Endloses Vergnügen

Das “Buch der Lüste”, ein Hauptwerk des großen Theoretikers und maßgeblichen Mitgliedes der Situationistischen Internationale, Raoul Vaneigem erscheint nach 40 Jahren im April 2022 wieder: bei Verlag Edition AV – eine Botschaft des Lebens aus der vom Kapitalismus wohl klimatisierten Vorhalle des Todes.

Wir veröffentlichen dazu heute in DIE AKTION Vaneigems engagiertes Vorwort vom Januar 2022, “Zurück zum Leben“, sowie einen einleitenden Text von Hanna Mittelstädt aus dem Februar dieses Jahres.

Bei jeder Gelegenheit wird von uns verlangt, unterwürfig zu sein und einer mechanistischen Wirtschaft zu gehorchen, die durch die Ware regiert. Wir stimmen zu, uns an manipulierte Objekte zu gewöhnen, daran, am Arbeitsmarkt verkauft zu werden, entsprechend den Kriterien von Verkaufbarkeit, Wettbewerb, Wettbewerbsfähigkeit, Austausch, Preis, spektakulärer Verpackung. Gegen dieses ökonomisierte Leben, das uns zugleich physisch und psychisch konditioniert, versuche ich, die Langeweile der Routine, und die Wahlmöglichkeiten, vor die ich jede Minute gestellt werde, zu durchbrechen – in einem Labyrinth der Möglichkeiten, das sich entsprechend meiner eigenen Disposition und den Gesetzen der dominanten Welt öffnet oder schliesst.

R.V. im Interview mit Le Monde 2003

Hanna Mittelstädt. Von einem Glück zum anderen

Plaisir: Vergnügen, Freude, Spaß, Lust, Genuss, Begierde, Lebenslust, Liebeslust, Lustbarkeit, Fest, Tafelfreuden, Belieben. Und zwar im Plural. Le Livre des plaisirs haben wir 1984 mit “Das Buch der Lüste” übersetzt. Das schien uns dem Wunsch des Autors am nächsten zu kommen. Das Buch wurde im französischen Original 1979 veröffentlicht. Es atmet noch den großen Aufstand von 1968 aus, die Lust auf das Ende der Arbeit, des Zwangs, des Tausches, der Intellektualität, des Schuldgefühls, des Willens zur Macht. Die Zivilisation des Todes soll beendet werden mit ihrer allgegenwärtigen Diktatur der Ware, der alle Lebensbereiche umfassenden Ökonomisierung.

Das Leben geht verloren, wenn es nicht erschaffen wird.

Vaneigem verteidigt die Subjektivität, eine Subjektivität voller heiterer und quälender Ungeheuer, eine Subjektivität, die die Begierden aus der Macht des Todes befreien will und sich dazu ermächtigt. Eine Subjektivität, die sich in einer Welt der Kostenlosigkeit mit anderen Subjektivitäten verbündet, Partisanen des Genusses, Poeten der Autonomie, ohne Kategorien wie männlich, weiblich, sächlich, sondern wesensmäßig divers und grenzüberschreitend, maß-los. Eher mütterlich als väterlich, eher gebärend als tötend.

Jeder Genuss ist schöpferisch.

Vaneigems Handbuch der Lebenskunft für die jungen Generationen (Traité de savoir-vivre á l´ usage des jeunes générations) erschien im französischen Original 1967. Es war neben Die Gesellschaft des Spektakels von Guy Debord das wichtigste Buch der situationistischen Tendenz, die wiederum eine bedeutsame, innovative, grundlegend radikale Tendenz der Aufstandsbewegungen von 1968 zum Ausdruck und ins Spiel brachte. Zehn Jahre nach der Niederschlagung dieser Bewegungen fasst Raoul Vaneigem einmal wieder zusammen, was seine Basis war und ist (und in den folgenden Büchern bleiben wird): unsere Träume, unsere Abenteuer, unsere Lüste, unsere Musik, unser Umherschweifen …

Die individuelle Kreativität als Grundlage der Versammlungen der generalisierten Selbstverwaltung.

Darauf läuft es hinaus. Auf ein kollektives Projekt ohne Zwang. Ohne Tausch, ohne Konkurrenz, ohne Rechthaberei. Auf der Basis des individuellen Genusses.

Ohne Schuld. Ohne Gegenleistung.

Das große Gelächter gegenüber dem Pathos der Politiker und Agitatoren jedweden Geschlechts.

Gegenüber der Bürokratie, den Institutionen, Abstraktionen jeder Art, die den Individuen die menschliche Substanz aussaugen, sie zu Schatten der Ware machen.

Gegenüber dem Staat, dem schon wesensmäßig vom Lebendigen getrennten Denken und Handeln, ohne von dessen Korruption und Deformation zu sprechen.

Lächerliches Gerippe!

Und die Intellektualisierung als letzte Entwicklungsstufe der Warenexpansion. Verbales Herumfuchteln des Prestiges.

Die intellektuelle Partei als Reservearmee der Bürokratie, ihre Sprache eine auf die Körper angewandte ökonomische Reduzierung.

