Ein Bericht zur ersten Lesung der deutschen Übersetzung des „Manifeste Conspirationniste“ in der Schankwirtschaft Laidak in Neukölln.
Der Weg
Zunächst ein Wort zum Ort und seiner Lage im Berliner Stadtraum. Um zur „Schankwirtschaft Laidak, Bar.Bier.Buch.Bild.“ zu gelangen, muss man die Hermannstrasse entlang gehen. Je nachdem, von wo man kommt, quert man die Sonnenallee und die Karl-Marx Strasse. Die drei Strassen sind die grossen Achsen von Neukölln, einem Viertel, das aufgrund einer rassistischen Verdrängungspolitik in den 70er Jahren (Zuzugssperre für Gastarbeiter/Migranten aus muslimischen Ländern im benachbarten Kreuzberg) vorwiegend von Türken und Arabern bewohnt wird. Heute herrschen hier die großen Clans.
In Neukölln laufen die Sirenen von Polizei und Krankenwagen fast durchgehend.
An der Hermannstrasse stehen tausend Tempel der Junk-Food-Kultur. Dies fiel uns insbesondere auf, weil im Manifest folgendes Zitat zu finden ist:
„Die Kontrolle des Klimas kann eine Kriegswaffe sein, die so mächtig ist wie eine Atomwaffe.“
Überall am Weg wird Billig-Fleisch aus Massentierhaltung verkauft – nach unserem jüngstem Erkenntnisstand einer der Hauptverursacher der Klimaschädigung .
Der Spaziergänger hat das Gefühl, auf einem Fußmarsch von 15 Minuten Länge an Tonnen brutzelnder Kebabspieße vorbeizukommen. Kein Haus, das nicht unten einen „Döner“- oder Burger-Grill drin hätte. Alle Läden sind entsprechend der aktuellen Mode in schwarz gestaltet und mit kaltem LED-Licht beleuchtet. Überall werden Shishapfeifen geraucht. Es riecht nach Bratenfett und Erdbeer-Vanille-Parfüm.
Plötzlich öffnet sich, nur wenige Meter entfernt vom brausenden Großstadtverkehr, eine Oase: ein ruhiger baumbestandener Platz, an dem das Laidak liegt. Das Laidak ist die Berliner Version eines heruntergekommenen Grand Café. Es atmet das Air des vergangenen Jahrhunderts, Gründerzeit, hohe Decken, große Räume, eine lange Bar, auf jeder Wand ein langes Regal mit Büchern. Es herrscht eine spontan angenehme, friedliche, sympathische Atmosphäre.
An der Wand eine große schwarze Tafel, auf ihr steht ein Zitat von Rainald Götz: „Ich brauche keinen Frieden, denn ich habe den Krieg in mir.“
Götz hat einmal sinngemäß gesagt: „Jedes Buch, das ohne Zorn geschrieben ist, lohnt die Lektüre nicht.“
Wie viel Zorn steckt im Manifest? Wie viel kühle Recherche? Wie viel Liebe und Lust auf eine lebenswerte Zukunft?
Die Freunde
Die Menschen, die neugierig auf das Konspirationistische Manifest ins Laidak kamen, waren zu zwei Drittel (Aussage der Bar-Betreiber) keine Stammgäste.
Sie sind (entschuldigt die Pauschalisierung, die nötig schien, um ein Stimmungsbild zu schaffen):
- notorische Nikotinkonsumenten (von 80 Gästen etwa 75 Kettenraucher)
- kräftige Biertrinker (nur große Biere wurden gereicht)
- zu 75% männlich
- von den Männern niemand unter 35 Jahre
- von den 25% Frauen waren nur einige wenige über 30
- Intellektuelle, Marxisten und ex-Marxisten, Künstler …?
Es war etliche Prominenz anwesend: eine im Moment euphorisch gefeierte und von anderen Leuten ebenso stark verachtete Corona-Maßnahmen-kritische Aktivistin, einige der Filmemacher von „Alles auf den Tisch“, Mitstreiter von „Basis Kreuzberg“, dem parteipolitischen Arm von „Querdenken“, die Herausgeber des Corona-kritischen Magazins „Der Erreger“: alles Leute, die man früher als „links“ bezeichnet hätte und die jetzt aufgrund ihrer Haltung zu den Corona-Maßregeln der Regierung als „rechts“ verunglimpft werden.
Teile der Gruppe, auf deren Plattform das Manifest digital erschienen ist, zählt(e) zu den sogenannten „Antideutschen“, eine Linken-Fraktion, die bedingungslose Solidarität mit der Politik Israels fordert; der Text selbst steht auf einem .tk-Server: tk ist das Kürzel für Tokelau. Nach Wikipedia eine „der gefährlichsten Top-Level-Domains“ der Welt.
