Teil 1
Wie die neue EU-Superbehörde, das “fusion center” aus EU-Geheimdienst (INTCEN), EU-Polizei (Europol) und Terrorabwehr, Antifaschisten und Anarchisten zu den gefährlichsten Staatsfeinden der Gegenwart erklärt.
(Der französische Text des Graffito auf dem Foto oben lautet in Deutsch etwa: “Wer Elend säht, erntet Wut“. Teil 2 erscheint morgen. Vorschau am Ende dieses Textes.)
I. Die Hemmungslosen
Wenn politische Systeme sich wandeln, wenn Nationen noch in ihrer alten Hülle stecken, die ihnen plötzlich eng und hinderlich vorkommt, wenn sie durch den großen Wandel, den Übergang zum Neuen notwendig in die Klemme geraten, weil nicht alles glatt läuft, dann – so lehrt uns die Geschichte – suchen sie nach einem Sündenbock: einem Schuldigen, dem sie ihre Probleme in die Schuhe schieben können.
So hat die EU mitten in der Pandemie einen gefährlichen, bisher zu wenig beachteten Feind im Innern entdeckt: den Anarchisten.
Expertenrunden auf höchstem Niveau konstatieren: Seit dem Sommer 2020 sei eine Bedrohung für die Demokratie entstanden. Sie heisse VLWAE (Violent Left Wing and Anarchist Extremism = gewalttätige Linksextreme und Anarchisten). VLWAEs verüben zwar laut einem aktuellen EU-Papier keine Anschläge – aber der Aufwand, mit dem der Feind kenntlich gemacht wird, soll uns denken lassen: “noch nicht – aber bald!“.
Ganz neu ist die Idee nicht – hatte Trump doch schon unentwegt behauptet, dass das Festhalten an anarchistischen und antifaschistischen Ideen selbst eine Art Verbrechen wäre, das mit Brandstiftung gleichzusetzen sei.
Dabei sprechen die deutschen Zahlen eine ganz andere Sprache.
Dem sog. “rechten Extremismus” ordnet der deutsche Verfassungsschutz (organisierte Neo-)Faschisten, Reichsbürger, “Selbstverwalter”, sowie Veranstalter von Rechtsrock-Festivals und deren Gewalttaten zu. Unklar bleibt in dieser Statistik, ob sie auch die Taten von selbsternannten “Heimatschutz”-Einheiten, KSK-Mitgliedern mit rassistischem Denken und Umsturz-Plänen für den “Tag X”, Querdenker mit faschistoidem Gedankengut, entsprechende Polizei-“Chatgruppen” und deren Behörden-nahe Unterstützer den vorgenannten Rechtsextremisten zurechnen.
Im aktuellen VfS-Bericht von 2021 heisst es, Faschisten seien auf dem Vormarsch:
unter den 33.300 insgesamt der Szene zugerechneten Personen gäbe es neuerdings 13.300 Gewalttäter: 5% mehr als im Vorjahr. Hinzu kämen 20.000 Reichsbürger und Selbstverwalter.
Ergibt in der Summe rund 53.000 Personen, die dem Kreis der vom VfS als “rechtsextrem” Bezeichneten zugerechnet wird.
Demgegenüber stehen auf der Seite der als antikapitalistischen oder imperialismus- und globalisierungsfeindlich eingestuften Linken laut BfV 9600 gewaltorientierte sog. “Linksextreme” (bei 34.000 zum Gesamtpersonenkreis zählenden Personen) – darunter 1.200 Anarchisten.
22.357 rechtsextremistische (also als rassistisch, faschistisch oder staatsfeindlich zu bewertende) Straf- und Gewalttaten stehen gegen 6.632 anitkapitalistisch motivierte Straftaten, die der VfS in seiner eigenen Diktion analog zu rechts als “linksextremistisch” ansieht. Die Analogie ist dem “Hufeisenmodell” geschuldet, einer staatlichen Doktrin, gemäß der die Extreme sich annähern an ihrem radikalen Ende, an dem die beiden Ideologien angeblich unterschiedslos würden.
Die schlagenden Zahlen halten Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) nicht davon ab zu behaupten: „Wir sehen aktuell, dass die (linke) Gewalt sich hemmungslos gegen die Staatsmacht, aber auch gegen politische Gegner richtet. Wir müssen im Blick behalten, ob diese Radikalisierung sich zu terroristischen Strukturen hin entwickelt.“
Die ideologischen Antriebsstrukturen der Behördenmitarbeiter, so weit abweichend von den Zahlen zur einer besonderen Gefährdungseinschätzung der “Anarchisten” zu gelangen, sind damit noch nicht aufgeklärt – sie liegen aber deutlich auf der Linie des längst vergangenen “Kalten Krieges”.
