Der Handschuh

Gestern Nacht

Schlimmer noch als Lobreden sind Nachrufe. Zugleich mit seinem Leben verliert der Verstorbene die Gelegenheit, sein Recht auf Richtigstellung auszuüben. Ich wollte deswegen nie für die notwendigerweise entstehenden Ungerechtigkeiten eines Nekrologes einstehen müssen.
Ich mache eine Ausnahme, ausgerechnet für diejenige Freundin, mit der mich eine ähnlich starke Furcht vor falscher Nachrede verband und die selbst ohne Unterlaß das Bild von sich in den Köpfen ihrer Freunde überwachte, wobei sie nach eigener Auskunft nicht selten ein “Atom von Indigniertheit” verspürte. Die Rede ist von Marie-Luise Scherer. Sie war die oft gekrönte „Königin der Reportageliteratur“.
Gustav Seibt sagte ihr nach: „Scherer kann alles.“ Dagegen steht das Wort der Autorin. „Ich kann nicht, was ich gern könnte.“

Zeilenfurcht

Von allen journalistischen Formaten ist die Reportage am weitesten entfernt von der Meldung, dem tagesaktuellen, schnell erzeugten Text, der in Masse vorkommt und das Hauptgeschäft des Zeitungsschreibers ist. Die Meldung ist spontane Reaktion.
Die Schererschen Reportagen könnte man in Analogie dazu als Aktion verstehen, als eigeninitiatives Vorgehen aus gutem Grund. Nicht zufällig sind die meisten ihrer Texte „selbst beauftragt“.

Gute Reportagen sind vorbedacht und frei von Reflexen. In ihnen ist jedes Wort unter Beobachtung gestellt. Nichts kommt schnell hervor. Deswegen sind Scherers Reportagen eng mit der Dichtkunst verwandt. Scherers entspanntes Verhältnis zur Herstellungszeit adelt sie insbesondere in einem auf schnellen Verbrauch angelegten Info-Geschäft. Es verschiebt das Verfallsdatum ihrer Texte ins Ewige. Sie sind das präzise Gegenteil der auf Nachrichten getrimmten Veröffentlichung, über die der berüchtigte Volksmund sagt, nichts sei älter als die Zeitung von gestern.

Die Berufsbezeichnung Reporter ist eng mit dem Namen Egon Erwin Kisch verbunden und durch ihn mit hohem Tempo. Kisch selbst hat die beiden Begriffe untrennbar verbunden, so dass bis heute jeder, der Reporter sagt, ihn rasen sieht. Scherers Werk ist der Beweis, dass es auch anders geht.

Nach Kisch ist ein wichtiger Preis für Reportageliteratur benannt. Den hat Scherer gleich zweimal erhalten. Zuerst für den Text „Alltag einer Trinkerin“ und dann noch einmal für „Auf deutsch gesagt: gestrauchelt“, eine Fixergeschichte.
Kein Abgrund scheint ihr fremd zu sein. Es sind Fälle, die ihr sicher ans Herz gehen. Sie hat dies jedoch mit dem sprachlich schlanken Pathos der Präzision neutralisiert. Nichts in diesen meisterlichen Miniaturen drängt sich auf.

Reportagen sind eine wirtschaftliche Katastrophe in einer auf Kosten-Nutzen-Rechnungen geeichten Schreibkultur. Sie sind das Ergebnis zeitaufwändiger Recherchen und hoch konzentrierter „Silbenarbeit“. Scherer sagt: jeder Satz müsse sitzen wie ein Handschuh. Diesen Vergleich kann heute nur noch verstehen, wer schon einmal eine Massanfertigung aus feinstem Hirschleder über die eigenen Finger gestreift hat.

Scherers Texte sind Produkte der Genauigkeit, oft von einer physisch fühlbaren Zeilenfurcht beherrscht, von der Angst, für eine Wendung, die der genauesten Prüfung am Ende nicht standhält, Platz zu verschwenden. Nicht selten hat sie, die fünfundzwanzig Jahre lang beim „Spiegel“ in Hamburg arbeitete, nur einen einzigen Text pro Jahr veröffentlicht.

