Der blinde Fleck

Eine Polemik über das Ende der Freundschaft und den neuen Egoismus

Ratet mal!

Am heutigen 4. Mai 2021 wird die neue AKTION ein Jahr alt.

Ein Säugling – mit den 110 Jahren seiner Eltern und Großeltern auf dem Buckel.

Um es mit dem Pseudonym des AKTION-Gründers Franz Pfemfert zu fragen: „U. Gaday?“ (abgeleitet vom Russischen: ugadai = „rate mal“):

Hat die neue AKTION Bestand? War sie im ersten Jahr interessant? Wurde sie gelesen? Konnte sie erfolgreich vom Papier ins Internet verpflanzt werden? Als Ausdruck welcher politischen Einstellung gilt sie , dort wo sie hinverpflanzt wurde?

20. Februar 1911

Die privaten Blogs im Internet gelten heute als weitgehend gefährliches Pflaster: kein Strand liegt unter den angeblichen Falschmeldungen.

Als am 20. Februar 1911 Pfemfert die Ur-AKTION als neues Organ der undogmatischen Linken aus der Taufe hob, war ganz sicher noch kein Internet am Horizont.
Zwar schrieb der AKTION-Autor und Berliner Sciencefictionist Paul Scheerbart schon damals von kompletten, radikal miniaturisierten und an einer Halskette zu tragenden Bibliotheken. Auch lagen erster Weltkrieg und die russische Revolution zum Gründungstag noch in der Zukunft, ebenso wie der europäische Faschismus, unter dessen Erstarken Pfemfert 1932 aufgab.

Niemand konnte damals ahnen, wie es einst weitergehen würde.

Fast fünfzig Jahre lag die Zeitung still.

11. September 1981

Als der Anarchist Lutz Schulenburg 1981 mit der AKTION (No. 1-7) weitermachte, lag vor ihm in noch relativ weiter Ferne der Zusammenbruch des damals die Weltordnung bestimmenden Systemwiderspruchs zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Über diese Wende hinaus bis zu seinem Tod 2013 hat Lutz die Zeitung weitergeführt.

Dann lag sie wiederum sieben Jahre still.

Als wir am 4. Mai 2020 unter dem Eindruck der ersten Monate der COVID-Epidemie die Stafette aufnahmen, weil wir es für bitter nötig hielten, den frappierenden medialen und politischen Ereignissen um uns herum eine Stimme entgegenzusetzen, eine Stimme der „radikalen Intelligenz“, wie wir sie zynisch nannten, da glaubten wir weder, dass ein Jahr später die Welt so derart „auf Null gefahren“ sein könnte, wie es nun tatsächlich der Fall ist, noch glaubten wir, die wir ein Organ mit 500 Abonnenten beerbten, dass wir derart viele neue Leser finden würden.

Und dennoch, gemessen an den benannten historischen Ereignissen: was gilt da als Erfolg?

Können wir heute mit „Internet-Statistik“ eine inhaltliche Bedeutung ermitteln?
Mit den 25.000 neuen Lesern des ersten Jahres protzen?
Wohl kaum.

1. Mai 2021

Schauen wir nüchtern – bitte ohne jede seelische Erschütterung oder ohne jeden Zorn – auf die Ereignisse der letzten Tage.

0,2 % der Deutschen sind am 1. Mai 2021 auf die Straße gegangen.

Rein rechnerisch bedeutet das, dass 98,8 % zu Hause geblieben sind und sich der Bundesnotbremse unterworfen haben oder maximal, an dem Tag, an dem sonst seit 140 Jahren, seit dem 1. Mai 1886, politisch öffentlich gehandelt wurde, zum Picknicken in den Park gegangen sind – allerdings auf Distanz.

„moving day“, wie der Internationale Kampftag der Arbeiterklasse heisst, das ist heute Stillstandstag.