In diesem Klima verblüfft nicht, dass aktuell die Wiedereinführung eines Radikalenerlasses diskutiert wird, mit dessen Hilfe – und in Reaktion auf den vergangenen Sommer 2020 – “Extremisten aus dem öffentlichen Dienst” entfernt werden sollen.
Die Logik der Kommunistenjagd lautet früher wie heute: wenn man die Antifaschisten und Anarchisten nicht mit der Wurzel ausrottet, wachsen sie beständig weiter. Ein gefährlich sich vermehrendes Unkraut, das Samen streut und sich in jeder Ritze des Systems verkrallt.
Doch wir können gleich wieder ausatmen!
Die europäische Supermacht, das “fusion center”, bestehend aus dem EU-Geheimdienst INTCEN, Europol und der EU-Arbeitsgruppe Terrorabwehr, sind bereits auf dem Plan, den Untergang des Abendlandes durch “unstrukturierte Gruppen” abzuwenden.
Aber woher kommen plötzlich all diese unstrukturierten Gruppen? Wer erinnert es noch? Was war eigentlich los im Sommer 2020?
II. Die Querulanten
Auf einem Treffen am 7. Juli 2021 hat die europäische Polizeibehörde Europol mit Sitz in Den Haag eine Aufforderung an alle europäischen Regierungen ergehen lassen, mehr Informationen zu sammeln über eine neue gewalttätige linksextreme Anarchisten-Bewegung, die im Sommer 2020 das erste Mal sichtbar geworden sei.
Bevor ich ins Detail gehe und Einzelheiten aus den nun bekannt gewordenen Papieren über die Sitzung näher untersuche, möchte ich mit einigen Gedanken zu den Ursachen für den allgemeinen verbreiteten Hass auf Anarchismus beginnen.
Angesichts der Tatsache, dass sich das 21. Jahrhundert bislang nicht gerade als Zeitalter eines neuen Anarchismus profiliert hat, wäre zunächst zu fragen: welches genaue Verständnis herrscht in der europäischen Polizeibehörde, wenn sie den Begriff “Anarchie” im Zusammenhang mit dem Wiedererstarken einer bekämpfenswerten Protestbewegung benutzt?
Woraus resultiert die Bedrohung für die europäische Demokratie, die so gefährlich scheint, dass man eine konzertierte Aktion aller Dienste und Staaten planen muss? Welche Indizien rechtfertigen die Bezeichnung des angeblichen neuen Anarchismus als Terrorismus?
Ein Hinweis könnte die Zeitangabe darstellen, mit der Europol selbst das Phänomen versucht, seinen historischen Wurzeln nach einzuordnen: Sommer 2020.
Was hat uns der Sommer 2020 Neues gebracht?
Das radikal Neue des Sommers 2020 ist hinlänglich bekannt. Ich zähle es deswegen nur schlagwortartig auf:
Ausnahmezustand, Hausarrest in sehr vielen europäischen Staaten, Einschränkung der Reisefreiheit, Kontaktverbote unter Familienmitgliedern, Freunden und Kollegen, von Polizeikräften durchgeführte Isolierungen von Menschen in Wohnblocks, bei denen der Verdacht bestand, dass sich einer oder mehrere der Bewohner mit einer neuen, als höchst infektiös angesehenen Krankheit hätten infiziert haben können. Kurzum: Zwang auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Alltags – in einer neuen, historisch unbekannten Dimension.
Wer mehr dazu lesen möchte, dem empfehle ich den grundlegenden Text “Wir haben gesehen” von Julien Coupat.
Dass diese Einschränkungen, verordnet durch unsere Regierungen, auf Seiten der Bevölkerung nicht ohne Reaktion bleiben würden, ist verständlich. Es entstand quasi über Nacht eine ganze neue, breit angelegte, politisch schwer zu taxierende Bewegung, die den Regierungsauflagen kritisch gegenüber steht: angeblich ein Sammelbecken für Querulanten und gefährliche Chaoten. Aber sind das wirklich Anarchisten?
III. Die Polizisten
Versuchen wir diese Situation einmal durch die Brille der Polizei zu betrachten. Wenn sich aufgrund des ausgeübten Drucks Unmutsbekundungen öffentlich zeigen, wie ordnet man diese ein?
Denn nächst der Polizeiarbeit “an der Front” (beim Niederschlagen von Unruhen oder Zerstreuen von Kundgebungen) besteht wirkungsvolles, in die Zukunft gerichtetes, Konflikte vermeidendes Handeln der Polizei vor allem in statistischer Einordnung.
