Das pharmakonische Patt

Wir alle sind während der vergangenen zwei Jahre in einen existenziellen Widerspruch geraten. Er lässt sich ziemlich präzise mit dem Wort „Pharmakon“ beschreiben.

Keine Angst: dies ist kein akademischer Text auf den Spuren von Jacques Derrida und Bernard Stiegler. Vergleichsweise stehe ich näher an Samia Henni, ihren Gedanken über Kriegs-Zonen, toxische Atmosphären, näher an ihrer “PHARMACOLOGIE DU LOGEMENT” (“Pharmakologie der Behausung”) und der Frage, wie in einem ungesunden Quartier ein gesundes Leben möglich ist. Von dieser Warte aus betrachtet, ist das kehrseitenreiche Bild vom Pharmakon allzu reizvoll, um es ungenutzt zu lassen zur Klärung der etwas verwirrenden Lage im Übergang, in dem wir uns befinden.

Bericht von einer ganz und gar nicht frühlingshaften Reise durch die Hinterlassenschaften autoritärer Politik. Zum Schluss ein schöner Ausblick: Frankreich tanzt.
Kehrseiten

Im Altgriechischen bedeutet Pharmakon sowohl Gift, Droge, wie auch Arznei und Medikament. Das geschlechtsneutrale Pharmakon liegt sprachgeschichtlich nah am “pharmakos”, dem Menschenopfer, das dargebracht wurde, um einen Stadt zu reinigen, wenn “Seuchen, Hungersnot, Krieg oder sonstige Krisen und Gefahren befürchtet wurden oder eingetreten waren“. Die gemeinsame Wurzel beider Worte ist φάρμα, was „Zauber, Blendwerk“ bedeutet. Hier befinden wir uns bereits ganz nah an Isabelle Stengers und ihrer “La Sorcellerie capitaliste” (2005, Auszug in dt. in Supramarkt): der Hexerei, dem kapitalstischen Budenzauber.

Die Heilmittel des Kapitalismus sind unsere Krankheit. Keine ganz überraschende Einsicht. Denn schon lange kennen wir die auslösenden Faktoren für diese fundamentale Opposition, haben Gewissheit über die Kehrseite. Könnten sie zumindest kennen, wenn wir sie nicht verdrängen würden. Und doch lassen wir uns auf jedes noch so dumme Angebot des pharmakologischen Kapitalismus ein: wir riskieren uns, um uns zu verändern. Leben im Zwiespalt.

Jede Einnahme des Pharmakon, ob freiwillig oder gezwungenermaßen, ist mit Freuden und Leiden zugleich verbunden, mit Entlastung von Krankheit und mit Nebenwirkungen: Vergiftungserscheinungen. Mit unerwünschten Folgen. Die Dosis ist entscheidend – aber oft unbekannt.
Lasen wir nicht gerade jüngst von dem Verdacht, einige Impfstoff-Tranchen seien womöglich aus Versehen und unerkanntermaßen extrem stark waren? Das ließe sich zumindest aus der Frage ableiten, dass es derzeit offenbar keine regelmässig angewandte Methode zur Sicherstellung der Dosis gibt.

Der Anfang von jedem nächsten menschlichen Zustand ist durch Nichtwissen gekennzeichnet. Von den Schmerzen des Übergangs bestimmt.

Eingeklemmt in der scheinbar unauflösbaren Dualität, des für und wider, des noch-nicht und des nicht-mehr, hocken wir in einer Spalte zwischen Rettung und Verlust.

Nur eins steht unerschütterlich fest: durch die Werkzeuge, die wir uns erfunden haben, insbesondere durch die genetische Modifikation und die Technik der binären Existenz, die schlagartige Cyborgisierung unserer gesamten Gesellschaft, sind wir bereits Andere geworden. Unwiderruflich.

Es ist nur eine Frage der Zeit, wann wir das von außen betrachten und verstehen können.

Zum Glück weiß jeder Wanderer: aus Spalten, in die wir stürzen, finden wir den Ausweg immer nur nach oben. Das ist erfreulich und fatal zugleich.

Denn wir wollen, wir können nicht im Patt stehen bleiben. Das Jetzt ist keine Endposition, in der alle beteiligten Spieler keinen gültigen Zug mehr machen können. Leben geht niemals Remis aus.
Aber wo ist der Rettungsanker, mit dem wir uns aus dem Unentschieden ziehen?

