Zoom-Boom!

Heute erscheint als Jahresauftakt ein Text der Philosophin Jutta Weber in DIE AKTION über “COVID creep”, die Tricks, mit denen sich Videoanbieter in unser Zuhause einschleichen und unsere Daten meistbietend an Marketingunternehmen, Geheimdienste, Militärs und Polizei verkaufen.

Die Herausgeber von DIE AKTION planen – mit diesem Beitrag als Auftakt – für 2021 eine Reihe zu KI, Plattformkapitalismus und (post-)pandemischer Tele-Gesellschaft.

Jutta Webers Text ist in dieser Hinsicht doppelt richtungweisend für die geplante Serie von Essays: zum einen ist uns der cyberfeministische Ansatz der Medientheoretikerin höchst wichtig – insbesondere unter Berücksichtigung eines zentralen Umstandes, den Sadie Plant schon vor 20 Jahren in “Nullen und Einsen” formulierte

"Hardware, Software, Wetware - vor ihren Anfängen und über ihr Ende hinaus sind Frauen die Assemblerinnen und Programmiererinnen der digitalen Maschinen."

(eine Spur, die dennoch bis heute vergleichsweise wenig verfolgt wurde).

Zum anderen muss – gerade mit Rücksicht auf die gewaltigen Umwälzungen, wie sie z.B. an militärisch-industriellen Projekten wie dem Cybervalley Tübingen auch in Deutschland erkennbar werden und KI als Segen für die Menschheit verkaufen möchten – dringend ein Diskurs befördert werden, den die Linke gern ausblendet, weil er sich mit einzelnen Akteuren, statt mit Strukturen und Systemen befasst. Heutige Akteure aber handeln nicht mehr nach klassischen kapitalistischen Mustern und mit dementsprechenden Werten und Zielen, heisst: sie sind nicht mehr als Vertreter eines in der Kapitalismuskritik bekannten und hinlänglich analysierten Systems in den Blick zu bekommen.

Ganze Heerscharen von Philosophen rätseln, wie es zu diesem Zustand kommt? Viele plausible Ansätze existieren – je überzeugender, desto transdisziplinärer die Ansätze arbeiten und neue ökonomische Prozesse nicht mehr allein aus dem Feld der Ökonomiekritik heraus zu verstehen versuchen.

Die Autorin und Fotografin Christina Zück hat mir einmal einen höchst spannenden Lese-Hinweis gegeben, den ich hiermit teile:

“Bifo Berardi bezieht sich in seinen Begriffen des “Kognitariats” und des “Semiokapitalismus” auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse aus der Traumaforschung. Im zeitgenössischen Semiokapitalismus werden weitgehend keine materiellen Güter mehr, sondern psychische Stimulation und affektive Environments durch Zeichen produziert. Informationsexplosion und digitale Dauerr-Erregung generieren eine Psychosphäre, die durch affektive Schwankungen, Depression und Angstzustände gekennzeichnet ist. Die technologische Entwicklung und die digitale Vernetzung überschreitet die Fähigkeit des Gehirns und des Nervensystems, sich zu erweitern und sich daran anzupassen. Die Zeit der Algorithmen ist nicht mehr die Zeit des Menschen. Wie bei einem Trauma kartographiert sich der Semiostress ins Nervensystem ein und produziert unkontrollierbare Symptome.”

Diese ein paar Jahre alten Sätze Anfang des Jahres 2021 wieder zu lesen, lässt sie unangenehm vertraut klinmgen. Aber wie weit kommt man in der aktuellen Pandemiesituation mit solchen Erkenntnissen?

Eine Zeitlang habe ich, weil ich es zwar spannend finde, was Leute wie Berardi schreiben, aber in diesen ungeheuren schlangenlangen Doppel-Wort-Neologismen (Kognition+Proletariat, Semiotik+Kapitalismus) noch zuviel wiederum auslegungsbedürftiges Denken in “vorverdrahteten” Kategorien/Begriffen finde, die Idee verfolgt, dass zeittypische Akteure sich gar nicht mehr in die Ordnung des Möglichen einfügen, weil es sich dabei um nicht-maschinelle (moralverhaftete, und damit überkommene) Kategorien handelt, die nicht mehr dem (heutigen, rein durch technisches Vermögen bestimmten) Ideal entsprechen.

