Diffuse Angst – ein politisches Nervengift

Beitrag Nummer 2 in der Reihe „Enquete – analytische Präparate für die post-pandemische Gesellschaft

In dieser Reihe erscheinen auf meinem Blog Auszüge aus Texten, die als geistiges Rüstzeug für die Bewältigung aktuell anstehender Probleme dienen sollen. Keine “schwierige Lage” ist so neu und einzigartig, dass sie nicht schon Vorgänger gehabt hätte, aus deren bereits erfolgter gesellschaftlicher Bearbeitung wir etwas lernen könnten. Insofern ist “Enquete” gegen das Vergessen historischer Leistungen gesetzt. Enquete hilft uns, nicht gleich alle Errungenschaften der aufgeklärten Zivilisation, des in Generationen-übergreifender Arbeit erkämpften Humanismus zu opfern, nur weil uns eine nächste Seuche überfällt. Mit einer kurzen Einführung werden die Texte jeweils aktuell kontextualisiert.

Am 4. Juli 2020 habe ich hier einen Text veröffentlicht, in dem es um den Verdacht geht, dass die Krise 2008 kein Ergebnis einer Art von Naturkatastrophe namens Finanzkapitalismus gewesen ist, sondern schlicht der Ersatz für Krieg. Nur wenn zyklisch massiv Werte vernichtet werden, lässt sich unser Wirtschafts-System und das für sein Funktionieren bitter nötige endlose Wachstum realisieren. Bis vor einem Jahrundert besorgte das der Krieg – einer alle 25 Jahre. Die stetige Verfeinerung der Kriegstechnologie („technical superiority“ als Weltmacht-Faktor), sowie der Umstand, dass durch sie Konflikte tendentiell weltumspannend wurden, hat das Prinzip der zyklischen Wertvernichtung durch Krieg an seine Grenzen gebracht. Der nächste Krieg nach dem zweiten Weltkrieg hätte der letzte sein können. Die Auslöschung der Menschheit auf Knopfdruck schien mit ABC-Waffen möglich. Menschen aber sind auch für jede noch so frei drehende Wirtschaft „systemrelevant“.

Was also tun? Wie setzt man nach dieser Erkenntnis die gigantische kybernetische Maschine anders ein, jene Maschine, die bis 1989 das „Gleichgewicht der Schrecken“ garantiert und verhindert hatte, dass die beiden ideologischen Hemisphären sich gegenseitig vernichten? Nichts lag näher, als die Kybernetik, die „Steuerung“ hinter der Vernichtungsmechanik, direkt für die Wirtschaft zu instrumentalisieren. Solchen Überlegungen oder Phantasien (siehe hierzu auch Frank Schirrmacher, „Ego„) gingen wir von 2008 etwa bis 2012 nach. Wir fragten uns, wie nach dem „boom“ (alles kommt auf den neuen online-Markt) und der „bubble“ (e-commerce-Blase in den Nuller Jahren) der „blast“ (das Zerplatzen der Blase) sich auswirken würde? Wie unsere Regierungen darauf reagieren, dass der Druck der Explosion viel von unserer gesellschaftlichen Solidität wegbläst. Doch „nach dem Sturm“ herrschte eine merkwürdige, eine geradezu unheimliche Ruhe.

Wir wunderten uns, warum niemand eine „Enquete„-Kommission einberuft und die zunehmende Umverteilung von Reichtum und die sukzessive Abschaffung von bürgerlichen Rechten wieder einfängt. Nichts passierte.

Es fühlte sich an, als hätte wir alle eine osmotische Pumpe eingebaut, durch die langsam ein ideologisches Pharmakon in uns einträufelte, das uns unbemerkt zur Akzeptanz des nicht Hinnehmbaren verführte.

Entsprechend kritische Diskurse verhallten praktisch ungehört. Der Betrieb ging weiter, als sei nichts geschehen.

Vier Jahre lang angehaltener Atem, während um uns herum der „Wohlfahrtsstaat“ langsam zerbröselte. Während immer autoritärere Männer in die Regierungsspitzen aufrückten. Erst heute, rückblickend, wissen wir: das war nur das Vorspiel.

Das „Monstrum vor unserer Tür“ (Mike Davis) klopfte gerade zum ersten Mal an.