Distanz

In dem irritierenden und daher höchst spannenden, prä-Corona verfassten Text „Ein paar Zeilen über das Ende der Welt“ (2018) heisst es eingangs:

„Andere haben es vorausgesehen, aber wir erleben es gerade: Das Ende der Welt ist nur ein weiteres Spektakel. Jede Woche fallen Plagen biblischen Ausmaßes über uns herein (Massensterben allmöglicher Tierarten, schmelzendes Packeis, Brände, Hitzewellen, Überschwemmungen, Erdbeben und Tsunamis) und doch wird diese unter allen anderen am wenigsten abstreitbare Tatsache auf Distanz gehalten, von sich gewiesen und nur aus der Entfernung betrachtet. …Niemals drängte sich eine Verwandlung der Realität mehr auf, während ebendiese Realität zugleich so sehr zugunsten ihres spektakulären, kybernetisch gewordenen Spiegelbilds vernachlässigt wurde. Die Nachrichten über die Apokalypse sättigen zwar die sozialen Medien, reißen aber niemanden aus seiner Erstarrung.“

Doch wie kommen wir aus diesem Erdulden, dem Schweigen, dem Hinnehmen, dem Ausharren wieder ins Handeln? In Freude am Leben?

Die Autoren der Zeilen setzen fort:
„Einige komfortabel etablierte Avantgardisten sagen, dass es bereits zu spät sei und dass selbst eine Revolution nichts am unvermeidlichen Zusammenbruch ändern würde. Doch wir müssen ihr Argument umkehren, um darauf zu antworten. Im Gegensatz zu dem, was diese Resignierten glauben, bedeutet ihr als ausgemacht geltender Zusammenbruch der Gesellschaft nicht unbedingt das Ende des Kapitalismus und unseres Elends.

Der Zusammenbruch könnte sich in einer schrecklichen Vertiefung der kapitalistischen Logik äußern: Die letzten Tropfen Trinkwasser würden zu einem äußerst hohen Preis verkauft, ebenso wie die letzten Parzellen Land ohne Radioaktivität. Man sieht bereits chinesische Bauern, die die Arbeit der Bienen übernehmen und Apfelbäume von Hand bestäuben. Man verteidigt bereits die extreme Ausbeutung von Fahrradkurieren mit der Begründung, dass sie die Umwelt nicht verschmutzen. Es wird vorgeschlagen, Mauern zu bauen, um das Schmelzen der Gletscher zu stoppen.

Eine Revolution würde vielleicht nicht ausreichend sein. Aber sie ist auf jeden Fall notwendig. Sie allein würde es ermöglichen, den Produktionsapparat umzugestalten … gemeinsam eine materielle Reproduktion zu entwickeln, die die Welt nicht gefährdet und aufhört, die Menschen zu vergiften. Und um es nicht dabei zu belassen: die Revolution muss auch schön sein und die Zeit befreien.“

Aufhebung

Viele der Aspekte dieses vier Jahre alten Textes kommen uns in den Sinn, als wir diese Woche durch den Saharastaub vom Saarland aus über die französische Grenze nach Lothringen fahren.

Saharastaub auf Schloß und Autos in Lunéville, Lothringen


Um uns herum wieder Tausende von hustenden Rentnern in ihren Premiumlinern, die wir genau vor zwei Jahren zusammen mit uns vor dem „confinement“ (Ausgangssperre) in die andere Richtung flüchten sahen. Nur sind sie diesmal nicht schokoladenbraun wie damals, sondern käsebleich von zwei Jahren Quarantäne. Zu bleichem Fleisch gewordener Vitamin-D-Mangel.

Lothringen ist rot: auf der Autobahn, auf jedem Fahrzeug, jeder Fensterscheibe eine dicke Schicht strahlender Sand, radioaktiv von den Oberflächen der Wüste, in der die Kolonialmacht ihre Atombombenoberflächentests durchführte.
Die gleiche Endzeitparty wie vor zwei Jahren, nur diesmal ohne Romy Haag. Unser Leben im 21. Jahrhundert: ein Stafettenlauf der Plagen.

Genau 62 Jahre nach dem ersten Test mit einer 70 Kilotonnen-Bombe (16 weitere „Versuche“ folgten) reist der Staub aus dem fernen Reggane in Algerien immer noch durch die Lüfte und senkt sich auf die Lungen. 3500 Kilometer weiter nördlich, in Lunéville, ist die Luft so dicht, dass die Menschen Masken tragen, obwohl Frankreich – auf den Tag genau zwei Jahre nach der ersten Ausgangssperre –gerade an diesem Tag (am 15. März) alle „Maßnahmen“ aufgehoben hat. Der Himmel ist gelb. …und ewig glüht die Wüste.
Sogar in Berlin kommt der giftige Dreck noch an.