Würde man die Reaktion der Bevölkerung im Sommer 2020 nun, wie weithin in den Medien geschehen, als rein rechts (“Querdenker = Nazis”) einstufen, würde folgerichtig in der Statistik die Anzahl rechter Gewalttaten in die Höhe schnellen.
Würde man sie aber als links einstufen, wäre man mit dem Problem konfrontiert, dass eine linke Bewegung von bisher ungeahnter Dimensionen auf dem Weg wäre, Europa zu erschüttern.
Beides ist politisch sicher nicht gewollt.
So bleibt als goldene Mittelweg, die politisch schwer zuzuordnende Widerstandsbewegung gegen die Corona-Beschränkungen als “anarchistisch” zu bezeichnen, sind doch bei Rechten und Linken die Anarchisten gleichermaßen unbeliebt. Zudem ist das Unbekannte der Proteste (Wer sind die? – Staatsfeinde!) pauschal erfasst.
Nun liegt – historisch betrachtet – eine der letzten rein anarchistischen motivierten Gewalttaten, die tatsächlich weltgeschichtlichen Rang besassen, fast 100 Jahre zurück. Damals kämpften im spanischen Bürgerkrieg Anarchisten gegen den Franco-Faschismus und übernahmen – übrigens nach einer legal gewonnenen Wahl – für eine zeitlang Regierungsverantwortung in spanischen Metropolen, wie Barcelona. Sie versuchten, Europa vom Geschwür des Rechtsradikalismus zu befreien.
Die gängige, wenig reflektierte Reduzierung des Anarchismus auf Terror und Gewalt, auf bombende bärtige Russen und Verwaltungen niederbrennende Anarcho-Dichter, sowie an Baustellenzäunen oder in Innenstädten marodierende Chaoten, ist mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts zumindest äußerst fragwürdig.
Mit diesem Hinweis sollen zahllose Anschläge und Invektiven gegen gewerkschaftliche Arbeit, die wir den verschiedenen anarchistischen Gruppen weltweit zurechnen, nicht klein geredet werden. Aber nichts davon hat am Lauf der Geschichte etwas grundlegend geändert, noch wurde ein Staat von Anarchisten gestürzt, wie in Russland das Zaren-System vor 120 Jahren. In diesem Punkt schaut das Konto der Faschisten anders aus.
Wer also nicht in dumpfes Nachbeten von Klischees verfallen möchte, wie Ernest Hemingway sie mit “Wem die Stunde schlägt” auf alle Zeiten in die Weltliteratur eingeschrieben hat, in dem er an zentraler Stelle des Romans, an der es um die Verantwortung für Gewalttaten geht, sie den Anarchisten zuschreibt, die er als stets volltrunken, verblödet, apolitisch, blutdrünstig und gewissenlos beschreibt – wer also einen etwas differenzierteren Blick auf die historische Situation wagt, wird vielleicht doch zu der Erkenntnis gelangen, dass die Gleichsetzung von Anarchismus und sinnloser Gewalt auf einem politisch motivierten Ausgrenzungsversuch aller politischen Parteien beruht.
IV. Die Denkfabriken
Um dem Verdacht der Antiquiertheit des Anarchismusvorwurfs vorzubeugen, führt das Papier zur Vorbereitung einer Anti-Anarchie-Kampagne des Council of the European Union vom 28. Juni 2021, mit dem Titel “EU action to counter left-wing and anarchist violent extremism and terrorism: Discussion paper”, auf Seite 6 und 7 zahlreiche Beispiele anarchistischer Gewalttaten aus der jüngsten Vergangenheit an, wie die G20-Unruhen in Hamburg 2017, sowie weitere europäische Beispiele (“Solidaritäts-Anschläge” für politische Gefangene auf Geldautomaten in Spanien und Griechenland 2018 und 2019), die sämtlich (ohne jeden Beleg) der “anarchistischen Szene” zugerechnet werden.
Eine wiederholt genannte Quelle ist das Papier “The Right-wing Terrorism Threat in Europe” von Seth G. Jones, Catrina Doxsee, Nicholas Harrington, ein Bericht des Center for Strategic and International Studies CSIS, Washington, Transnational Threats Project (ein dem Homeland Security nahestehender Think Tank), in dem Parallelen aufgemacht werden zwischen rechstterroristischen Aktivitäten und “dezentral operierenden soziopolitischen Systemen wie Anarchismus”.
Ein längerer Abschnitt dieses amerikanischen Think-Tank-Papers, das angeblich Rechtsterrorismus verstehen helfen soll, widmet sich dem anarchistichen Linksterror und behauptet mit Bezug auf die Quelle Europol (so schließt sich der Kreis der Beweise – man belegt sich gegenseitig) und deren European Union Terrorism Situation and Trend Reports von 2018 und 2019:
“Die meisten linksterroristischen Netzwerke in Europa sind anarchistisch und haben ihren Sitz in Griechenland und Italien. Mit improvisierten Sprengsätzen und anderen Waffen haben sie es auf Beamte der Strafverfolgungsbehörden, Mitglieder der Justiz, rechtsgerichtete Netzwerke, Banken und andere Finanzinstitute, Unternehmen und Journalisten abgesehen. Wie die meisten Terrornetzwerke nutzen sie Internet und soziale Medienplattformen, um sich zu Anschlägen zu bekennen, Propaganda zu verbreiten, Spenden zu sammeln und Unterstützer zu rekrutieren.”
Machthaber aller politischer Couleur waren schon immer beunruhigt, wenn sogenannte “Unorganisierte”, solche, die keinerlei Hierarchien anerkennen wollten, die politische Tagesordnung mitbestimmten. Um die Bedrohung greifbar zu machen, listet man möglichst viele “Parteien” auf. Das verdeutlicht dann den Grad der Organisiertheit der Unorgansierten. Dass man gegen Anarchisten etwas unternehmen muss, dafür ließ sich schon immer quer über alle Fronten Einigkeit erzielen.
Angesichts der wilden Entschlossenheit, den Anarchismus endgültig kaputtzumachen, drängt sich der Verdacht auf, dass die Idee, alle Formen von Politik, die auf Hierarchie und Führerprinzip beruhen, seien widernatürlich und überflüssig, vielleicht doch so verführerisch sein könnte, dass – wenn sie sich erst einmal in den Köpfen der Bevölkerung festgesetzt hat – sie eine echte Bedrohung für das patriarchale System darstellt.
V. Die Heimatschützer
Schon die Tatsache, dass EU-Behörden für die Analyse der Lage in Europa ein amerikanisches Think-Tank-Papier heranziehen, legt nahe, dass die Hetzjagd auf Antifaschisten und Anarchisten nicht auf Europa beschränkt sein wird.
Ich zitierte aus einem Beitrag der Autorenkollektive It‘s Going Down und CrimethIncin der aktuellen Ausgabe der Roten Hilfe Zeitung 3-2021, S. 18 ff.
Unter dem Titel “Der Ratscheneffekt – Wie Homeland Security rechte Gewalt herunterspielt” ist folgendes zu lesen:
“In einer Verlautbarung stellte der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden am 28. Juli (2020) Anarchisten mit Brandstiftern in eine Ecke und forderte, dass diese strafrechtlich verfolgt werden sollten. Damit stimmt er Trumps wiederholter Behauptung zu, dass das Festhalten an anarchistischen Ideen selbst eine Art Verbrechen sei, das mit Brandstiftung gleichzusetzen sei.”
Doch damit nicht genug:
“Laut der Beschwerde des Whistleblowers Brian Murphy haben der kommissarische DHS(Heimatschutz)-Sekretär Chad Wolf und sein Stellvertreter Ken Cuccinelli ihr Ministerium angewiesen, Berichte so zu ändern, dass sie Trumps Panikmache über linke Gewalt stützen. Im Beschwerdetext heißt es:
Während mehrerer Treffen zwischen Ende Mai 2020 und 31. Juli 2020 machte Murphy geschützte Angaben gegenüber Wolf und Cuccinelli in Bezug auf Amtsmissbrauch und unsachgemäße Verwaltung eines Geheimdienstprogramms in Bezug auf nachrichtendienstliche Informationen über ANTIFA [sic] und anarchistische [sic] Gruppen, die in den Vereinigten Staaten operieren. Bei jeder Gelegenheit wurde Murphy von Wolf und/oder Cuccinelli angewiesen, Einschätzungen zu ändern, um sicherzustellen,dass sie mit den öffentlichen Äußerungen von Präsident Trump zum Thema ANTIFA und anarchistische Gruppen übereinstimmen.
Außerdem wies Cuccinelli Murphy an, Berichte über die Organisierung von White Supremacists zu ändern, um die Bedrohung weniger schwerwiegend erscheinen zu lassen und Informationen über die Bedeutung gewalttätiger linker Gruppen“ hinzuzufügen.”
Lesen Sie morgen an dieser Stelle weiter über
Die Zurichtung der Bürger
Eine Antwort auf „Das Vorzimmer zum Terrorismus“