Damals hörten wir zum ersten Mal die Rede von der „diffusen Angst“: wir kapierten, dass etwas falsch läuft, aber es war zu komplex, um schlüssig zu erklären, was genau da falsch läuft oder wie man es wieder eingefangen bekommt. Heute sind wir mitten drin in der voll entwickelten Angst-Politik. Kaum einer merkt anscheinend, dass Gesundheit nicht das Thema ist.

2012 jedenfalls fingen wir, mangels jeglicher staatlicher Aktivität zur Aufarbeitung der Ursachen und Folgen der parallelen Staats-, Finanz- und Wirtschafts-Krise, selber an, etwas auf den Weg zu bringen. Experten zu suchen. Davon handelt der folgende Text-Auszug – der unseren selbstorganisierten Enquete-Bericht im Buch „Supramarkt“ (2015) einleitete und der hier erstmals auf Deutsch erscheint.

Der Zorn des Kapitals

2012. Das Kulturprogramm der EU hat uns Budget für ein künstlerisches Forschungsprojekt zur Krise bewilligt. Wir sitzen in Lüneburg an der Leuphana-Universität im gerade neu eingerichteten „arts program“ von Andreas Broeckmann. Wir lesen Ernst Fuhrmanns „Geld – Eine analytische Betrachtung“ (1929). Es geht um den Standardmann. Fuhrmann meint damit den Bauern der vorindustriellen Landwirtschaft, den Mann, der einige Hektar bearbeitet und seine Familie und eine Handvoll Städter, Arbeiter, Lehrer, Verwaltungsbeamte, Fabrikbesitzer, Bankiers mit ernährt. Der Standardmann ist die Grundrechengröße für Fuhrmann. Er ist die 1 in einem System, die alle(s) andere(n) zu Null werden läßt, wenn er in die Krise gerät. Fuhrmann versucht eine grundsätzliche, statistisch begründete Erdung im letzten Augenblick vor dem gigantischen Zusammenbruch der Wirtschaft.

Was wäre heute, mehr als 80 Jahre später, anders, wenn wir uns der gleichen Frage stellten? Womit füllen wir unsere Solarkochtöpfe, wenn der Bauer dicht macht, weil sich das Inkassobüro der Bank in die GPS-Navigation seines auf Pump besorgten Treckers einloggt und ihn vom Feld fährt? Wenn die Flugzeuge des Konzerns, der das Saatgut liefert, die unbezahlten Ähren chemisch löschen? Wo ist die Grenze, an der das Kapital seinem Zorn Einhalt gebietet?

Das kranke Rhizom

Wir haben eine Theorie. Wir: eine Gruppe von zwölf Wirtschaftsinformatikern, Juristen, Betriebswirten, Kulturwissenschaftlern, Künstlern beiderlei Geschlechts. Zwölf Gründe, warum wir zusammensitzen – eine Quersumme: ethische Probleme mit dem System. Dabei die Überzeugung: Es gibt gar kein System. Gar keine Wirtschafts-„Wissenschaft“. Es gibt nur Verabredungen. Marketing-Texte, die aufgesagt werden auf einer Bühne, zum Beispiel „Börse“ genannt. Oder: „Finanzdienstleistung“. Fairplay-Servicepakete. Zahlenzauber mit einer Zuckerhülle. Im Innern der Praline ein Nervengift, das alle geistig zerstört, die einmal dran gelutscht haben. Eine Vorderbühne voller Darsteller, die uns ablenken. Zwischen uns und den Orten der Entscheidung ein Orchestergraben voller Respekt einflößender „Instrumente“. Ein veritabe Festungsarchitektur: der Zugang baulich versperrt, vermutlich, damit nicht heraus kommt, wie hohl es hinter der Fassade ist. Über dem das Auge täuschenden Bauwerk ein Schnürboden mit versteckten Zügen, mit denen bei Bedarf in Windeseile das Bühnenbild ausgetauscht werden kann, um die Vorgänge in der Hinterbühne besser zu maskieren. Artisten, die Buchstaben jonglieren. AAA plus, BB, DD minus. Kindersprache, die nach der herbeifantasierten infantilen „Logik“ der künstlichen Differenz aus Werten Defizite macht.