Die Antifa Neukölln diffamiert das Laidak als „Heimat notorischer Falschabbieger“ und als „rechtsoffene Location (no place to be)“.
Eine typische Biographie dieser Gruppe könnte sein: Eltern in der DKP, die Kinder von Guy Debord begeistert, kurzzeitig autonome Antiimperialisten und libertäre Linke mit Hang zum Anarchismus. Einer aus dieser Gruppe kennzeichnete einmal seine politische Biografie als „Irrungen, Wirrungen, Spaltungen.“
Der Tresen im Laidak macht unmissverständlich klar: hier wird täglich ein gehöriger Schluck Situationismus getrunken. Unwillkürlich (und schmunzelnd) fallen einem die Zeilen Debords ein (Brief an Juvénal Quillet vom Donnerstag, den 11. November 1971): „Ich bin selbst nicht sicher, ob ich „ein Revolutionär“ bin, bzw. kann ich nur deshalb so bezeichnet werden, weil ich sozial gesehen niemals etwas anderes gemacht habe. Ich denke, dass mich auf persönlicher Ebene auch noch zahlreiche andere Merkmale charakterisieren (ich bin auch ein „Anti-Künstler“, ein Säufer, ein Spieler, ein fauler Sack etc.)“
All diese Grüppchen, die zuvor das Laidak gemeinsam bevölkerten, waren mit einem Schlag in feindlicher Konfrontation, als COVID begann. Jetzt war plötzlich nicht mehr die Zugehörigkeit zu einer linken Splittergruppe maßgeblich, sondern die Haltung zu den Verhaltensregeln der Regierung.
Das Laidak war während des „Lockdown/confinement“ einer der wenigen Orte in Berlin, wo die Betreiber nicht Polizei spielten und die Besucher frei sitzen und diskutieren konnten. Im Laidak war die gewaltsame Entsolidarisierung des „Bleibt alle zuhause und haltet die Schnauze“ aufgebrochen.
Wir hatten erwartet, dass Abordnungen des Verfassungsschutzes anwesend sind. Doch die beiden, die wir dafür hielten, entpuppten sich dann als Freunde des Hauses. Manchmal stimmt beides: der Verdacht und seine vermeintliche Entkräftung.
Vor diesem bunten, vielfältigen, spannenden und vor allem höchst sympathischen gesellschaftlichen Hintergrund fand die Lesung statt.
Der Text
Es wurde 1,5 Stunden lang vorgelesen. Die Auswahl war sehr gut. Sie gab einen perfekten Überblick über die Themen und die Qualität des Textes. Es wurde eine gebundene Papierkopie zum Selbstkostenpreis verkauft.
Der Moderator des Abends war eloquent, schlagfertig und humorvoll und seine Einführung auf den Punkt.
Das Palaver
Nach einer Pause zum Atemschöpfen begann das, was die Veranstalter in ihrer selbstironischen Terminologie als „Palaver“ bezeichneten. Offenbar kennen sie ihre Pappenheimer.
Wir hatten uns ein wenig vor dieser Diskussion gefürchtet, beziehungsweise vor dem Publikum, das teilweise grimmig wirkte. Doch das Palaver war überraschend gut, durchaus strukturiert und nahm eine unerwartete Wendung.
Von den gut 1,5 Stunden Diskussion wurde weitaus am längsten über „die Seele“ gesprochen. Das zweitwichtigste Thema des Abends war der Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich.
Was bedeutete „Seele“ in der Diskussion?
Der Textbezug ist zunächst einmal das Zitat im Manifest „Die Wirtschaft ist die Methode; das Ziel ist es, die Seele zu ändern.“(Margaret Thatcher). Ebendort heisst es einige Zeilen weiter: „Im Lateinischen, Griechischen, Hebräischen und in so vielen anderen Sprachen verweist der Begriff der Seele – anima, psyché, rouakh – auf den Atem, den Wind, das Atmen.“
Das Manifest versteht den Begriff „Konspiration“ als „gemeinsames Atmen“, als Zusammenschluss von verwandten Seelen. So steht der titelgebende Konspirationismus dem älteren Modell vom Aufbau revolutionärer Kampfgruppen oder Kader gegenüber.
Dies wurde von den Zuhörern insgesamt als erfreuliche Idee empfunden, weil in den vergangenen zwei Jahren die staatlichen Organe des „Infektionsschutzes“ das Atmen, und ganz generell das Gemeinsam-Sein, zu etwas besonders Gefährlichem erklärten.
Im Grunde, so einer der Wortbeiträge, sei der Konspirationismus eine Strategie, die zumindest in Berlin aus der Zeit der Hausbesetzungen (1980er) noch bekannt ist unter dem Slogan „Bildet Banden!“
Die deutsche Linke sei nicht gerade berühmt für ihre Nähe zur Poesie. Verständnisschwierigkeiten würden möglicherweise auch daher rühren, dass es sich beim Manifest in erster Linie um ein Stück Literatur handele, nicht um eine Theorie im klassischen deutschen Verständnis.
Es sei „typisch deutsch“, dass in dem Moment, wo es nicht mehr um reine Fakten oder Zitate aus anderen ideologischen Texten des Marxismus ginge, sondern um Gefühle, Stimmungen, Freundschaften, (allen voran die älteren, ideologisch geschulten) Leute aussteigen, als hätten sie Angst – vielleicht vor der „Sphäre einer reinen Seelenwirklichkeit, in der der Mensch als Mensch – und nicht als Gesellschaftswesen“ existiert (Zitat Manifest).
Sie werden sogar wütend. Ein junger Mann verließ unter lautstarkem Protest den Raum („Ich könnte kotzen, wenn ich diese Seelen-Debatte höre“), weil er falsch verstehen wollte, dass es bei „Seele“ immer um eine christliche Metapher ginge.
Ein anderer Zuhörer veralberte ihn und sagte, er würde jetzt auch gleich den Raum verlassen, wenn er noch einmal pauschal als „Linker“ bezeichnet würde.
Obwohl ein großes Manko vieler Redebeiträge mangelnder Humor war, rissen einzelne Leute die Debatte immer wieder herum.
Es gab auffällig wenig „Selbstdarsteller“, die nur das Wort ergreifen, weil sie sich produzieren, sich selbst reden hören wollen.
Sehr viele Diskutanten hatten den Text in Gänze vor der Veranstaltung gelesen. Das „Manifest“ wurde immer wieder mit dem Text „Der kommende Aufstand“ verglichen. Einige Zuhörer stellten fest, dass es kein einziges literarisches oder theoretisches Werk in Deutschland gäbe, dass qualitativ und inhaltlich an das Manifest heranreiche.
Ein wichtiger Punkt in der Diskussion war die Frage, ob man erwarten dürfe, dass der Text eine Art Handlungsanweisung gäbe oder ob es eher seine Stärke wäre, dies nicht zu versuchen.
Die Absage des Manifestes an die Organisations-Form der (verfestigten) Gruppe wurde allgemein begrüßt, was sicher mit der oben geschilderten Erfahrung und politischen Sozialisation der Anwesenden zu tun hatte.
Viele waren sich darüber einig, dass es keine schnelle Antwort auf die Frage „Wie weiter?“ gibt und dass die starke Ermutigung, die das Manifest darstellt und die Idee, sich informell zu vernetzen und ohne konkrete Erwartungen zu schauen, wohin es sich unter den neuen Bedingungen entwickelt, das einzig Mögliche sei. Die deutschen Freunde des Manifestes beklagten durchweg, sie fühlten sich vereinzelt (mit ihrer Meinung allein dastehend), deswegen desillusioniert und gelähmt.
Viele Leser haben aus dem Text verstanden, dass es künftig mehr um private und persönliche Verbindungen gehen muss, als um Zugehörigkeit zu politischen Gruppen.
Es wurde zum besseren Verständnis der Bedeutung von „verwandten Seelen, die miteinander atmen“ noch bemerkt (und aus dem Manifest zitiert), dass in der Weltgeschichte viele entscheidende Wendungen passierten, die ihren Ursprung in zwischenmenschlichen Sympathien und Verbindungen haben (von wenigen Personen). In solchen Verhältnissen herrsche der Natur der Sache nach weniger Konkurrenz als in einer Partei.
Zum Unterschied Deutschland – Frankreich war die Ansicht, dass in Deutschland – aus Angst vor Diffamierung und immer weiter voranschreitender Isolation – eigentlich fast niemand etwas unternimmt (was so nicht ganz stimmt, siehe hier) und dass hingegen der Text in Frankreich auf einen fruchtbareren Boden fallen müsse, weil die Franzosen keine Furcht vor Skandal und Aufruhr hätten und von der Last historischer Schuld befreit handeln können.
Ein Zuhörer stellte die Theorie auf, dass der aus dem Faschismus herrührende, über nunmehr drei Generationen vererbte „Gefühlsstau“ der Deutschen sie zu ängstlichen, nur verhalten opponierenden Menschen gemacht habe, während im Selbstbild der Franzosen weniger das Thema „Mitschuld am Faschismus“ vorkäme und sie deswegen freier agieren könnten.