Das ist – neben der schweren Arbeit der maximal möglichen Verdichtung der Sätze – auch noch einem weiteren Aspekt ihres Arbeitsstils geschuldet. Ohne zähes Dranbleiben sind solche Ergebnisse kaum zu erringen. Scherer ist niemand, der das Gebüsch teilt, um sich unbemerkt dem Objekt ihres Interesse zu nähern.

Verschwinden

Das Aufspüren, das dem „investigativen Journalismus“ seinen Namen gibt, hat bei ihr, wie sie mir einmal erzählte, viel mit dem langwierigen Prozess des Verschwindens zu tun.

Die Personen, denen sie beruflich begegnet, müssen zunächst einmal vergessen, dass sie vom „Spiegel“ kommt. Dann, so vermute ich, mussten sie sich an das insistierende Fragen gewöhnen, das für Scherer so typisch war.

Nach einiger, aber eben sehr langer Zeit mögen sie, und das scheint mir die höchste Kunst der Recherche gewesen zu sein, das Nachbohren als Fragen betrachtet haben, die sie sich selber stellen.

Ideal verlief es, sagte sie mir einmal, wenn sie als Beobachterin gar nicht mehr wahrgenommen, fast als Möbel, wie zum Inventar gehörig empfunden wurde. Das zu schaffen ist, wenn ich mir diese freche Anmerkung erlauben darf, für eine Kettenraucherin eine besondere Glanzleistung.

Das Verschwinden ist ganz sicher eine Form von Respekt, den sie jenen von ihr aufgespürten Personen zollt, gewissermassen eine mindeste Wiedergutmachung für das Eindringen in deren Privatsphäre. Deswegen ist die typisch Scherersche Schonungslosigkeit niemals eine „Enthüllung“.

In dem schmalen Sammelband „Unter jeder Lampe gab es Tanz“ heisst es:
„Leider gibt es für das Schreiben keine dem Aquarellieren vergleichbare Technik, mit der man zum Beispiel nur einem Hut feste Konturen gibt, die über dem Hut hinwegziehenden Wolken dagegen durch einen wässrigen Pinselschlag entstehen lässt. Beim Schreiben aber dehnt sich jedes Wort über die Strecke der von ihm benötigten Buchstaben aus. Auch die Randbemerkung schlägt sich als Zeile nieder, jeder Unfug und auch das Bedauern über ihn.“

Der letzte Satz

Mit nicht geringem Stolz erinnere ich ihre erste Reaktion auf meinen Roman „Unterdeutschland“. Sie fuhr ein wenig nervös mit einem Finger über die Zeilen des ersten Kapitels, als könne sie die Schreibqualität ertasten. Ihr Prüfergebnis: „Dicht geknüpft wie ein Orientteppich.“ Amüsiert notierte ich das noch am gleichen Tag. Als ich sie Monate später fragte, ob wir den Satz für den Rücken des Buches verwenden dürfen, war sie sehr unzufrieden damit, fand ihn unausgewogen, nicht präzise genug. Zweimal haben wir uns getroffen, um nachzubessern. Nach mancher Abschweifung und Variante, notiert auf dem Rand der FAZ, die stets auf ihrem kleinen Küchentisch lag hinter der Glastür zum Hof, wo der Besucher am Portrait der vielleicht erst dreissigjährigen Dichterin vorbei den Krähen auf dem Dach des Gartenpavillons bei der Arbeit zusehen konnte, kamen wir am Ende wieder beim spontan Gesprochenen an. Der Handschuh war fertig.

Eine Antwort auf „Der Handschuh“

  1. Handschuh. Hat Hand und Fuß. Kältezonen, die sich wärmen lassen durch Text, durch Nähe der Beobachtung. Danke für den Handschuh, ich hebe ihn gern auf. Auch Hegelianisch.

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