Die Bewegung hat keine treibenden Kräfte mehr.
Alle sind fixiert: im Bann einer Regierungserklärung, angeblich zum Schutz der Gesundheit. Niemand hört mehr hin, niemand stösst sich daran, wenn der Gesundheitsminister sagt, in den Händen der Pharmakonzerne wäre das Programm zur Gestaltung einer gesunden Zukunft am besten aufgehoben – das würde zugleich auch Beamtengehälter sparen: so sieht er aus, der „moving day“ in Lobbyland.

Aber das Problem ist nicht allein politischer Natur, wenn wir hier unter Politik das verstehen wollen, was Berufspolitiker als republikanisch bezeichnen.

Das tiefere Problem liegt in der brutal schnellen Zerschlagung allen Vertrauens, aller Solidarität.

In nur einem Jahr haben wir nicht nur viele nette neue Leser kennengelernt – wir haben auch viele gute alte Freunde verloren. Der Moment, in dem die Bande zerbrachen, wirkt – schon aus der Distanz nur weniger Wochen betrachtet – wie fingiert. Wie künstlich aufgepeitscht. Als habe man nur auf die Gelegenheit zum Bruch gewartet.
In die persönlichen Bande hat sich das Virus am festesten eingenistet.

Die durch Reglementierungen bedingte Trennung alter Freundschaften hat einen fatalen Effekt: Abwesende, die mangels Anwesenheit und in ihr aktiv geführter Debatte nichts, insbesondere keine Vorwürfe, im direkten Gespräch relativieren können, sind vorbestimmt zum Opfer.

Wo Diskurs ausfällt, regiert Vorurteil, schlechte Laune, blinder Fleck. “In Zoom” war dieser Effekt anfangs noch teilweise abfangbar. Aber seit alle Tagesenergie unserer Freunde „in Zoom“ zu fliessen scheint, ist auch dieses Freundschaftsersatzbefriedigungs-Medium verbraucht, enthält keine Bindekräfte mehr.

Die Erfahrung ist nicht neu: die boomenden E-Commerce-Wirtschaft Anfang der nuller Jahre hat ausführlich Erfahrungen damit gesammelt, warum und auf welche Weise geschäftliche Absprachen über Videokonferenzen scheitern. Entscheidungen wurden stets in Kaffeepausenrunden, nicht am Konferenztisch getroffen. Die Lösungs-notwendige Chemie des „einander riechen Könnens“ ist nicht digitalisierbar.

Doch hier ging es nur um Abschlüsse, nicht um Freundschaft. Wie viel schlimmer muss es daher um zwischenmenschliche Gefühle stehen, die nicht wie wirtschaftliche Daten verhandelbar sind.

Wo Kontaktangst herrscht, ist Zusammenschluss undenkbar. Räumliche Entkoppelung zerstört Freundschaft, deren Kern Herzlichkeit, Umarmung, physische Nähe ist, die jede Form von ideologischer Differenz zu harmonisieren in der Lage ist.

Unter dem Eindruck der zahllosen, regierungsamtlich verordneten und inzwischen sogar strafbewehrten Denk- und Sprechverbote, die mit den Reglementierungen einhergehen, die zusammengefasst „4. Bevölkerungsschutzgesetz“ heißen, hat sich inzwischen auch bei kritisch denkenden Menschen der blinde Fleck soweit ausgedehnt, dass er Intellekt- und gefühlsbeherrschend geworden ist.

Zielfläche der Angriffe der unter starker Ausdehnung des blinden Flecks Leidenden ist jetzt nicht mehr das staatliche Handeln. Dies wird als identisch mit dem wünschenswerten Gesundheitsschutz betrachtet.

Die Zielfläche der Angriffe sind jetzt diejenigen, aus dem engeren Bekanntenkreis stammenden, früher als kritische Weggefährten Betrachteten, die sich trotz der Sprech- und Denk-Verbote noch mit eigenen abweichenden Ansichten hervorwagen.

