dem Kontaktverbot unterwirft und wie lange noch. Eine Schadensbegrenzung, die in einer verantwortlichen Gesellschaft stets das leitende Kriterium sein sollte, ist aber nicht immer durch Verbote erreichbar.

Im Fall der Haut bewirken Verbote, wie wir sehen konnten, sogar das Gegenteil.

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