In meinem letzten Beitrag „Gift“, in dem es um gut getarnte Formen von Faschismus in der gegenwärtigen Kultur ging, habe ich vom eingebildeten Recht auf Begünstigung gesprochen, von dem unsere Gegenwartskultur mehr und mehr beherrscht wird. Von „einem Denken, das auf der Setzung fusst, es gäbe geboren Höherwertige“ (=Berechtigte), woraus folgt, dass der Rest als Ausschuß anzusehende Andere sind. Ist die Frage aus der Luft gegriffen oder verzeichnen wir im Verhalten unserer Mitmenschen derzeit einen grundlegenden Wandel?
Bevor wir in den kommenden Tagen zwei Thesenpapiere veröffentlichen – “Wie alles anfing – Die Straßburger Thesen” des französischen Autonomen mit dem „nom de guerre“ Moses Dobruška, sowie das Papier „Global Science – Zehn Thesen zur Weltauffassung im 21. Jahrhundert“ von Nadim Sradj und Gunther Sosna – hier einige grundsätzliche Überlegungen.
Schaut euch bitte um. Dreht euch dazu einmal 360 Grad im Kreis und fragt dabei: was ist aus meinem Lebensumfeld geworden? Was erkenne ich wieder und was ist anders? Auf welche Art anders?
Ich versuche nicht, euch auf Dinge hinzuweisen, die gänzlich neu oder vollkommen verschieden sind von allem je zuvor. Für diese Form von Andersartigkeit gibt es womöglich (noch) keine Worte, keine Kategorien, auch wenn ihr merkt, sie ist schon da.
Ich probiere euch lediglich für den Grad der Radikalisierung in unserer Gesellschaft zu sensibilisieren. Ich spreche hier von der Radikalität der augenscheinlich ganz normalen Leute. Ruhig bleiben. Die Radikalität der augenscheinlich ganz normalen Leute ist weder unverständlich noch radikal neu. Doch sie ist final. Das Radikale geht dem Ende des Bisherigem voraus. Leider nur sehr kurz voraus.
Aber wartet. Vielleicht lohnt eine schnelle Auflehnung gar nicht. Vielleicht ist es um das Bisherige gar nicht schade und sein Ende wünschenswert, gar eine Chance?
Radikales räumt die bis dahin gut mit Bewuchs bestandenen, bisher für lebenswert gehaltenen Räume restlos leer: es reisst, wie der lateinische Wortstamm radix sagt, den bestehenden Bewuchs mit der Wurzel aus.
Wie viele solcher verwüsteten Gelände seht ihr gerade bei eurer 360-Grad-Drehung?
Für alle, die sich nicht mit der Wüstung ringsum abfinden wollen: Es drängt. Wir haben wenig bis keine Zeit, unseren Umgang mit dem wilden Nichts zu erlernen. Wir müssen intuitiv und mit aller Kraft reagieren. Selber radikal werden. Aber dabei sind wir in bester Gesellschaft.
Wie verhalten sich unsere Bekannten? Unsere Verwandten? Die Leute, auf die wir uns blind verlassen zu können glaubten? Sind sie „wie immer“ oder hat sich etwas verändert? Sind sie nach all den Einschlägen der letzten Jahre die Gleichen geblieben? Oder sind sie kriegstauglich geworden durch die Unzahl bedrohlicher Situationen, denen sie sich ausgesetzt fühlten? Radikale aus Notwehr?
Der Grad der Radikalisierung drückt sich vor allem in der Veränderung persönlicher Beziehungen aus. Doch man verkennt die Bedeutung der Veränderung, wenn man sie lediglich für persönlich, also privater Natur hält. Nichts daran ist individuell. Alles ist Symptom. Ausdruck sozialer Destruktion.
Zunächst das Ich. Es steht weiter vorn als je zuvor. Ich kann es nicht beurteilen. Ich habe nichts falsch gemacht. Ich glaube, das bildet ihr euch ein. Ich habe nichts dergleichen bemerkt. Ich war daran nicht beteiligt. Ich vertraue den Experten – warum sollten sie uns belügen? Ich kann daran nichts Verkehrtes finden. Ich war schon immer so. Das habe ich nie gesagt. Ich trage daran keine Schuld. Der Ich-Modus spricht allen Anderen das Recht auf Existenz ab.
Dann das Du. Du schätzt das falsch ein. Du solltest darüber nachdenken, ob Du verantworten kannst, durch dein Verhalten andere zu riskieren. Das ist das maskierte „ich“.
Es unterstellt Dir “Anti-(x)” zu sein, obwohl Du für etwas bist – allerdings für etwas Anderes als das Ich. Es erklärt Dir, warum dein Verhalten inkorrekt ist.
Das ist das Ende jedes Gesprächs. Es verneint die zentrale Funktion der Auseinandersetzung. Wer die Relativierung der eigenen Meinung von vorn herein ausschließt, unterhält sich nicht. Er befiehlt. Oder verurteilt, von vornherein. Deswegen ist die Frage nach deinem Verhalten immer die Frage nach deiner Unterwerfung unter das Gesetz des Befehlenden. Mitmachen. Nicht ausscheren. Unterwerfung ist die Ader, aus der unser Wirtschaftssystem sein Gold zieht.
Was denkst Du denn, warum das notwendig ist? Die Ausrede auf die Notwendigkeit, auf das Unabdingbare ist der zentrale Modus der Inquisition. Mit Inquisition werden alle aus dem Weg geräumt, die das ungestörte Funktionieren des Ich-Modus stören. Die Inquisition lebt davon, das alles, mit was sie dich konfrontiert, ein Fehler von Dir ist. Das Inquisitorische ist das zentrale Merkmal von Beherrschung. Die peinliche Befragung will jeden Widerspruch im Keim ersticken. Mit Pein. Letztes Ziel der peinlichen Befragung ist die Auslöschung des Körpers. Damit sind alle Fehler korrigiert. Tote widersprechen nicht. Nur wer zu allem schweigt und überall mitmacht, ist ein guter Bürger. Der beste denkbare Bürger ist daher ein Toter. Das ist die Logik des imperialen Ego.
Eine Antwort auf „Das imperiale Ego“