Schon Emile Zola sagte in seinem Roman „Geld“ vor mehr als 100 Jahren: Börse, das ist, als wäre man im Theater! Wenn etwas schief geht, flitzen die Akteure durch winzige Wurmlöcher in den „Brettern, die die Welt bedeuten“ von der Vorderbühne hinunter in das Dunkel der Unterbühne und bedienen dort munter die Hubpodien, auf denen ihre Doubles schnell wieder hoch ins Rampen-Licht getragen werden.

Finanzmarkt, das ist ein Schauerstück wie im Mittelalter, mit „offshore-Rittern“, viel Verbrechen und ohne jede Sühne. Es gibt Einzeltäter, große Darsteller, die Bewunderung erzeugen, noch kurz bevor sie vor Gericht stehen und lügen, dass sich die Balken biegen müssten. Es gibt entdeckte, aber verschwiegene und unentdeckte Verbrechen. Hingenommene, als selbstverständlich geltende und zum guten Ton gehörende Verbrechen. Politisch gewollte, gut organisierte Verbrechen, die sich ausdehnen, bis sie Gesetz werden. Ein unüberschaubares Geflecht. Schließlich so groß, fast identisch mit der „Gesellschaft“. Das kranke Rhizom.

„Wir haben einen Verdacht“ würde besser zu Verbrechen passen als „Wir haben eine Theorie“.

Zwölf Leute lesen, um den Verdacht einzugrenzen. Um wenigstens einige Darsteller mit bürgerlichem Namen zu benennen, damit es nicht beim Anonymen „sie“ bleibt, die „es“ so eingefädelt haben, woran man wegen der Unfassbarkeit des Ganzen nichts ändern kann. Wir wollen einige ihrer Tricks enthüllen, damit die Angst vor dem übermächtigen System verschwindet. Damit wir wenigstens wissen, auf wessen Konto die Sache geht, wenn wir schon verlieren. Damit wir beweisen können: es gibt keine Katastrophe, keine Naturgewalt. Sondern nur Macht und Umverteilung.

Zwölf Leute, die bislang den Namen Fuhrmann nicht kannten, bis er jetzt wichtig wurde. Keiner, der Batailles „Ökonomie der Verschwendung“ gelesen, der mit Zolas „Saccard“ (Titelfigur im Roman „Geld“) um Anleihen gepokert hätte. Silvio Gesell: klingt entfernt vertraut. Aber wie funktioniert eigentlich Freigeld? Es gilt viel zu klären, wenn wir einmal aus dem „lass es laufen, wir können es eh nicht stoppen“ zur Einsicht „so läuft es nicht mehr“ gelangt sind.

Bekämpft Denkverbote!

Das Verbot, machbare Alternativen zu denken, muss überwunden werden. Wir bilden eine Enquete-Kommission in eigenem Auftrag. Im Sinne der Methode, durch eine „vorherige Prüfung“ (Enquete) das gesetzgeberische Verfahren in einer Demokratie auf soliden Boden zu stellen, sehen die in diesem Buch versammelten Wissenschaftler & Künstler ihren Einsatz als Aufgebot aller zur Verfügung stehenden Phantasie, um zu zukunftsfähigen Lösungen in den Bereichen der Gesellschaft zu kommen, die von der derzeit herrschenden Wirtschafts-Kultur am schwersten betroffen sind. Denn was uns fehlt, ist nicht das Geld, sind nicht irreale Summen, für deren Darstellung in lesbarer Größe selbst die riesigen 16:9 Querformatfernseher bald nicht mehr ausreichen.

Was uns fehlt, ist ein maßvolles Verständnis von Begriffen wie „Wert“, „Reichtum“ und „Wohlstand“: der Wert von echten, nicht geldwirtschaftlich fundierten Gemeinschaften und Beziehungen, der Reichtum, der Vielfalt bedeutet und der Wohlstand, der mit der Sicherheit gesundheitlicher Versorgung und Bildung zu tun hat, dem bescheidenen Luxus, der von jeder Zivilisation erwartet werden darf.

Was uns fehlt, ist Vertrauen im Alltag und ein Verständnis von Recht, Staat und Demokratie, das sich nicht in Bankguthaben ausdrückt, noch deren Befestigung dient. Wir sprechen also nicht länger von einer Finanz-, sondern von einer Gesellschaftskrise, einer Krise von humanitärer Dimension, so wie wir sie sonst nur aus immer weiter ausufernden (Bürger-)Kriegen kennen.