Dagegen: der Atem des Glücks.

Die Spontaneität der Begierden, die auf der Suche nach ihrer Befreiung sind.

Keine kleinmütige Angst vor dem Leben und einer kostenlosen Existenz.

Keine Traurigkeit wie die des Kleinen Mannes, welchen Geschlechts auch immer, Anhängsel des Willens zur Macht.

In der lebendigen Gegenwart unerwartet die Vergangenheit verbessern.

Kein Verzicht.

Eine neue Unschuld.

Die Gewalt eines Lebens, das auf nichts verzichtet.

Eine praktische Unschuld.

Ein unschuldiger Wind, der uns einschmeichelnd ins Ohr raunt, aus Faulheit Schluss mit der Arbeit zu machen.

Die Wiedergeburt des in allen Menschen verdrängten Kindes. Der straflosen Lüste.

Die Umkehrung der Perspektive.

Die Überfülle, der Überschwang.

Die mit Intensität erlebte Begierde, die auf den Flügeln der Zeit herbeischwebt und sich verwirklicht, sobald sich ihr Denken in einer spontanen Handlung auflöst. Wenn es beschlossen hat, für sich zu leben, lebt nichts von dem, was lebt, allein.

Eine Föderation von nach Autonomie verlangenden Individuen.

Tastende Versuche.

Impulse zum Genuss.

So lese ich das Buch. Als Impuls. Als Schritt, als Versuch, ein Essay. Ein Versuch, der noch die Maskeraden bekämpft, die Rudimente der “alten Welt”, aus denen er sich gerade befreit. Die Trümmer der Macht und der Ökonomie, des Faschismus, Kolonialismus, Stalinismus, Militantismus. Die Strukturen des eigenen politischen Milieus, das mit dem Betreiben einer Situationistischen Internationale die Ansprüche an das “Revolutionäre Individuum” sehr hoch gehängt hatte. So hoch es vorstellbar war. Und diese Gruppierung, die mit so vielem und vielen gebrochen hatte, ging doch in die Falle der intellektuellen Rechthaberei, der vergiftenden Intellektualität. Sie hatte sich von der bestehenden Moral der strafenden Autoritäten und den vergitterten Vorstellungen gelöst und gerieten in den Sog, selbst so eine Instanz zu werden.

Man erlebt beim Lesen, wie die Masken abgerissen werden, in der Sprache, in den Gesten. In der Wut und Heftigkeit. Wie die Perspektive umgekehrt wird, als Manifest für die Befreiung der Menschen aus allen Rollenzuweisungen, Einschließungen und Ausschließungen, Enteignungen, Unterdrückungen, und wie wie die Gewaltverhältnisse in ein Potenzial übergehen, in eine Potenz, eine Möglichkeit und eine Stärke.

Wie das Imaginäre und die Befreiung zusammenhängen. Wie Freiheit nur ohne repräsentierte Identität möglich ist. Das “Unrepräsentierbare bildet eine Gemeinschaft ohne Voraussetzungen und ohne Bedingungen der Zugehörigkeit”, hat Giorgio Agamben formuliert, und dass weder Souveränität noch Recht “auf das befriedigende und absolut profane Leben, das die Vollkommenheit der eigenen Potenz und der eigenen Mitteilbarkeit erreicht hat”, Zugriff haben. Auf das “nackte Leben”. Und dass ein wahres politisches Leben erst “ausgehend von der unwiderruflichen Abwendung von jeder Souveränität denkbar” ist. So bezeichnet Agamben die Lebens-Form, den Akt bewusster Inbesitznahme der eigenen “politischen” Existenz. Die “reine Praxis”.

Walter Benjamin sprach von der “Idee des Glücks”, an der sich die “Ordnung des Profanen” aufzurichten habe.

Und Vaneigem vom Lebensmechanismus, der die ökonomische Maschine ersetzt.

Ist das zu viel, zu wenig? Geht das zu weit? Nicht weit genug?

Die Idee des Glücks, der Kostenlosigkeit, der Subjektivität, der Schöpfung, der Lüste – seine Formulierung und praktische Durchsetzung, darum geht es, damals wie heute.

Angaben zur deutschen Erstausgabe: Das Buch der Lüste, aus dem Französischen übersetzt von Pierre Gallissaires und Frank Witzel, Edition Nautilus, Hamburg 1984

Eine Antwort auf „Endloses Vergnügen“

  1. Vaneigem: Da hat einer den Durchblick. Sehr schön, verdammt gut. Ich mag mir das gar nicht zu tief reinziehen, da es sonst zu einer Selbsterkenntnis führen könnte: eigener Unmöglichkeit.
    Der Verstand will arbeiten, gibt man ihm keine sinnvolle Aufgabe, schafft er sich selbst seine eigene skurrile Welt. Wo ist die Alternative? Leben? – – – Wen lockt der Aufruf wirklich vom Sofa hoch und weg von den Fleischtöpfen Ägyptens?
    Für mich betrachtet, lebe ich meine Alternativen. Und die sehe ich doch in einer Art „Überwelt“, ohne sie näher definieren zu wollen.

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