Die konzertierte Verleumdungskampagne gegen jede Form von “Abweichlertum”, das früher als „erfrischend widerständig“, heute aber als „verantwortungslos lebensgefährdend“ bewertet wird, habe ich in meinem Text „Die Säuberung der Schädelkammern” vor drei Tagen etwas genauer dargestellt.

Ego-Monster

Nicht einmal mehr der von Albert Camus beschriebene Reflex einer “erklärten Freundschaft” ist möglich zwischen Leuten, die ihre Freundschaft 20 Jahre lang zuvor als unverbrüchlich gepflegt haben.
Die Selbstzuordnung der Freunde zu Risikogruppen, ihr freiwilliges Verzichten auf Kontakt hat eine überdeutliche Dimension von Egoismus, in dem Sinn, wie Frank Schirrmacher ihn als Monster des Kapitalismus in seinem Buch „Ego“ erkannt hat. Schirrmacher, der sich – wie glaubwürdig auch immer, mit diesem Buch vom Jünger-Fan zum Foucaultianer wandelte – prognostiziert in seinem Buch das Ende des freien Willens und den Wandel des Demokratiebegriffs in der heutigen Zeit, in der eine Ökonomie des radikalen Egoismus ohne Moral sich Bahn bricht.

Die vom Egoismus dieser Ausformung geprägte Unfähigkeit zu jeder Form von Unverbrüchlichkeit, das Versagen aller Contenance kann man getrost als den Hauptschaden der Pandemie bezeichnen.

Viele andere Schäden sind reparabel.
Dieser sicher nicht.

Die staatlich organisierte Unmöglichkeit, sich offen und kritisch an den anstehenden Themen abzuarbeiten, führt zu jener gigantischen Ausdehnung des blinden Flecks, die mit einem Schlag den Egoismus an die Stelle gesellschaftlicher Solidarität platziert hat.

Anders als bei einer durch Unfall oder Krankheit bedingten Blindheit existiert der (verordnungsbedingte und herb sozialschädliche) blinde Fleck, obwohl die vom blinden Fleck Betroffenen sehenden Auges den Untergang des republikanischen Geistes und seiner Freiheiten erleben.
Nur einem ungeheuerlichen Egoismus gelingt es, all das auszublenden.

Nicht denen, die jetzt das Ruder in der Hand halten, oder denen, die – ohne eine Wahlprognose wagen zu wollen – noch nachkommen werden und die Situation nach der Wahl im Herbst noch schlimmer machen wollen, wirft man den Untergang der Republik vor.

Im Gegenteil: Man wirft die Schuld am Untergang der Republik denen vor, die sich für sie, für den Erhalt ihrer Ideale und ihrer Rechtsförmigkeit einsetzen – und die dadurch in Widerspruch zu den Reglementierungen einer immer zentralistischer agierenden Bundesführung geraten.

Die undogmatische Linke von Pfemfert und den Anarchismus von Lutz Schulenburg verband der berechtigte Zweifel an der Tätigkeit staatlicher Organe: waren sie auf das Gemeinwohl ausgerichtet? Auf das Wohl der „Arbeiter“? Oder handelte es sich um Formen persönlicher Vorteilsnahme und Bereicherung auf Seiten der vermeintlichen „Volksvertreter“?

Eine solche „gesunde Skepsis“ gilt heute als die größte Gefahrenquelle im Land. Dass selbst der vergleichsweise politisch wenig radikale, zynisch-philosophische Kommentar der Schauspieler, die zu Allesdichtmachen beitrugen, eine Hexenjagd auslöst, lässt wenig Hoffnung auf ein baldiges Schrumpfen des blinden Flecks aufkommen.

3 Antworten auf „Der blinde Fleck“

  1. 4.5.2021 …nun muss ich dir doch schreiben.

    seit langem sind dies die wirklich wichtigsten Zeilen von dir. Besonders die heutigen!!

    Die Zeit wird uns zeigen wie “gesund” an Geist und Empathie unsere Mitmenschen noch sind.
    LG M

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