André Amar, ein zu Unrecht wenig bekannter Psychoanalytiker und höchst präziser Finanzsoziologe, hat diesen ans absurde grenzenden Widerspruch auf den Punkt formuliert: „Am Tag des Wall-Street-Krachs im Oktober 1929 hat der Kursturz die brutale Verarmung einer ganzen Nation verursacht. Und dennoch waren am nächsten Tag auf den Feldern, in den Bergwerken, in den Lagerhallen und auf den Baustellen die realen Reichtümer der Welt genau dieselben. Wo befand sich dann die Verarmung? … Die kapitalistische Wirtschaft hatte sich auf den rein abstrakten Begriff der Wertdifferenz gestützt und ihre Entwicklung bis zum Ende verfolgt.“ (in: Ernest Bornemann, Psychoanalyse des Geldes, Frankfurt a.Main 1973)

Der gegenwärtige Finanz-Imperialismus benötigt, um dieses „Ende“ zu erreichen, trotz martialisch-militärischer Diktion keine Boote, keine Bomber, vergießt kein Blut an der Börse. Sein „Theater of Operation“, seine Bühne ist der „freie Markt“. Seine Geschosse flitzen durch die Kabel superschneller Rechner. Auf den Knopf drücken allerdings Menschen. Die Kommandeure des Imperiums. Computer brauchen diese Menschen nur, damit es nicht so lange dauert, bis alles Geld bei ihnen eingeht. An den Computern sitzen Menschen, die wir vielleicht nicht kennen lernen wollen, die wir aber kennen könnten. Die wir vielleicht sogar kennen müssen, wenn wir überleben wollen. Menschen, für deren sofortige Ergreifung eine verantwortungsbewußte Gesellschaft schon aus Selbstschutz eine Ringalarmfahndung um jede Bank oder Börse verfügen sollte. Man muss den Finanzkapitalismus als eine neue Form von organisiertem Verbrechen verstehen, um ihn vernünftig bewerten zu können, als eine Variante der „Makrokriminalität“ (in: Herbert Jäger, Makrokriminalität, Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt, Frankfurt am Main 1989), in der das Kriminelle nicht durch (von der gesellschaftlichen Norm) abweichendes Verhalten gekennzeichnet ist, sondern durch das Kollektive des Verbrechens, für das die Konformität des Verhaltens charakteritisch ist.

Damit tauchen wir im Milieu unter – einer zwilichten Umgebung, in der ein neuer Typus Mensch gedeiht, der sich hauptsächlich mit dem Problem der Beschaffung von immer mehr „Stoff“ herumschlägt. Um den Betrieb in dauernde „Zirkulation zu bringen, ist eine immer größere Geldmenge notwendig. Diese wachsende Geldmenge muß eben – beschafft werden.“ wusste schon Rosa Luxemburg. (in: Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, 1913, S. 131)

Das Milieu ist, stark verkürzt gesagt, die „technologische Bedingung“ (Die technologische Bedingung, Hg von Erich Hörl, Frankfurt am Main 2011), das Substrat, auf dem die neue Lebensform wächst und gedeiht, Begriff zwischen Chemie, Soziologie und Kriminologie, aufgehängt zwischen zwischen „immersive environment“ und „illegal deal“.

Das aktuelle Finanzsystem hat mit dieser Mischung den Mangel an Mitteln künstlich erzeugt. Es bedient sich dazu eines komplexen technologischen Systems. Es fehlt kein Geld. Es ist nur vollkommen asymmetrisch verteilt. Man könnte sagen, wir leben in einer Welt der Umbuchung, die maßgeblich von rein abstrakten Begriffen bestimmt ist. Um diese Umverteilung ohne nennenswerten Widerstand und scheinbar legal bewerkstelligen zu können, wird ein „intrikates“, das heißt, für den Laien undurchsichtig komplexes System von Regeln aufgebaut.

Wie mit einem „Zaubertrick“ (in: Philippe Pignarre and Isabelle Stengers, Capitalist Sorcery) erzeugen Banken, Versicherungen und Politiker gemeinsam den Schein einer „Berechtigung, andern in die Tasche zu greifen“. (zitiert nach: Serge Livrozet, Über die Berechtigung, in fremde Taschen zu greifen. Reflexionen eines ehemaligen Diebes, München 1975)

In Wirklichkeit ist dieser Griff pure Gewalt.

