Im Februar dieses Jahres zündete Hans Ulrich Gumbrecht eine geistige Bombe. Sein Sprengstoff: Giogio Agamben. Mit Aplomb startet sein Beitrag im Feuilleton der Neuen Züricher Zeitung: „Gesundheit sticht Freiheit, der Ausnahmezustand wird zum Normalfall, und das unmaskierte Antlitz wird zu einer Erinnerung aus einer fernen Zeit.“
Gumbrecht verhehlt seinen Antrieb, Agamben zu besprechen, nicht: „Noch im vergangenen Sommer schien die Aufhebung der mit Covid-19 begründeten Restriktionen nur eine impfstoffabhängige Frage von wenigen Monaten zu sein. Mittlerweile jedoch rechnen wir ohne konkretes Datum mit der Entstehung eines grundsätzlich veränderten, aber hinsichtlich seiner Formen kaum absehbaren Alltags.“
Solche Sätze hätten vor Corona kaum Wellen geschlagen. Jetzt tönen sie geradezu staatsfeindlich – und werden entsprechend aggressiv-unsachlich attackiert.
Hans Ulrich Gumbrecht, einer der prägenden Intellektuellen unserer Zeit, ist ebenso „unverdächtig“, wie Hanna Mittelstädt in ihrem aktuellen Beitrag für Die Aktion dies für Agamben zu Recht in Anspruch nimmt.
Doch das ist längst nicht allgemeiner Tenor. „Mit erstaunlicher Unverblümtheit bekenne“ sich Gumbrecht zu Agamben, meint Thierry Chervel – oder wer auch immer für Perlentaucher diese Polemik verfasst hat, von der man vermuten darf, dass sie Teil der Corona-Kommunikation der Bundesregierung ist. Agambens Texte seien (ohne Quelle) „höchst umstritten“ – verdächtig also, wenn statt einer kritischen Reszension eine „Hommage“ verfasst wird. „Auch Gumbrecht spricht jetzt also von vorgeblich demokratischen Staaten, die ein totalitäres Regime errichteten.“
Auch du mein Freund, ein Verräter! Oder was tönt da zwischen den Zeilen?
Wenig später dann Klartext: „Die Frage, ob das verröchelnde Corona-Opfer selbst sein Leben als bloß biologisch ansieht“, bliebe unbeantwortet.
Das verröchelnde Opfer. Das ist die Perspektive, aus der wir Zeitgeschehen sehen sollen. Das ist in etwa die kürzeste Formulierung des Niveaus, auf dem im Moment öffentlich gedacht wird. Wobei ich mich für „Niveau“ gleich entschuldigen möchte. Unterirdischer Rang wird eigentlich von anderen Begriffen abgedeckt.
Gegen solche sprachlich-emotionale Tricks stehen glasklare Sätze von Gumbrecht wie:
„Mittels durch Covid-19 geschürter Furcht vor ihrem eigenen Tod sind die meisten Bürger erstens zu jeder Art von Verzicht motivierbar. Und dies, obwohl zweitens die Flut der täglich publizierten Statistiken nun schon seit fast einem Jahr keine greifbare Vorstellung von der je individuellen Bedrohung hervorbringt. Stattdessen haben sich – drittens – die Medizin und ihre Aura von Wissenschaftlichkeit als eine neue Religion etabliert, die mit der Unterscheidung zwischen Krankheit und Schutz vor dem Virus alle Räume der Gesellschaft durchherrscht. Viertens werden unter diesem absolut gewordenen Gegensatz alle Modalitäten von direkter Kommunikation und menschlicher Begegnung durch elektronische Interaktionen – Interaktionen «auf Distanz» also – ersetzt.“
Nun kann und muss man darüber streiten, ob, wie Gumbrecht meint, der „denkbar schlimmste Fall“ tatsächlich schon eingetreten ist.
Wir sind geradezu verpflichtet, Agambens Frage, an welchem Punkt wir stehen, uns ständig zu wiederholen, auch wenn wir – wie Gumbrecht – dafür absehbar mit dem immergleichen Dreck (Querdenker, Verschwörungstheoretiker, Nazi) beworfen werden. Es ist Dreck, der nicht haften bleibt.
