Richtung Auswilderung

Als Hanna Mittelstädts neuer Text für DIE AKTION bei mir ankam, las ich gerade in den “Cahiers” der klugen, ich bin versucht zu sagen: der geradezu erschreckend weitsichtigen (zu dem Zeitpunkt 24-jährigen) Simone Weil.

Deswegen schien mir Hannas Titel “Polyfone Gefüge” wie auf den Geist der Weilschen Notate zugeschnitten, weswegen ich dieses vielstimmige, kenntnisreiche Werk hier erwähne. Selten habe ich einen so universellen, so umfassend interessiert geschriebenen Text gelesen. Selten so wenig verstanden, trotz wiederholtem Lesen. Simone Weil ist um Potenzen intelligenter, komplexer, zweifelnder, suchender, als die meisten vergleichbaren philosophisch-politischen Autoren des 20. Jahrhunderts.

Aber die Parallelen zum polyfonen Gefüge von Hanna Mittelstädt gehen weit über den Titel hinaus.

Weil schreibt (ca. 1933): “Unbedingt notwendig: Studium (besonders historisches) der landwirtschaftlichen Technik (ist das Ersetzen der Pferde durch Traktoren etwas anderes als Politik? Düngemittel, Geräte…) Herausfinden, ob die ultramoderne landwirtschaftliche Technik nicht den Boden auslaugt? Auch die Frage der Kunstdünger untersuchen.” (Cahiers Bd. 1, S. 130)

Bei Mittelstädt heisst es in der Passage über die Reise nach Aragon: “Auch hier soziale Konflikte, ausgelöst durch die EU-normierten Fortschrittsideen (Energieproduktion von Konzernen, Warenversorgung durch die globalen Ketten, Fleischindustrie, industrielle Landwirtschaft). … Der Osten Aragons war in den Jahren 1936/37 Schauplatz eines großartigen Experiments. Hunderte Dörfer nahmen nach dem Putsch des Militärs gegen die Republik ihre Geschicke selbst in die Hand. Über nahezu anderthalb Jahre organisierte sich die Landbevölkerung kollektiv und föderativ, schaffte vielerorts das Geld ab.”

Bei Weil, die 1936 in der Brigade Durrutis am Ebro (an den Osten Aragoniens anschließend) kämpfte, schlägt sich die Frage des Geldes unter dem lebhaften Eindruck des spanischen Bürgerkrieges in folgenden Zeilen nieder:

“Die Ablösung des Industriezeitalters durch das Finanzzeitalter besteht hauptsächlich darin, dass der entscheidende Faktor für das Wachstum des Unternehmens nicht mehr die Kapitalisierung des Profits ist, sondern der Zugriff auf neues Kapital – daher die Zerstörung all dessen, was im Kapitalismus eine gut organisierte Produktion begünstigte. Das hat den Parasitismus entwickelt welcher seinerseits…

Zu erledigen: Liste der Unternehmen aufstellen. Indochinesische Broschüren. …

Zu untersuchen: Geschichte des Austausches zwischen Stadt und Land im technischen Sinne,… (im Manuskript folgen drei Seiten mit mathematischen Notizen: Kombinationen und Permutationen).”

Fast hundert Jahre alt, diese Gedanken – und noch so frisch, richtig und unbearbeitet, als wären sie nach der Finanz-, Staatschulden und Wirtschaftskrise des frühen 21. Jahrhunderts gedacht worden.

Offenbar sind mehr Analysen nötig, genauere Untersuchungen.

Vor allem: Unnachgiebigkeit. Festhalten am einmal Erkannten.

Wir müssen nicht fordern. Wir müssen handeln.

Beim Lesen von Hannas Text denke ich an die katalanische Organisation CIC, Cooperativa Integral Catalana : an ihre Programme zur Neuaneignung von Technologien für einen libertären Kommunalismus = XCTIT (Xarxa de Ciencia, Tècnica i Tecnologia), an ihre Bemühungen um Selbstverwaltung, Selbstversorgung, Selbstbefreiung, an ihren gelebten Ausstieg aus dem kapitalistischen Markt und ich denke daran, dass ihr Mitgründer Enric Duran als Terrorist verfolgt wurde von der spanischen Justiz unter dem Regime der Partida Popular, die sich als Christdemokraten verstanden wissen wollen, aber die unmittelbare Nachfolge der ultrarechten Falange sind, deren Geschichte und Rolle im spanischen Bürgerkrieg per Gesetz bis heute nicht aufgearbeitet werden darf.

Kreise, die sich schließen. 1929. 1936. 2008. 2020.

Wo stehen wir Westeuröpäer heute, 2022?

Wir alle haben knapp zwei Jahre lang unerwartet, unfreiwillig und die meisten von uns in jeder Hinsicht schuldlos, unter der Einwirkung einer neuen Qualität von Repression leben müssen. Diese Phase ist längst nicht abgeschlossen.

Cliquen, die davon profitieren, haben Kernenergie zur ökologischen Technologie für Europa erklärt. Minireaktoren sind die allfällige Lösung für unseren Energiebedarf und unser Klimaproblem, sagen uns Cliquen, die davon profitieren.

Vorausschauend arbeitende Cliquen, die davon profitieren, beständig ihr Ohr an den Arsch der Weltforen für Zukunftspolitik zu pressen und die lustvoll auf der dem “peak of inflated expectations” des Gartner Hype Cycle surfen, haben in Europa seit 2019 – Corona war bei den Meisten von uns nicht einmal “am Horizont” – zwanzig neue Rechenzentren errichtet, jedes mit einem Energieverbrauch des Metropolraumes von Paris, sprich so viel, wie 12,5 Millionen Menschen in einer durchweg beleuchteten Großstadtzone benötigen. All das weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit.

Die Rechenzentren wurden und werden gebraucht, um uns onlineversorgt zu Hause zu halten. Fressen auf Rädern. Distanzschule. Enthirnte Medien auf seelischem Entwurzelungskurs. Staatliche Brigaden des gleichgeschalteten Denkens. Der New Screen Deal. Turboschneller Finanzkapitalismus mit spekulativem Wohnungsmarkt. Digitalisierte Landwirtschaft. Mobilität mit 5G. KI-mässige Sichtung und Vergatterung der gesamten Bevölkerung.

Potenzen auch hier: unser Alltag heute liegt weit jenseits all dessen, was David Cronenberg 1983 am zynischen Beispiel der Kathodenstrahlmission (Videodrome) für maximale Dystopie hielt.

Wir haben – einige kurze Jahre erst – unter dem körperlichen Einfluss struktureller Gewalt gelebt. Wir sind aus dieser Phase längst nicht heraus, denn ein Zurück zur schon damals grundverkehrten Normalität von zuvor wird es nicht geben. Und vorn voraus sind die Weiselzellen des Kapitals, die wir versorgen sollen, schon fertig gebaut. Wir willige Arbeitsbienen füttern, wir züchten die Königin.

Die Gewalt des uns übergestülpten Zusammenhangs ist uns ins Blut übergegangen und hat sich dort bis zur Unkenntlichkeit verdünnt.

Wir leben unser kleines Glück als schäbige Abbilder eines Plattformreichtums und seiner Ideale, die sich in Recheneinheiten ausdrücken, deren kleinste vorstellbare Größe neun Nullen hinter der Wertzahl aufweist. 2022 gibt es weltweit 2.668 Milliardäre. Wir fahren in Elektroautos von einem davon. Wir kaufen alles ein in dem Onlineunternehmen eines Weiteren. Wir benutzen die Rechner eines Dritten. Alle sie sind Wortführer in der zuvor erwähnten Repressionsphase gewesen, haben Impfstoffe hergestellt, gigantische Automobilwerke errichtet, noch gigantischere Rechenzentren gebaut. Sie haben, während Millonen Menschen Pleite gingen (in Deutschland derzeit 13,8 Millionen an und unter der Armutsgrenze), hunderte Millarden zugelegt. Wir saßen zuhause und haben uns in die Welt gezoomt. Einen digitalen Apero zusammen getrunken und ansonsten ziemlich viele Beziehungen abgebrochen.

Denn der Gefühlsstau, den wir erlebten, weil unsere (sozialen) Grundbedürfnisse so lange unbefriedigt blieben, hat sich in Polarisierung und Haß ein Ventil geschaffen. Der Haß hat unsergleichen getroffen. Nicht die Cliquen, die davon profitieren. Eigenartige Unterwerfung unter den Sieger. Perverse Algebra der Gewinner.

Wir rechnen ständig mit Unbekannten. Doch die Mehrzahl der Zeitgenossen hat vergessen, dass “Algebra” „das Zusammenfügen gebrochener Teile“ bedeutet. Weil wir angstvoll mit Unbekannten rechnen, haben wir uns das Zerbrechen zu unserer Eigenart gemacht.

Wie heilsam, wie klug liest sich in dieser Zeit der Auflösung, angesichts der gefühlten Kapitulation der Mehrheit, ein widerständiger Text wie “Polyfones Gefüge”. Wie vielversprechend die Routenangabe klingt: “Richtung Auswilderung”.

Ich wünsche viel Freude bei der Lektüre.

2 Antworten auf „Richtung Auswilderung“

  1. Es ist leider eine erschreckende Analyse. Doch jeder, der das erkennt, hat auch die Möglichkeit, es zu fördern oder zu verhindern durch die eigene Haltung, speziell sein Komsum Verhalten, auf allen Ebenen des Seins.

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