Wir befinden uns mithin nachweislich in einem Krieg, einem „Dollarkrieg“ (Wolfgang Pircher in: Supramarkt 2015)

Allerdings werden die Toten, die an ihrer Psyche schwer Verletzten nicht gezählt (korrekt wäre zu sagen: „selten gezählt“ und zumeist von den gleichen Leuten, siehe: Alexander Kentikelenis, Marina Karanikolos, Aaron Reeves, Martin McKee, David Stuckler, Greece’s health crisis: from austerity to denialism, in: Lancet 2014; 383: 748–53; und Martin McKee, Marina Karanikolos, Paul Belcher and David Stuckler, Austerity: a failed experiment on the people of Europe, Clinical Medicine 2012, Vol 12, No 4: 346–50; sowie Marina Karanikolos, Philipa Mladovsky, Jonathan Cylus, Sarah Thomson, Sanjay Basu, David Stuckler, Johan P Mackenbach, Martin McKee, Financial crisis, austerity, and health in Europe, in: Lancet 2013; 381: 1323–31; Martin Knapp Mental health in an age of austerity, in: ebmh.bmj.com, August 13, 2012, acceesed May 12th 2015)

Es gibt keine klare Front und die Denkverbote, die über Alternativen zu diesem System verhängt werden, sind nur die harmlosesten der eingesetzten „Massenvernichtungswaffen“. (nach Warren Buffets Bonmot „derivates are weapons of mass destruction“)

Sparpolitik macht krank

Angst, Depression, Verzweiflung mit nachfolgendem Selbstmord sind die von den neuen „Massenvernichtungswaffen“ verursachten Verletzungen. Auch und gerade die Führungsschicht unserer Gesellschaft bleibt nicht verschont: selbst wenn das Konto (noch) ausgeglichen aussieht, hetzt das „Gespenst des Kapitals“ (Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010) die Elite durch ein horribles Konstrukt, früher „Leben“ genannt und bannt jedes kritische Wirken durch die Erzeugung permanenter Überlast.

Die Überlast, aus dem selben technischen Milieu heraus erzeugt, das auch die Geldtransfers beschleunigt, mit tausenden und abertausenden von Emails, Chats, Netzwerktätigkeiten und Twittereien, ist insofern die ideale Ergänzung der realen Schulden, von denen Noam Chomsky sagt, dass wer mit ihnen beladen ins Leben einsteigt, nicht gerade dazu neigt, das System, das ihm den Kredit angedient hat, zu hinterfragen, sondern zuerst einmal – und nicht nur kurz – an der Tilgung arbeitet. Daraus resultiert eine Grundhaltung der Verunsicherung – mit der Tendenz zur Unterwerfung. Deswegen nennt Chomsky es eine „Kultur der Disziplinierung“. (in: ottawacitizen.com, letzter Zugriff 15. Juli 2020)

Sparen und Schulden machen schwach und krank, aber nicht nur das. Die volkswirtschaftliche Gesamtbilanz zeigt, dass die Erfolge der Sparpolitik durch Verluste aus gesundheitsbedingten Arbeitsausfällen bei weitem übertroffen werden.

Am Schrecklichsten jedoch wüten die „diffusen Ängste“, schrecklich, weil sie politisch zerstörend wirken und damit nicht nur, was dramatisch genug wäre, den Einzelnen, sondern die ganze Gemeinschaft beschädigen.

Der Philosoph Byung-Chul Han sagt: „Es ist letzten Endes das Kapital …, das für massive soziale Ungleichheit sorgt und diffuse Ängste erzeugt.“ (in: Zuhören!, 18. Januar 2015 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)

Sollte diese These richtig sein, verwundert es nicht, warum in unmittelbarer zeitlicher Folge der Serie von Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrisen ein deutlicher Rechtsruck durch Europa geht, mit Beispielen wie „PEGIDA“ (Deutschland), „UKIP“ (Großbritannien), Partij voor de Vrijheid (Niederlande), Front Nationale (Frankreich), Jobbik (Ungarn), der griechischen „Morgenröte“ oder den „patriotischen“ Vereinigungen in Schweden, Finnland, Italien. Rechte Propaganda bündelt ganz offenbar sehr erfolgreich diffuse Ängste. Rechte Propaganda arbeitet mit dem Prinzip des Sündenbocks – mag er nun „Islam“, „Juden“, „Migration“ oder einfach „das Fremde“ heißen. (siehe hierzu Heidrun Friese´s Text „Border Economies. Lampedusa and the Nascent Migration Industry“, in: Supramarkt, 2015)