Wenn wir nicht für immer ein „gesichtsloses Land“ bleiben wollen, das hinter seinen Masken röchelt, müssen wir die Frage nach dem Punkt, an dem wir jetzt stehen, furchtlos und ehrlich beantworten.
PS: Der maskierte Mann sitzt übrigens auf einer Bank zu Füßen des Diderot-Denkmals in Langres. Die Geburtsstadt der Enzyklopädie, die Wiege der Aufklärung war vergangene Woche auch Ort einer Demonstration der französischen Bewegung mit der Parole „Herunter mit der Maske!“ Nach Auflösung der Demo spielte eine Straßentheatergruppe zwischen Rathaus und Museum Maison des Lumières Denis Diderot einige Szenen aus „Die Pest“ von Albert Camus – Europa konnte in dieser Sekunde nirgends europäischer sein.
der spiegel-online schreibt heute morgen (26.07.2021, 05.44 Uhr)
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/news-impfpflicht-armin-laschet-helge-braun-robert-habeck-china-usa-polen-a-49b0b7fe-30cb-49d8-a5b5-6116472df610
Die Debatte über eine direkte oder indirekte Impfpflicht wird sich zweifellos mit steigenden Infektionszahlen zuspitzen – und Teile der Bevölkerung gegeneinander aufbringen. Der Konflikt lässt sich aber nicht auflösen: Die Minderheit der Ungeimpften beruft sich auf ihre persönlichen Freiheitsrechte.
>Wer sich nicht impfen lässt, gefährdet damit aber die persönliche Freiheit, körperliche Unversehrtheit und Bewegungsfreiheit anderer.<
Es ist auch objektiv betrachtet so: Wer nicht geimpft oder genesen ist, sondern nur getestet, ist auf einer Großveranstaltung oder im Restaurant ein größeres Risiko. Insbesondere die Schnelltests bieten weniger Sicherheit. Zwar wollen alle Politiker im kommenden Herbst und Winter neue Lockdowns verhindern, als neuer Grenzwert ist eine Inzidenz von 200 im Gespräch – aber je mehr Ungeimpfte es gibt, desto mehr Schwerkranke und Tote wird es wohl auch geben. Und sollen die Geimpften dann wirklich wegen der Ungeimpften auf Restaurantbesuche verzichten müssen?
WAS ABER BEDEUTET DAS?
Welche Gesundheit muss/darf mir wichtiger sein, meine oder die "anderer"? Und – wenn die "anderer" – was ist dann mit den "anderen", darf denen denn ihre eigene Gesundheit wichtiger sein?
Danke für den Hinweis und die aufschlußreiche Frage am Ende „Was bedeutet das?“ Nun, auch mir leuchtet diese neue Logik nicht recht ein. Scheint mir doch, dass nicht der Ungeimpfte eine Gefahr darstellt, sondern höchstend der ansteckend Erkrankte, der sich im vollen Bewusstsein seiner Erkrankung unters Volk mischt. Das wäre auch jenseits von Corona natürlich kriminell.
Aber die Lage ist in der Realität viel komplizierter: gerade sind zwei Freunde von mir, in Deutschland mit Qualitätsimpfstoff zweifach geimpft, deutlich nach Ablauf ihrer Immunisierungsfrist in Granada mit COVID19 (oder einer Variante) infiziert worden. Was sagt also ein Impfpass über die Gefährdung Dritter aus?
Zurück zum Spiegel-Beitrag: hier werden meines Erachtens (aber nicht ganz überraschend in einem „Krieg“) völlig falsche Fronten aufgemacht zwischen „uns selbst“ und „den anderen“. Der journalistische Hammer der „Objektivität“ (das Wort „objektiv“ übrigens meist ohne Quellenangabe), den auch der Speigel hier schwingt, zertrümmert „alle Räume der Gesellschaft“, die nun allein vom „Virus durchherrscht“ sind, wie Gumbrecht im oben erwähnten Beitrag sagt. Es wäre den Schweiß der Gerechten wert, dies noch einmal gründlich zu überdenken.