Die technischen Möglichkeiten berechtigen somit zur Entgrenzung (nicht nur Entledigung vom sozial Nützlichen oder Anständigen, sondern eben ganz konsequent: Überwindung des Machbaren) – was sich z.B. an den durch das kybernetische Finanzsystems propellierten gigantischen Gewinnerwartungen und blitzartig machbaren Reichtumsumschichtungen widerspiegelt. Diese neue Art “Schöpfertum” lässt sich eben nur in einer potentiell grenzenlosen (digitalen/kybernetischen) “Ökosphäre” denken. Aber weit kommt man damit auch nicht: denn alle Proponenten dieses Ansatzes vergessen, dass es nicht endlos Energie gibt, diese fake-Ökosphäre aufrechtzuerhalten.

Was aber lernen wir aus dem Vorhandensein dieser Grenze? Wir können ja nicht auf den großen Stromausfall warten.

Vielleicht sollten wir den nächsten Ansatz – aus gegebenen Anlass – in der Metapher der “Gesundheit” suchen?

Auch hier hatte Zück schon vor COVID etwas anzubieten: “Catherine Malabou, die sich mit dem Verhältnis von Philosophie und Neurowissenschaften beschäftigt, leitet vom Begriff der neuronalen Plastizität – die Fähigkeit der Hirn- und Nervenzellen, sich sich in ihren Eigenschaften zu verändern, weiterzuentwickeln oder zu reparieren – ein philosophisches Konzept ab, dass sie Plastizität nennt: das Vermögen, Form zu geben und geformt zu werden. … Malabou entdeckt darin eine charakteristische Musterbildung für die heutige Zeit. Viele der ehemals als psychische Krankheiten behandelte Veränderungen, von der Psychoanalyse auf Trieb, Begehren und Bindung zurückgeführt, sind dauerhafte Zerstörungen im Hirn- und Nervensystem. Die Auswirkungen einer Organveränderung und die eines soziopolitischen Traumas – durch Gewalt, Krieg oder Armut – werden ununterscheidbar. Politische Unterdrückung nimmt heutzutage die Gestalt eines traumatischen Schocks an, so daß Geschichte nach und nach in die Erscheinungsformen von Natur und Biologie übergeht. Je mehr sich die Angst ausbreitete, je mehr man ihr Raum gäbe, je mehr man sie auslebte, je diffuser sie würde, verstand ich, am Ende würde sich unsere Hirnstruktur verändern.”

Enorm schlau – aber hat Ähnliches nicht der klassische Kapitalismus auch schon bewirkt?

Eins steht jedenfalls fest: unser konventionelles Kategoriensystem scheitert bislang noch am Verhalten solcher Akteure, die nicht mehr dem Bild des klassischen Fabrikbesitzers oder Bankiers entsprechen. Denn sie sind weniger Unternehmer, sondern mehr Gestalter.

Fraglos: Sie gestalten uns um. Gerade zur Minute mehr, denn je zuvor.

Jutta Weber, die als Technikforscherin und Professorin für Mediensoziologie an der Universität Paderborn tätig ist, schlägt in ihrem Text “‘Wahrscheinlich annäherungsweise korrekt’. Über Neue KI und Human-Machine Learning” vor, es so zu sehen:

“… die neue KI ist an die Weltsicht, Bildung und Geschichte ihrer Designer*innen gekoppelt. Wir müssen daher noch genauer hinsehen, wie sich Wissensordnungen, Weltanordnung und Selbstverständnis im Rahmen des neuen computation rekonfigurieren.”

DIE AKTION möchte dazu beitragen, diesen von Weber geforderten genauen Blick zu schärfen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert