Wie alles anfing

Heute erscheint auf diesem Blog das erste Kooperationsprojekt mit der Neuen Berliner Illustrierten Zeitung: ein Text des autonomen Aktivisten und Philosophen Moses Dobruška – “Wie alles anfing – Die Straßburger Thesen”.

Der Text erscheint hier zuerst auf Deutsch – noch vor der französischen Originalfassung. Moses Dobruška entlehnt sein Pseudonym bei einem böhmisch-jüdischen Alchemisten, Schriftsteller und kosmopolitischen Häretiker, geboren 1753 in Brünn, guillotiniert 1794 in Paris.

Der Autor hat mit dem Titel seines Textes ein wildes Referenz-Spiel entfesselt, das sich beinahe selbst überschlägt:

die “Straßburger Thesen” sind die erste Fassung der kommenden “Montevideo Thesen”; aus Montevideo stammen die Tupamaros, die wiederum die “Tupamaros West-Berlin” inspirierten und von Dieter Kunzelmann, einem Mitglied der Kommune 1, gegründet wurden; die K1 zielte – in einer Zeit, die hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Spaltung unserer jetzigen fatal ähnelte – darauf ab, die “Privatsphäre zu destruieren”, in der nach Überzeugung der Kommunarden das falsche Leben hauste; sie sprengten damit die bürgerlichen Abhängigkeitsverhältnisse radikal auf. Der Oberkommunarde Bommi Baumann hat all das in seiner 1975 bei Trikont erschienenen (und kurz darauf polizeilich beschlagnahmten) Stadtguerilla-Fibel “Wie alles anfing” beschrieben – von der sich Dobruška den Titel angeeignet hat.

Letzte Volte im Spiel der Verweise: Straßburg ist die Stadt, in der der böhmisch-jüdische Alchemist Dobruška seinen Name in “Junius Frey” abänderte – als Pseudonym ist Frey ein Autorenname, den man wiederum in Berlin gut kennt, durch seine Publikation “Kosmotechnik und Kommunismus” bei Matthes und Seitz. in der er, unter Bezug auf die Arbeit des Tiqqun-Kollektivs, die Durchsetzung der westlichen Moderne durch die Etablierung eines instrumentellen Begriffs von Technik diskutiert und sie zu einer neuen Doktrin verwandelter kommunistischer Politik führt. Das Tiqqun-Kollektiv wiederum ist für Texte wie Der kommende Aufstand, An unsere Freunde oder Jetzt bekannt, die unter dem Herausgeber-Namen “Das unsichtbare Komitee” bei Edition Nautilus in Hamburg erschienen, von denen wir wiederum das Label “Die Aktion” übernommen haben.

Doch zurück dazu, wie alles anfing: Der Verweis auf Baumann nötigt sicher manchem Leser ein Schmunzeln ab, insbesondere wenn er in den “Straßburger Thesen” den voll Verve vorgetragenen Satz “Wir sind die Kämpfer für eine Welt ohne Arschlöcher” liest. Baumann hat in seiner durchaus selbstgefälligen Historisierung der Bewegung 2. Juni nicht vermeiden können einzugestehen, dass er den Einfluß des Verfassungsschutzes auf die Aktionen der radikalen Linken komplett verkannt hatte.

Das genaue Gegenteil ist der Fall in den “Straßburger Thesen”. Sie lesen sich wie eine Antwort auf die Beobachtungen, die 2020 unter dem Titel “Wir haben gesehen” notiert wurden. Seither ist die Analyse dessen, was manche als Paradigmenwechsel bezeichnen, während es Dobruška schlicht als “weltweiten Staatsstreich” entblößt, weiter vorangeschritten: Höhepunkt der Auseinandersetzung ist fraglos das “Konspirationistische Manifest”, auf das Dobruška sich in These 32 deutlich bezieht.

Im Gegensatz zum Haschrebellen und Kommunengründer weiß der Autor der Thesen ganz genau, das eine der größten Gefahren darin lauert, zum “Handlanger einer ganz bestimmten Bullenstrategie” (Baumann) zu verkommen. Deswegen geisselt er “unangebrachten Triumphalismus” (Th.28) der Linken ebenso unnachgiebig, wie er sentimentlos klarstellt “die politisierten Menschen haben zu viel soziales Kapital zu verlieren, um nicht dumm und feige zu sein” (Th.31).

Mancher Leser mag sich fragen, welche Partei gemeint ist, wenn es unter These 39 heißt: “Die Partei stärkt sich, indem sie sich von ihren opportunistischen, nihilistischen, skeptischen, covidistischen, perversen, narzisstischen, postmodernen usw. Elementen reinigt.”

Mit Autoren wie Amadeo Bordiga und seinen Freund und Schüler Jacques Camatte ist festzuhalten, dass es einen wesentlichen Unterschied gibt zwischen einer “formellen Partei” (die Organisation) und einer “geschichtlichen Partei” (“parti historique”), die tatsächlich nicht zu organisieren ist, jedoch fraglos besteht.

Die Reinigung, von der wir am Ende der These lesen, verweist zum einen auf Ferdinand Lasalle und die “Purifizierung”, die er in einem Brief an Marx vom 24. Juni 1852 erwähnt:

“Daß die Parteikämpfe gerade einer Partei Kraft und Leben geben, daß der größte Beweis der Schwäche einer Partei das Verschwimmen derselben und die Abstumpfung der markierten Differenzen ist, daß sich eine Partei stärkt, indem sie sich purifiziert, davon weiß und befürchtet die Behördenlogik wenig!“

Zum anderen ist nicht nur die These 39, sondern der gesamte Text eine vehemnte Absage an die “falschen Freunde” und ein Lob der Spaltung, durch die allein es wieder möglich wird, ohne falsche Rücksichten klare Ziele zu stecken und eine Antwort zu geben auf “die zentrale politische Frage des 21. Jahrhunderts”: “wie wir kollektive Realitäten konstituieren können, die nicht auf Opfern beruhen.” (Th.34)

Selten bekommen wir in unseren Zeiten des “Barbie-Feminismus und der Pfizer-Linken …, der Pro-Zensur-Anarchisten und der Pro-NATO-Autonomen, …der grünen Atomkraft und des Impfstalinismus” einen Text von dieser Kraft zu lesen. Die Energie des Autors teilt sich in jeder Zeile mit. Es ist die Kraft der Ehrlichkeit. Wir können nur hoffen und daran arbeiten, uns aus der Umklammerung der “sozialen Magie” (Th.16) zu befreien und aufzubrechen in eine Zukunft jenseits der Gewalt.

Die Phrase “See you on the outside” (Th.32) verweist genau auf diese Perspektive. Im amerikanischen Gangster-Rotwelsch, in der Sprache der Gefangenen, meint sie die Zeit nach dem Ausbruch, wenn die Menschen nicht mehr zwischen Mauern weggesperrt sind. Solange der Gefangene der Kontaktsperre unterliegt, kann er sich nicht mit Gleichgesinnten organisieren. Der Ausruf „Wir treffen uns eines Tages auf der anderen Seite” beinhaltet also die Hoffnung, dass es gelingt, aus der Gefangenschaft von destruktiver Expertokratie und “autoritärem Horizontalismus” (Th.2) auszubrechen und zur Freiheit zu gelangen.

Ab dem 14. Dezember 2023 erhalten Sie die gedruckte Ausgabe der Neuen Berliner Illustrierten Zeitung mit dem Text “Wie alles anfing” (und dem Text “Nullnummer – 50 Jahre No Future” von Olaf Arndt) bei Ihrem Lieblings-Straßenzeitungs-Verkäufer in ganz Berlin.

Halten Sie zudem die Augen offen: die NBIZ wird auch als Wandzeitung Stadt-weit plakatiert!

(Falls Sie ein gedrucktes Exemplar haben möchten, schreiben Sie mir bitte eine Email – ich versuche mein Möglichstes)

Nachtrag 2.12.23: Nun gibt es eine spanische Fassung des Textes hier: https://cuadernosparaelcolapso.noblogs.org/post/2023/12/01/como-empezo-todo-tesis-de-estrasburgo/

3 Antworten auf „Wie alles anfing“

  1. “Jenseits des Egos zu operieren ist kein moralisches Gebot, sondern eine strategische Bedingung…” – ebenso wie Desertion und angewandte Auswilderung in praktische Deprogrammierung mündet, genauso wie der Biss in den sauren Apfel der DeBourgoisierung dient, denn es sind strategische und ebenso wichtige organisch-l(i)ebendige Bedingungen, welche uns den Blick über den Rand des apokalyptischen Tellers erst ermöglichen, um endlich die bequeme Schockstarre hinter uns zu lassen.. el camino se hace al andar! Intuitive Gewissheit braucht den Arsch im Feuer, hat uns Rumi schon wissen lassen, der Schraubstock um die Brust löst sich im bewusst kontrollverlustig freien Fall.
    Welch‘ lecker Bömbchen.
    PS: Rumi war ein religiöser Feingeist in Conya vor ca. 800 Jahren und is der bekannteste wohl unter den Sufischreiberlingen, der aber als er einem wirklichen Derwisch begegnete, begriff, dass Erleuchtung keine Geistakrobatik, sondern alltägliche holistische Praxis ist…

  2. auch ich verstumme zunehmend und ich habe mich mehr als ertappt gefühlt, womöglich auf eine erst noch näher zu qualifizierende art und weise verstanden, was mit mir los ist, als ich deine ausführungen las, die mit den worten beginnen: “Die Anzahl der Ereignisse, die mich verstummen lassen, nimmt täglich zu.”

    je verstummter, desto dankbarer bin ich über deine beiträge und jene, die ihr dankenswerterweise um euch versammelt: ob „ausrotten“, grüneklees faschismus-anleitung oder die jüngsten einträge gestern und vorgestern („gift“ und „das imperiale ego“) – ganz wunderbare, bewegende texte, für die ich mich heute einmal wenigstens auf diesem wege herzlich bei dir und bedanken möchte!

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