Mit dem Verschieben des Problems z.B. ins Religiöse und durch das Prinzip des „Sündenbocks“ wird der Blick auf den wahren Problemzusammenhang, das neoliberale Regime und seine Politik, verstellt. Es wird durch rechte Propaganda ganz grundsätzlich die Politisierung des Unwohlseins verhindert, das aus der fehlgeleiteten Finanzwirtschaft resultiert.

Diffuse Ängste entstehen vermutlich, wenn es unklare Bedrohungen gibt. Was aber ist unklar an der Weltlage? Und was bedrohlich? Oder werden diffuse Ängste nur von Soziologen gefühlt, wenn ihnen die gesellschaftlichen Reaktionen heftig, also kommentarwürdig, ihrem Grund nach aber unklar sind? Wer also leidet in unserer Gesellschaft und warum? Wer ist Opfer und wer ist Täter?

Warum klären uns die Soziologen über diesen offenkundigen Zusammenhang zwischen Angst und Krise nicht auf? Wäre es nicht ihre Aufgabe, die Menschen vor dem „Krebsgeschwür des Kapitals“ zu retten? Sie zum Nachdenken und vom Nachdenken zum Handeln zu bringen. Ihnen zu helfen, ihre Kritik an die richtige Adresse zu bringen?

Auch hierauf gibt es eine einfache Antwort: Wissenschaft ist systemrelevant, als das Mittel, mit dem Bereicherungspolitik demokratisch legitimiert wird. Haben Sie schon jemals von einem Studienzweig namens „Finanzsoziologie“ gehört, in dem das Finanzsystem kritisch evaluiert würde? In dessen Erstsemesterkursen herauskäme, ganz streng wissenschaftlich gearbeitet, dass Wirtschaftswissenschaft keine Wissenschaft ist, sondern ein Konvolut von beliebig gesetzten und jederzeit von Menschhand veränderbaren Vereinbarungen? Dass es gar kein Gesetz gibt, das beweist, dass die Wirtschaft nur funktioniert, wenn sie permanent wächst?

Jason W. Moore, ebenfalls Autor in „Supramarkt“ und einer der Soziologen, den dieser Widerspruch nicht ruhen lässt, hat das derzeit omnipräsente Gerede vom Anthropozän entschlüsselt als Versuch der Selbstentschuldung der Menschheit. Unter dem Stichwort „Anthropozän“ wird die bigotte Frage diskutiert, ob die Erde sich „zyklisch“ von selbst erwärmt und dabei ihr Klima wandelt, oder ob wir, die Menschen, das im aktuellen Fall ausgelöst haben. Das wissenschaftliche System, das uns Raubbau an den Resourcen, Vernichtung der Artenvielfalt, mithin die Zerstörung unserer Gesundheit, unserer Arbeitswelt und unserer sozialen Sicherheiten einträgt, will jetzt mit dem gleichen System die Schäden, die es selbst verursacht hat, reparieren. Das kann man eigentlich nicht einmal einem Erstsemester als logisch verkaufen.

Moore fordert daher, dem Kind den richtigen Namen zu geben: Kapitalozän. Das Gleichgewicht der Erde ändert sich dort, wo das Kapital hinfließt. Das aber machen wirklich wir: die Menschen.

In der Natur gibt es kein Kapital. Also können wir sein Strömen auch lenken oder beenden. Kapitalfluß ist keine Naturgewalt, sondern einfache Gewalt, ausgeübt von gesellschaftlichen Cliquen. Wenn aber die Gier nach Akkumulation von Kapital den Schaden erzeugt, muss es möglich sein, dass wir das ändern. Wenn wir begreifen, dass das geht, verschwinden die diffusen Ängste wieder und die neue Rechte hat keinen Nährboden mehr.

Eine Antwort auf „Diffuse Angst – ein politisches Nervengift“

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