So erkläre sich der große „Erfolg“ der konzertierten Vereinzelungs- und Entsolidarisierungs-Kampagne in Deutschland.
Es wurde ferner festgestellt, dass „Querdenken“ sich von vornherein als „Bewegung“ oder Organisation verstanden habe und sich deswegen viele Leute ausgeschlossen gefühlt hätten, während im Gegensatz dazu die „gilets jaunes“ es geschafft hätten, breit und offen zu bleiben und nicht vor jedem ersten Gespräch abzuklären, zu welcher Fraktion man gehört.
Das Publikum war sich weitgehend einig, dass das Abklären der Fraktionen in Deutschland viele Energien, die „von links“ kommen könnten, vernichte.
Immer wieder wurde begrüsst, dass das Buch eine sehr sauber recherchierte Bestandsaufnahme sei zu Fragen der Geschichte der Verhaltenskontrolle und -steuerung und es einleuchtend sei, eine Linie von Stalins Interesse an der „Gestaltung der Seelen“ über CIA/MK Ultra bis zu den Maßnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie zu ziehen, um zu begreifen, warum das „project fear“ solche Wirkungsmacht entfalten konnte.
Es wurde auch verstanden und als herausragend empfunden, dass das Manifest dafür Rache fordert, statt wie alle jetzt in der Erstarrung des (Er-)Leidens zu verharren.
Gegen Ende wurde noch über den Schlusssatz „Wir werden siegen…“ und die Bedeutung der „Tiefgründigkeit“ gesprochen.
Ist die Behauptung der Tiefgründigkeit arrogant oder ist sie ermutigend?
Bis auf einige wenige notorische Zweifler fanden die meisten Anwesenden das Schlussmotto wichtig und schön.
Nachtrag
„Wir haben manchmal die Gesundheit über die Menschlichkeit gestellt.“
Jean-François Delfraissy, ehemaliger Vorsitzender des jüngst aufgelösten „Conseil scientifique“ (französischer nationaler wissenschaftlicher Rat für die Notstandsregeln), sagte kürzlich, er bedauere „Vieles“. Er sagte wörtlich: „Wir haben manchmal die Gesundheit über die Menschlichkeit gestellt.“ So hätten einige Menschen (insbesondere in Seniorenheimen) den „Lebenswillen verloren“.
Es zeigt sich u.E. daran, dass der Widerstand der „gilets jaunes“, des „Konvoi für die Freiheit“, der Proteste der Angestellten im Gesundheitswesen und anderer vergleichbarer Aktionen, nicht ganz ohne Folgen blieben.
Insofern hat der beharrliche französische Corona-Maßnahmen-Widerstand bereits ein Stück weit gesiegt.
Das „Klappe halten und Kuschen“ der Deutschen hat hingegen zur Folge, dass die Minister Lauterbach und Buschmann bereits jetzt den nächsten Corona-Winter mit Verboten, Testungen und Maskenpflicht vorbereiten und dafür eine „gesetzliche Grundlage für den Herbst“ vorbereiten.
Lieber Olaf!
Ein wunderbares Portrait der Berliner Herrmannstraße, die ich wie meine Westentasche kenne, durch lange Wohnzeit im Problembezirk Neukölln. Auch heute kommt man als Deutscher noch unbeschadet dort durch wenn Toleranz und Akzeptanz zur Lebensführung gehören. Und, oh Wunder, den ruhigsten Platz in dieser Stadt fand ich gerade auf dem verkehrsumtobten und sehr lebendigem Herrmannplatz; neben der goldenen Figur, die das männliche und das weibliche Prinzip in freudiger Harmonie zeigen. Diese Figur dreht sich einmal pro Stunde um sich selbst, ich hatte diese ruhige Stunde mit einem Bier auf der Bank, ungestört, und beobachtet trotz der Hektik Drumherum.
Auch wäre es wünschenswert, wenn das tibetische „Ladakh“ etwas auf die Lokalität „Laidak“ abfärben könnte. Politische Ansichten Meinungen und Bestrebungen sind immer der Zeitform unterworfen im ständigen Wechsel, dem ich mich nicht mehr aussetzen möchte und darum auch nicht weiter kommentiere, Letztlich Dinge zwischen Geburt und Grab, aber nicht bedeutungslos. Was führt darüber hinaus?
Beste Grüße von Winfried.
Würde gerne noch ein Bild vom Herrmannplatz, Foto, hochladen. Geht das?