Rot eingestaubtes Haus in Lunéville
Psychokeime

Es scheint, es gibt keine Zuflucht mehr vor den Heilmitteln des Kapitalismus, weder den politischen (Bomben), noch den gesundheitlichen (mRNA). Das Pharmakon will die Macht übernehmen. Das Pharmakon herrscht bereits in der Ukraine: überall mit Apokalypse gesättigte Polarisierung. Wir leben oben auf dem Müllberg des ideologischen 20. Jahrhunderts. Unsere Schutzhütten sind kontaminiert.

Die Psycho-Keime gehen auf wie Giftpilze, wenn wir von Biowaffen-Laboren westlicher Nationen auf kleinrussischem Gebiet hören. Mussten wir alle mit Gensträngen geimpft werden, um die Antidotes für das befürchtete „lab leak“ (undichte Stelle in einem Labor) eines synthetischen Virus zu erhalten?

Nur um Verwirrung vorzubeugen: mich interessiert nur wenig, ob das Coronavirus vom Pangolin oder von Fledermäusen stammt oder ob es gar aus der biotechnologischen Forschung entfleucht sein könnte. Mir reicht aus, dass nichts ausgeschlossen, alles denkbar ist. Aber was mich brennend interessiert, ist die kollektive psychische Wirkkraft solcher Fragen. Weil sie auf den Kern von ökonomischen Projekten weist, die wir wiederum uns nicht trauen, grundlegend in Frage zu stellen, noch zu beenden.
Ist (Gesundheits-)Forschung ein einziges potentielles „lab leak“, ein Pharmakon, das ständig neue Heilmittel notwendig macht?

Wie will man diese Fragen entscheiden? Wir können ja nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob Macron unter dem zunehmenden Druck der Öffentlichkeit (Konvoi der Freiheit, wiedererstarkende Gelbwestenbewegung), wegen der zurückgehenden Infektionszahlen (also aus medizinischen Gründen) oder aus einem anderen längst beschlossenen Kalkül im Kontext der anstehenden Präsidentschaftswahl an jenem symbolischen Jahrestag voranpreschte und allen Franzosen (und ihre sofort massenhaft einreisenden Gästen) eine gewisse Erleichterung verschaffte?

Das Misstrauen sitzt tief. Wir sehen nur: Maske runter. Maske rauf. Wir fürchten sofort: die aktuelle „leichte Erfrischung am Halse“ (Guillotines berühmtes Wort über die Wirkung seiner Erfindung) könnte uns am Ende des Tages den Kopf kosten. Ob wir am verseuchten Fernstaub sterben oder an der Überdosis mRNA: wen schert das noch? Paranoia sitzt tiefer als das Misstrauen.

Elementarteilchen

Die Franzosen haben im Gegensatz zu den Deutschen ganz offenkundig nicht vergessen, was die Worte bedeuten: Solidarität, gegenseitige Hilfe, Gemeinschaftsgefühl, die Erkenntnis, nicht nur ein wehrloses formbares Molekül des Staate zu sein, sondern sein Elementarteilchen.
Brauchen wir nicht Trost in völlig aussichtsloser Lage?
Die Franzosen gehen es an. Gefühlt jedes zweite Dorf, das wir durchqueren, hat schnell mit Hand ein Schild gemalt, auf dem noch für diese Woche ein „repas dansant“, ein gemeinsames Essen mit Tanz, anberaumt wird. Frankreich feiert das Ende der Pandemie. Sie wollen tanzen.

Wir fürchten, die Deutschen werden sich stickum aus den Beschränkungen mogeln und weiter zetern und geifern. Die Lebensfreude hat scheint´s ihren Wohnsitz bei uns abgemeldet.

Es wäre den Schweiß der Gerechten wert, zu untersuchen, woher dieser Mentalitätsunterschied stammt und wie man die Deutschen etwas französischer machen könnte, positiver – statt immer nur „positiv“.

Ich schließe deswegen mit einem letzten Zitat aus den „Zeilen“:
„Trotz der biblischen Ausmaße der Katastrophe weiß jeder, dass sie von Menschenhand verursacht wurde. Diese Katastrophe … offenbart selbst den borniertesten Menschen, dass die Menschheit allein über ihr Schicksal bestimmt. … Dass das Leben nicht länger warten kann und dass es sich lohnt.“

Zitate aus “Ein paar Zeilen über das Ende der Welt” übersetzt von Gianfranco Pipistrello, @desertions_

2 Antworten auf „Das pharmakonische Patt“

  1. Lieber Autor!
    Gut erfaßt, gefällt mir, habe es an einen Freund
    weitergereicht. Das Leben ist zu kurz um es mit Trauer und Ärger zu verbringen, irgendwo findet sich immer wieder ein Anlaß zur Freude und sei sie noch so klein.
    Liebe Grüße
    Winfried.

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